Neues Forum

Ingrid Brandenburg und Bernd Schneider sind Mitglieder der Arbeitsgruppe Ökonomie des "Neuen Forum". Beide leben in Ost-Berlin.

Frage: Die Entwicklung der DDR war in den letzten Wochen atemberaubend: Egon Krenz, erst Ende Oktober als Nachfolger von Erich Honecker zum Generalsekretär der SED gewählt, ist schon wieder abgetreten. Der Führungsanspruch der SED ist aus der Verfassung gestrichen, und am 6. Mai 1990 soll es zu den ersten freien Wahlen in der DDR kommen. Ihre Gruppe, das Neue Forum, gilt als eine der profiliertesten Oppositionsgruppen. Sie sitzen mit am "runden Tisch" und tragen damit ein Stück der Verantwortung für die Zukunft der DDR. Werden Sie sich an den Wahlen beteiligen?

Brandenburg: Wir werden uns unter allen Umständen an den Wahlen beteiligen und Kandidaten aufstellen. Ob wir uns auf unserem Gründungskongress Ende Januar 1990 zu einer Partei umformen werden, hängt davon ab, wie das Wahlgesetz aussehen wird. Sollte das Wahlgesetz beinhalten, dass nur Parteien sich zur Wahl stellen können, werden wir auf unserem Gründungskongress eine Partei werden.

Das Neue Forum ist zur Zeit dabei, sich ein Statut zu geben. Wie organisieren Sie diesen Prozess?

Brandenburg: Mittels einer demokratischen Abstimmung, die auf unserem bisherigen Organisationsschema basiert: von den Basisgruppen aus den einzelnen Wohnbezirken über deren gewählte Vertreter jeweils zu gewählten Sprechern der Stadtbezirke, der Städte und schließlich zu einem Sprecherrat des Landes. Das ist die horizontale Struktur, vertikal gibt es Arbeitsgruppen, die sich mit Schwerpunkten beschäftigen, zum Beispiel auch Staat und Recht. Eine solche Arbeitsgruppe hat ein Statut ausgearbeitet, das am 6. Januar zusammen mit anderen Programmpunkten in Leipzig mit den gewählten Vertretern des ganzen Landes diskutiert und abgestimmt wird. Schwerpunkte unseres Statuts werden die Eigenständigkeit unseres Landes, die Bewahrung dieser Eigenständigkeit, die Ausrichtung unserer Politik und Wirtschaft auf eine ökologische, mehrere Eigentumsformen umfassende Wirtschaftsordnung sowie die Erhaltung und Ausweitung des jetzigen sozialen Netzes für die Bevölkerung sein.

Bis zum voraussichtlichen Wahltermin vergeben noch mehrere Monate. Eine seriöse Vorhersage darüber, was bis dahin noch alles geschehen kann, ist nicht möglich. Zur Zeit scheint der Druck auf die Oppositionsgruppen zu wachsen. Es gibt sogar bereits erste Anzeichen einer wachsenden Bereitschaft zur Gewalt. Die Friedlichkeit der Demonstrationen droht verloren zu gehen. Eine andere Gefahr droht von außen: der wirtschaftliche "Ausverkauf" der DDR. Wie ist dieser Gefahr zu begegnen?

Schneider: Zunächst zum Thema Gewalt. Es ist tatsächlich ein verschärftes Klima bei den Demonstrationen festzustellen. Eine Tendenz zur Gewalt ist mir allerdings noch nicht aufgefallen. Das Problem des "Ausverkaufs" müssen alle oppositionellen Gruppen im Verein mit den bestehenden Parteien gemeinsam angehen. Es muss schnellstens geklärt werden, in welche Richtung die Entwicklung geführt werden soll, um das zu verhindern.

Brandenburg: Durch die Arbeit der bisherigen Parteien und der neuen Oppositionsgruppen am "runden Tisch" müssen ganz schnell Regulative eingebaut werden, die bis zum 6. Mai 1990 eine überschaubare Entwicklung ermöglichen und es verhindern, dass in einem Vakuum Entscheidungen festgeschrieben werden, die nicht mehr rückgängig zu machen sind.

Können Sie Beispiele für solche Regulative nennen?

Brandenburg: Sie würden in erster Linie den Erwerb von Grund und Boden sowie von Unternehmen betreffen. Dem muss durch eine Gesetzesvorlage oder eine ähnliche Maßnahme Einhalt geboten werden. Auch hier dürfen keine Tatsachen geschaffen werden, die nicht wieder rückgängig zu machen sind.

Zur Zeit ist es so, dass der Erwerb von Grund und Boden nur für Bürger der DDR möglich ist. Sie sehen dennoch die Gefahr eines Ausverkaufs von außen?

Schneider: Grundsätzlich ist es richtig, dass der Grunderwerb in der DDR noch immer an die Staatsbürgerschaft gekoppelt ist, aber es gibt Anzeichen dafür, dass durch Strohmänner - vor allem aus Westberlin - Grundstücke erworben werden. Dem muss juristisch ein Riegel vorgeschoben werden.

