Wiedervereinigung kommt für mich nicht in Frage

"Der Kabelwerker" sprach mit Rüdiger N(...), Mitglied des Neuen Forums

Kollege N(...), Sie haben bei einer Veranstaltung der URANIA-Wirkungsgruppe als Mitglied des Neuen Forums Fragen beantwortet. Was halten Sie von dieser Form der Öffentlichkeit für das Neue Forum im Vergleich zu den Demonstrationen?

Die Demonstrationen sind sehr wichtig. Mit Nachdruck verlangen die Menschen auf der Straße, dass die vom Volk erstrittene Wende unumkehrbar gemacht wird, dass eine Gegendemonstration, wie z. B. am 23. Oktober sich nicht noch einmal wiederholt. Genauso wichtig sind aber Gespräche; um Ziele zu benennen, Wege für gemeinsames Handeln zu suchen und natürlich auch gegensätzliche Positionen darzustellen.

Welche Ziele hat das Neue Forum?

Viele kann man auf den verschiedensten Transparenten sehen und in Diskussionsbeiträgen hören. Freie Wahlen, unbedingte Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit gegenüber jedermann, Abschaffung des absoluten Machtanspruches einer Partei, Abschaffung des DDR Verfassung Artikel 1Artikels 1 der Verfassung. Doch beruhen diese genannten Zielstellungen weder auf Vollständigkeit noch auf Einheitlichkeit, und ich benenne sie nicht als Sprecher einer Basisgruppe oder des gesamten Forums, sondern als Rüdiger N(...). In Leipzig z. B. gibt es Forderungen, die eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten verlangen. Dafür bin ich nicht.

Das heißt, dass es im Neuen Forum auch nach der Anmeldungsbestätigung noch keine klaren Orientierungen, kein Programm gibt?

Aus einer am 20. November dem ADN übergebenen Pressemitteilung der Initiativgruppe des Neuen Forums heißt es dazu: "Wir haben drei Monate Zeit, das Programm und das Statut in allen Basisgruppen des Landes zu diskutieren. Gewählte Kommissionen werden Mitte Dezember Entwürfe für Programm und Statut den Basisgruppen übergeben. Am 6. Januar 1990 werden wir in Leipzig, unserem 3. Koordinierungstreffen, die an der Basis erarbeiteten Änderungs- und Ergänzungsvorschläge zu diesen Dokumenten zusammentragen und diskutieren. Nach einer zweiten Diskussionsphase sollen beide Dokumente auf der Gründungskonferenz am 27. Januar beschlossen werden.

Prof. Jens Reich, einer der Mitbegründer des Neuen Forums, sagte in einem Interview am 20. November, dass überhaupt noch nicht klar ist, ob sich das Neue Forum zu einer Partei, einer Vereinigung oder einer Bürgerinitiative formiert. Was ist Ihre Meinung dazu?

Man kann heute tatsächlich noch nicht sagen, welche Organisationsform das Neue Forum annehmen wird. Es soll eine Plattform sein, auf der Mitglieder aller Parteien und natürlich auch Parteilose mitarbeiten können. Nur über Basisgruppen, so wie sie - jetzt zumindest - in Schwerin bestehen, ist ein objektives Wirken nicht möglich.

Mir ist sowohl bei Demonstrationen in Schwerin als auch bei anderen, aus denen im Fernsehen übertragen wurde, aufgefallen, dass fast allen Rednern applaudiert wurde und nur die Mitglieder der SED ausgepfiffen wurden. Auch Rufe wie "Kommunistensau" habe ich gehört. Sich extremistisch Äußernde gehen auch im Demonstrationszug des Neuen Forums mit.

Viele Menschen haben im Moment große Wut. Manche nutzen das aus, verschärfen Spannungen.

Toleranz ist eine gegenseitige Angelegenheit die man nicht nur dem Gegenüber abverlangen darf, sondern selbst aufbringen muss. Ich halte es für notwendig, dass sich das Neue Forum von denen, die provozieren und die angeheizte Stimmung ausnutzen wollen, trennt.

Was die Rolle der SED gegenwärtig angeht, so steht sie schon im engen Zusammenhang mit der einzelnen Persönlichkeit. Heinz Ziegner hatte keinen rühmlichen Abgang. Anders dagegen Hans Modrow und Dresdens Oberbürgermeister Berghofer.

Zu unseren Beiträgen in der Ausgabe Nr. 12, [der Betriebszeitung] die sich mit dem Neuen Forum beschäftigen, hat es scharfe Kritiken gegeben, obwohl, und diese Meinung haben auch Sie vertreten, nach wie vor nicht alle, die sich zum Neuen Forum bekennen, für einen wirklichen Reformprozess in der DDR eintreten.

Für mich waren nicht zuletzt diese beiden Artikel der letzte Anlass, zum Neuen Forum zu gehen, nachdem ich mich mit meinem Nachbarn zuvor schon über die Ziele dieser Bewegung unterhalten habe. Auch ich fand nicht gut, dass in dieser Art und Weise Argumente vermittelt wurden. Allerdings stelle ich auch in Rechnung, dass die Betriebszeitung keine Tageszeitung ist und die gegenwärtigen Ereignisse sich manchmal geradezu überschlagen. Zum Neuen Forum bin ich auch gegangen, weil ich im Interesse meiner Kinder etwas verändern will.

M. M.

aus: Der Kabelwerker Nr. 14/89, November 1989, Organ der Leitung der Grundorganisation der SED im Kabelwerk Nord, Schwerin, Herausgeber: Betriebsparteileitung VEB Kabelwerk Nord

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