Rede von Jochen Läßig, Neues Forum Leipzig

Liebe Freunde des "Neuen Forum", liebe Bürgerinnen und Bürger aus Leipzig und Umgebung!

Sehr große Hoffnung wird auf unsere Vereinigung gesetzt. Und wir hoffen auch, dass wir etwas frischen Wind in das politische Leben dieses Landes bringen, das zuletzt nur noch durch Greise verwaltet wurde, das zuletzt so undurchschaubar war, dass Amtsmissbrauch und Korruption an der Tagesordnung waren. Vieles hat sich in den letzten zwei Monaten, seit das Neue Forum existiert, verändert. Einige Normalitäten sind auch in unserem Land wiederhergestellt. Wie in allen demokratischen Ländern ist es möglich geworden, durch Demonstration seinem Willen Ausdruck zu verleihen. Es ist möglich geworden, seine Meinung frei zu äußern, und nicht zuletzt können wir endlich als freie Menschen unser Land verlassen und zurückkommen. Dem Staatssklaventum ist ein Ende gesetzt! Diese Rechte haben wir, die Demonstranten und die Mitglieder aller oppositionellen Gruppierungen, dem Staat und der Partei abgetrotzt. Die Welt blickt mit Bewunderung auf uns. Unser Leipzig wird gar mancherorts als Heldenstadt gefeiert. Vielen Dank euch allen, die ihr mit uns gekämpft habt!

Die so genannte Wende scheint unumkehrbar geworden zu sein. Doch erlaubt mir auch ein paar kritische Anmerkungen zur Entwicklung unseres Landes. Mir persönlich geht das hier alles etwas zu schnell. Viele Genossen haben ihre Fahne bereits wieder nach dem Winde gedreht. Die Blockparteien beginnen schon mit dem Wahlkampf, und keiner kann sich erinnern, dass er gestern noch eine Stütze des stalinistischen Unterdrückungsapparates war. Viele derer, die uns, die wir für Freiheit kämpften, gestern noch hinter Gitter gebracht haben, die am 9. Oktober unser aller Leben zur Disposition gestellt haben, spielen sich jetzt als die größten Reformer auf. Da ist etwas faul. Nun gut, nennen wir sie beim Namen. Die zweifelhafte Geschichte eines Herrn Schabowski, jahrelang Chefredakteur des Neuen Deutschland, oder eines Herrn Krenz, Sicherheitsbeauftragter, Wahlfälscher und Freund des chinesischen Terrors, sind hinlänglich bekannt. Aber wir müssen wachsam sein. Achten wir auch auf die Randfiguren, die sich jetzt in den Vordergrund spielen, etwa auf unseren Herrn Professor Gerlach, ehemals Bürgermeister der Stadt Leipzig, jahrelanger Kampfgefährte der SED; er sitzt jetzt schon mit den Monopolherren an einem Tisch und verhandelt über den Ausverkauf unseres Landes. Das ist Opportunismus übelster Sorte. Volk der DDR, sei wachsam! Diesen Herren dürfen wir auf keinen Fall die Führung in eine neue Zukunft überlassen. Unser Land befindet sich in einer komplizierten Situation. Die offenen Grenzen werden uns nicht nur Segnungen bescheren. Die politische Lage scheint zwar entspannt, und viele wenden sich schon wieder ab von unserem Kampf für Freiheit. Sie denken, wir haben es geschafft. Viele widmen sich schon wieder ganz anderen Dingen. Sie kümmern sich ums Geld, ums Westgeld. Schachergeschäfte werden vorbereitet. Der Ausverkauf unseres Landes steht ins Haus, und unsere Regierung schläft. Sie hielt es bisher nicht für notwendig, Maßnahmen gegen den drohenden Ausverkauf einzuleiten. Es gibt keine ausreichenden Zollbestimmungen. Die Konvertierbarkeit unserer Währung steht noch nicht einmal zur Debatte, so dass wohl weitere wertvolle Arbeitskräfte eine Anstellung im Westen bevorzugen werden. Wir fordern die Regierung auf, hier so schnell als möglich Maßnahmen zu treffen, die sie mit allen oppositionellen Kräften abzustimmen hat. Die Grenzen sind offen. Das ist selbstverständlich in Ordnung so, und das wurde höchste Zeit. Doch wir ziehen als Bettler in den Westen. Das ist entwürdigend. Wir fordern die Bereitstellung aller Devisen für den Reiseverkehr, die nicht für den Aufbau unserer Wirtschaft eingesetzt werden. Sie können folgendermaßen gewonnen werden: Alle westlichen Staatslimousinen sind zu verkaufen und durch einheimische Fahrzeuge zu ersetzen. Jeder Funktionär, auch auf der höchsten Ebene, erhält die gleiche Menge an Devisen wie jeder Bürger. Bereits gehortetes Geld ist der Bevölkerung zuzuführen. Alle Devisen für Repräsentation, für Privatluxus der Funktionäre, für Sportfeste und ähnliche Dinge sind ersatzlos zu streichen. Der Leistungssport hat sich selbst zu tragen. Keine Devisen für Staatssicherheit und Militär! Die Unterstützung der DKP hat zu unterbleiben.