Brandenburg: Es gibt auch Anzeichen, dass sich Firmen und Kapitalgruppen verschiedenster Länder mit nahezu fertigen Verträgen und unterschriftsreifen Abkommen um Beteiligungen und ähnliches bemühen. Auch dazu muss es schon im Vorfeld der Wahlen und der dann folgenden Bildung einer endgültigen Regierung eine Übergangsregelung geben.

Gibt es zwischen den Blockparteien, vielleicht sogar der SED, auf der einen Seite und den unterschiedlichen Oppositionsgruppen auf der anderen Seite das gemeinsame Interesse, einen solchen "Ausverkauf" zu verhindern?

Schneider: Es gibt die grundsätzliche Gemeinsamkeit, dass wir das Land ökonomisch wieder auf die Beine bringen müssen. Es gibt auch Übereinstimmung darin, dass die schlimmen ökologischen Folgen unserer jetzigen Produktionsweise vermindert oder beseitigt werden müssen. Und es gibt eigentlich auch Konsens darüber, dass marktwirtschaftliche Elemente in unsere Wirtschaft einzubauen sind. Unterschiedliche Auffassungen gibt es zum Beispiel zur Reihenfolge und zum Gewicht der einzelnen Komponenten.

Zu den marktwirtschaftlichen Elementen: Von außen betrachtet scheint die ökonomische Zukunft der DDR ungewiss. Ist denn für Sie die Übernahme einer kapitalistischen Wirtschaftsform denkbar, oder gibt es auch so etwas wie einen "dritten Weg"?

Brandenburg: Der Entwurf des Neuen Forums zu einer Wirtschaftsreform sieht vor, dass es Eigentum in verschiedenen Formen geben soll: als Privateigentum, als genossenschaftliches und als gesamtgesellschaftliches Eigentum, einschließlich der Beteiligung ausländischer Unternehmen in Form von Aktienkapital, von Joint ventures, in Form von Direktinvestitionen, von Investitionen auf dem Gebiet der Technologie, des Know how und ähnlichem. Auch Lizenzkauf, Leasing und weitere Aspekte werden eine Rolle spielen. Unser Wirtschaftskonzept sieht allerdings auch vor, dass bei der Beteiligung ausländischen Kapitals eine Majorität der DDR-Wirtschaft gewahrt werden muss - zur Vermeidung von Überfremdung. Es sieht ebenso vor, dass Grund und Boden unveräußerlich bleiben, insbesondere für ausländisches Kapital und dass zur Erhaltung der jetzigen sozialen Leistungen durch Steuern und Gewinnabgaben seitens der Unternehmen gesamtgesellschaftlich ein Fonds gebildet werden muss Das ist auch deshalb notwendig, damit es im Hinblick auf künftige Arbeitsumsetzungen Mittel für Umschulung, für den neuen Einsatz von Arbeitskräften, für eine Ausweitung des Dienstleistungssektor und so weiter gibt.

Im Zusammenhang von Grund und Boden haben Sie von notwendigen Sicherungsmaßnahmen gesprochen. Gilt das analog auch bei wirtschaftlichen Vereinbarungen, etwa was die Betriebsebene angeht?

Schneider: Ja, das sind mehrere Möglichkeiten denkbar. Man könnte eine Größenbegrenzung vorsehen: Wenn ein Unternehmen eine bestimmte Größenordnung überschreitet, dann muss es Volkseigentum werden. Die andere Möglichkeit wäre die Begrenzung des Anteils an Fremdkapital. Darüber wird noch diskutiert. Wir wissen zwar, dass es gemacht werden soll, aber noch nicht, wie das im einzelnen praktisch aussehen soll.

Im Zuge der Wirtschaftsreform sollen weitreichende Entscheidungen auf die betriebliche Ebene verlagert werden. Viele wichtige Positionen in der Wirtschaft wurden in der Vergangenheit stärker nach politischen als nach fachlichen Gesichtspunkten vergeben. Auch in der Opposition und in den Reihen der Arbeitnehmer gibt es nur begrenzt ökonomischen Sachverstand. Wären hier Hilfe und fachliche Beratung von außen sinnvoll?

Schneider: Ich halte es für wichtig, dass man sich in der Bundesrepublik Gedanken über derartige Fragen macht. Für ebenso wichtig halte ich, dass zum Beispiel unsere Leitungskräfte im Prozess der Umgestaltung merken, was ihnen eigentlich an Wissen, an Informationen, an Ideen fehlt. Wenn sie dann konkrete Gespräche führen können und sich beraten lassen können, wäre das eine ideale Lösung. Entscheidend ist, dass die Anforderung von unseren Leuten ausgeht, und dass die Vertreter der Bundesrepublik auf die diversen Möglichkeiten hinweisen, die Art und Weise ihrer Nutzung aber offen lassen.

Brandenburg: Ich könnte mir vorstellen, dass es in einigen Industriezweigen begrenzten Einsatz ausländischen Managements geben kann, so dass vorübergehend zusammen mit den Betriebsleitern und anderen Wirtschaftsfunktionären unseres Landes eine Verbesserung der Effektivität erreicht wird.

