Wir wollen Katalysator sein

DAS VOLK sprach mit Matthias B(...), Mitglied des Sprecherrates des Neuen Forums

Unser Land befindet sich in einem Aufbruch, an dem die verschiedensten ihn Kräfte mitwirken. Welche Position vertritt dabei das Neue Forum?

Noch sind wir keine eingetragene Vereinigung und befinden uns in einer Identifikationsphase. Wir sind keine Partei und wollen keine sein. Wir bemühen uns, die vorhandenen Gedanken in voller Breite zu erfassen und zu ordnen. Fragen und Klagen zu benennen, wie ich es bereits in der Thüringenhalle sagte und uns auf die konstruktive Phase einzustellen. Wir verstehen uns als Katalysator gesellschaftlicher Prozesse. Dahingehend ging ja der offene Dialog in Erfurt ganz gut los. Mit Vertretern des Rates des Bezirkes ist bereits vereinbart worden, dass wir in absehbarer Zeit die Arbeit in gemeinsamen Arbeitsgruppen aufnehmen werden. Die könnten so aussehen, dass die Vertreter des Rates des Bezirkes, die Vertreter des Neuen Forums und auch andere Gruppierungen, die jetzt Bewegung in diesem Land mitinitiieren, sich gemeinsam mit ihren jeweiligen Fachexperten an einen Tisch setzen - möglichst einen runden -, beraten und konstruktive Ergebnisse zusammenfassen.

Uns ist bekannt, dass das Neue Forum weder über ein Programm noch über ein Statut verfügt, dennoch würde es interessieren, weiche programmatischen Aussagen bereits klar definiert wurden. Wie könnte eine gemeinsame Basis für das Gespräch aussehen?

Uns liegen Alternativen zum Ausschöpfen der Antriebskräfte des Sozialismus zutiefst am Herzen. In diesem Zusammenhang bedarf das Öffentlichkeitsbild der Organisation einer Korrektur, so wünschen wir keineswegs eine restaurative Entwicklung in Richtung Kapitalismus, wie wir das ja auch wiederholt auf Foren im Bezirk sagten. Unser Ziel ist ein reformfreudiger sozialistischer Rechtsstaat. Gegen uns wurde wiederholt der Vorwurf erhoben, bei euch fehlt das Wort Sozialismus, das stimmt nicht, es geht lediglich darum, diesen Begriff mit einem neuen Inhalt zu füllen.

Ein weiteres strittiges Thema in diesem Zusammenhang ist auch die Anerkennung der Existenz zweier deutscher Staaten . . .

Auch hier gibt es ganz klare Aussagen, wir gehen davon aus, und das ist das Erbe der faschistischen Vergangenheit, dass zwei deutsche Staaten existieren. Das hysterische Gekreische nach einer Wiedervereinigung ist nicht zeitgemäß. Auch wir sind für ein gemeinsames europäisches Haus, in dem jeder gleichberechtigt neben dem anderen leben kann. Wobei natürlich besondere verwandtschaftliche Beziehungen auch eine Realität sind. Und da ich hier dazu die Möglichkeit habe, möchte ich gleich auch noch zu einem weiteren Punkt bestehende Missverständnisse ausräumen, der Frage, wie wir es mit dem Macht- und Führungsanspruch der SED halten? Ich habe das eigentlich in der Thüringenhalle klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, und es wurde auch in Ihrer Zeitung richtig zitiert. Dennoch halte ich es für angebracht noch einmal zu wiederholen: Der Macht- und Führungsanspruch der SED wird innerhalb des Neuen Forums hier und heute als objektive Realität betrachtet. Die Akzeptanz ist eine andere Sache.

Welche Vorstellungen verbinden Sie mit einem neuen Sozialismus?

Ich denke, es wäre heute zu kühn, von einer Person zu erwarten, dass sie auf diese komplizierte Frage bereits eine schlüssige Antwort hat. Ich glaube, wir müssen verantwortungsbewusst in die Zukunft blicken, wir müssen den Handlungs- und Ausschöpfungsspielraum so groß wie möglich halten, um, wenn wir gute Erkenntnisse im gemeinsamen Dialog finden, dann einen gemeinsamen Weg zu gehen.

Es gibt heute viele kritische Bemerkungen zu den Entwicklungen der letzten Jahre, aber gibt es nicht auch Anknüpfungspunkte, auf die man auch in Zukunft bauen kann?

Es ist natürlich ein Produkt der Entwicklung, dass in dieser Phase jetzt vor allem das angesprochen wird, was nicht so gut gelaufen ist. Stichpunkt Bevormundung und die daraus resultierende Lethargie. Ganz grundsätzlich lässt sich jedoch keineswegs etwas gegen die Sozialpolitik einwenden, gegen die Fülle von guten Sachen. Doch ich muss dabei betonen, es nützt uns die beste Sozialpolitik nichts, wenn nicht vorerst beispielsweise die Umwelt in Ordnung gebracht würde. Auch das ist ein brennendes Thema, das uns bewegt. Es geht um eine Politik, die den Bürger dazu initiiert, sich mehr um seine Umwelt zu kümmern. Das kann nicht die Arbeit einzelner sein, sondern muss alle mit einbeziehen. Hier suchen wir auch die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern im In- und Ausland.

Wer so große Diskussionen wie im Rathaussaal und zuletzt in der Thüringenhalle miterlebt hat, der fragt unwillkürlich, ob dies die richtigen Organisationsformen sind - ist man in kleinem Kreis nicht einfach schneller um Ergebnis?

Wenn Sie so fragen, ist die Antwort klar. Die Arbeit kann nur in kleinen Gruppen getan werden. Doch - im Unterschied zur bisherigen Praxis - muss es auch das große Forum geben, wobei die oft schwierige Sachlage "gedolmetscht" werden muss. Auch fachspezifische Probleme können so für den einzelnen Bürger durch- und einsichtig werden. So kann ein Kontrollmechanismus lebensfähig gehalten werden, damit wir nicht in Erstarrung zurückfallen.

Was die Frage der Demonstrationen und Großveranstaltungen betrifft, möchte ich zunächst erst einmal festhalten, dass wir bisher nicht dazu aufgerufen haben, wenngleich es unbestritten ist, dass solche Veranstaltungen ganz offensichtlich notwendig geworden sind, damit in der Sprache des Volkes die Dinge zur Sprache gebracht werden. Dazu gehört auch, dass die Verantwortlichen Farbe bekennen und gegebenenfalls die Konsequenzen ziehen - ich halte es für unglaubwürdig, wenn die SED Fehler zugibt, aber keiner sich einer Schuld bewusst ist, außer gearbeitet zu haben. Was die "Gefahren" anbelangt, so haben sich die Mitglieder des Neuen Forums stets gegen Provokationen - aus welcher Richtung auch immer - gewandt und im Rahmen ihrer Möglichkeiten für einen ordnungsgemäßen Verlauf mit Sorge getragen. Natürlich muss hier gelernt werden, - die Kultur des politischen Streites ist nicht auf einmal da -, nicht jede Minute ist konstruktiv im Sinne eines Ergebnisses, aber miteinander streiten zu lernen, ist für alle ein Gewinn. Diffamierung, Diskreditierung - zum Beispiel antisozialistisch zu sein - so etwas kann keiner aufrechterhalten, der mit uns Umgang pflegt.

Das Gespräch führten Sergej Lochthofen und Dr. Peter Sterzing

aus: Das Volk, Nr. 259, 03.11.1989, 45. Jahrgang, Organ der Bezirksleitung Erfurt der SED

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