Offener Brief von Bärbel Bohley und Katja Havemann an Gregor Gysi

Ist das die neue Gerechtigkeit?

Folgenden Offenen Brief an den PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi übergaben Bärbel Bohley und Katja Havemann der Redaktion "Neues Deutschland" mit der Bitte um Veröffentlichung.

Sehr geehrter Gregor Gysi,

wir wenden uns an Sie, weil Sie Vorsitzender der Partei geworden sind, die über viele Jahre Unrecht zu Recht erklärt hat. Sie hat sich zwar einen anderen Namen gegeben, aber ist sie wirklich eine andere geworden? Ist Recht wirklich Recht geworden? Sind die unmenschlichen Unter- drückungs- und Ausgrenzungsmechanismen dieser Partei - und in unserem Land wirklich einem menschlichen Miteinander gewichen?

Wir haben Angst, dass es uns in der DDR offensichtlich nicht gelingt, den Kreislauf von Unrecht zu durchbrechen. Die Verhaftung des kranken Honecker ist ein Skandal. Dabei ist uns sehr wohl bewusst, wie Honecker seinen früheren Knastaufseher Serafim, der ihm nach seiner Flucht vom Außenkommando das Leben rettete, behandelt hat. Er ließ ihn kalt über die Klinge springen. Nun muss die gesamte DDR-Stalinismus-Justiz aufgearbeitet werden. Und das kann nicht gelingen, wenn gegen die "freigegebenen" Sündenböcke, unserer vergangenen Jahre erneut nach den alten unhumanen Methoden Rache geübt wird. Wahrscheinlich auf Geheiß der alten Staatsanwälte.

Wieder werden Menschen hinter Gitter gebracht, bevor ihre Schuld erwiesen ist. Während andere - wie zum Beispiel Schnitzler, Wolf und andere Stasi-Generale frei herumlaufen und sich mit ihren Memoiren und Enthüllungen öffentlich spreizen.

Ist das die neue Gerechtigkeit?

Wir wollen gleiches Recht für alle. Die, die schuldig sind, müssen bestraft werden. Aber ihre Schuld muss erwiesen sein. Wir wollen, dass Recht von einer unabhängigen Justiz ausgeübt wird.

Nur vor so einer Justiz hat sich Margot Honecker zu verantworten. Und nicht vor der politischen Inquisition einer alten oder neuen Partei.

In der Hoffnung, Ihr Rechtsanwaltherz rührt sich, bitten wir Sie zu prüfen, was mit dem schwerkranken Wolfgang Junker geschieht. Seine Familie befürchtet seinen psychischen und physischen Untergang, sollte er nicht sofort aus der Haft entlassen werden. Wir nennen Ihnen einige Fakten, die seine Tochter angeben:

- trotz ärztlich bestätigter schwerer Krankheit verhaftet

- Haftbeschwerde des Anwalts nicht bearbeitet

- obwohl Wolfgang Junker wahrscheinlich von Rummelsburg auf die Krankenstation der Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen verlegt wurde, erhalten seine Töchter keine Informationen über seinen Zustand und die medizinische Betreuung.

Herr Gysi, wir denken, der berechtigte Volkszorn auf die alte Führung darf die Jetzt Verantwortlichen nicht zu neuem Unrecht verleiten. Bevor sich Amnesty International um den ehemaligen Bauminister kümmern muss, sollten Sie sich für seine Freilassung einsetzen, damit endlich auch in diesem Fall geltendes Recht eingehalten wird.

Wir bitten Sie darum, auch im Sinne der Schadensbegrenzung für unsere Zukunft.

In Hohenschönhausen darf sich nicht die Geschichte des KZ Sachsenhausen wiederholen. Dort saßen nach 1945 nicht nur die alten Nazis, sondern auch Gewissenstäter und die politischen Häftlinge der neuen Macht. Von seiner Mitverantwortung für die letzten Jahre kann niemand von uns freigesprochen werden, auch nicht wenn er andere hinter Gitter bringt.

Aus: Neues Deutschland, 45. Jahrgang, Ausgabe 42, 19.02.1990. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.

Gysis Antwort

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