Liebe Bürgerinnen und Bürger! Wir brauchen uns freilich auch nicht einzubilden, dass wir uns aus eigenen Kräften aus dem Sumpf ziehen können, den uns die SED hinterlassen hat. Wir brauchen Unterstützung, auch aus dem Westen. Aber wir wollen keinen Konkurs. Wir wollen nicht durch einen finanzkräftigen Partner einfach aufgekauft werden. Die Betriebe, der Grund und Boden gehören endlich in die Hände des Volkes, der arbeitenden Menschen. Wir dürfen diesen Besitz, der uns zusteht, nicht einfach verscheuern lassen. Die SED hat durch ihre Kaderpolitik sich alle wirtschaftlichen Schlüsselpositionen angeeignet. Obwohl die moralische Integrität dieser Partei inzwischen sehr zweifelhaft geworden ist, liegt noch alle Macht in ihren Händen. Sie kann in dieser Umbruchsituation sich erneut unrechtmäßige Vorteile verschaffen. Deshalb gehören alle höheren Funktionäre unter die Kontrolle des Volkes.

Auf der Leipziger Montagsdemonstration wurden schon Rufe laut: Neues Forum an die Macht! Eine Organisation, die zwei Monate alt ist, kann dieser Forderung leider nicht so schnell nachkommen. Wir haben die letzten 10 bis 20 Jahre geschlafen und keine Opposition etabliert, die kompetent genug wäre, die Führung zu übernehmen. Es geht also vorläufig nur um Mitregieren, um Machtbeteiligung und um Kontrolle.

Liebe Bürgerinnen und Bürger! Die Zeit rennt uns davon. Trotzdem dürfen wir nicht überstürzt handeln. Uns ist nicht geholfen, wenn die SED so schnell als möglich zugrunde gerichtet wird und sie uns in ihrem Fall mit in die Tiefe zieht. Wir müssen auch darauf achten, dass wir nicht irgendeinem Volksverführer blind folgen. In sehr mühevollen Geburtswehen versucht das "Neue Forum" heute, demokratische Strukturen aufzubauen, basisdemokratische Strukturen, denn wir wollen keine Bonzenpartei werden. Für uns alle ist Demokratie etwas sehr Ungewohntes. Wir haben in 40 Jahren keine Gelegenheit gehabt, sie zu erlernen. Demokratie heißt zuerst, sich seiner eigenen Meinung, der eigenen Interessen bewusst zu werden und sie zu vertreten. Demokratie heißt dann, die eigene Meinung mit anderen zu konfrontieren und im fairen Streit eine gemeinsame Position zu finden, die in reale Politik umgesetzt werden kann. Dafür Raum zu geben, fühlt sich das "Neue Forum" verpflichtet. Keiner wird ausgeschlossen, ganz gleich, welcher Weltanschauung, ganz gleich, welcher Partei oder Gruppierung er angehört.

Bürger, unterstützt das "Neue Forum" und beteiligt euch selbst aktiv an der Umgestaltung unseres Landes!

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