Könnten in diesem Zusammenhang Erfahrungen bundesdeutscher Arbeitnehmer hilfreich sein? Der DGB und die Gewerkschaften verfügen zum Beispiel über eine lange Erfahrung in der Mitbestimmung und in der Tarifpolitik; sie haben Einblick in die Ökonomie. Könnten diese Erfahrungen für die DDR nutzbar gemacht werden?

Brandenburg: Das ist ohne Zweifel möglich. Der FDGB - die bisherige Vertretung der Werktätigen in unserem Land - hat keine derartigen Aufgaben zu erfüllen gehabt. So etwas oblag dem Ministerium für Arbeit und verschiedenen anderen Institutionen. Bei uns wurden bisher keinerlei Tarifverhandlungen geführt, da es eine generelle Regelung über das Lohn- und Gehaltsgefüge gab. Wie weit das gerecht und gut war, sei dahingestellt.

Es fehlen uns Elemente der Interessenvertretung, da die Gewerkschaft bisher in dieser Frage überhaupt nicht zum Tragen gekommen ist. Aus diesem Grunde gibt es eine Vielzahl von ganz banalen praktischen Problemen: Wie wird ein Tarifvertrag ausgearbeitet? Wie hat sich ein Betriebsrat zusammenzusetzen? Wie kann man zum Beispiel im Rahmen einer Aktiengesellschaft die Rechte der Werktätigen so vertreten, dass sie den jetzigen Stand ihrer sozialen Sicherheit behalten? Wie sind Fragen des Einflusses auf den Markt zu regeln und vieles andere mehr. In dem Zusammenhang wäre es von sehr großem Nutzen, wenn ein neugestalteter Gewerkschaftsbund unseres Landes mit entsprechenden Vertretern des DGB in Form von Schulungen, Diskussionen, Materialstudien sich derartige Kenntnisse aneignen könnte.

Schneider: Aber auch hier muss wiederum gesagt werden, dass die Mängel in der DDR selbst festgestellt werden müssen, und dass die Bitte um Unterstützung aus der DDR kommen muss Der DGB kann zwar Hinweise geben und Angebote machen, aber die Initiative muss von den DDR-Gewerkschaftern ausgehen.

Heißt das, dass der DGB abwarten soll, wie sich die Gewerkschaften in der DDR entwickeln oder wären schon zum jetzigen Zeitpunkt konkrete Angebote, Informationen, auch Unterstützung sinnvoll, ohne dass sie gleich eine Einmischung darstellen würden?

Brandenburg: Das würde ich durchaus bejahen. Das lag auch in der Absicht unseres Besuches hier. Es wird auf eine konkrete Unterstützung hinauslaufen, natürlich eine solche, um die wir gebeten haben und die uns beim Aufbau sowohl von Gewerkschaftsorganisation als auch von Wirtschaftsmechanismen durchaus hilfreich sein wird.

Während Ihres Besuches haben Sie darauf hingewiesen, dass ein Scheitern der Reformpolitik in der DDR sich auch auf die Bundesrepublik auswirken wird. Eine mögliche Verarmung größerer Teile der Bevölkerung der DDR, wie sie beispielsweise durch eine massive Abwertung der Währung der DDR oder durch eine plötzliche Arbeitslosigkeit im Zuge wirtschaftlicher Reform ausgelöst werden könnte, würde womöglich zu einer großen Ausreisewelle in die Bundesrepublik führen und letztlich zum Beispiel zu einem Zusammenbruch des Sozialsystems der Bundesrepublik führen?

Brandenburg: Das würde nicht nur den Zusammenbruch des Sozialsystems der Bundesrepublik bedeuten, sondern wahrscheinlich auch das Fortbestehen der DDR ernsthaft gefährden - und damit wäre weder dem einen noch dem anderen Staat gedient.

Gibt es, etwa in der Sozialpolitik, Maßnahmen, die Sie kurzfristig für vordringlich halten, damit die verschiedenen Entwicklungen gleichmäßig verlaufen und nicht etwa die Wirtschaftsreform einen langen Vorlauf hat?

Brandenburg: Es war eben von Regulation die Rede. Diese Regelungen müssen unbedingt gewährleisten, dass eine plötzliche Arbeitslosigkeit verhindert wird, dass eine Währungsreform, wie sie vielfach im Gespräch ist, nicht stattfindet - sie würde nämlich zur Verarmung von ungefähr 90 Prozent unserer Bevölkerung beitragen und würde zu einem massenhaften Protest führen, der im Prinzip nur einen Ausweg hätte: die Auswanderung.

Zeitgleich mit den Gefährdungen der wirtschaftlichen und sozialen Existenz vieler DDR-Bürger sind erstmals Transparente mit Forderungen nach Wiedervereinigung aufgetaucht. Sehen Sie in einer Wiedervereinigung eine mögliche Lösung des Problems?

Brandenburg: Ich würde eine Wiedervereinigung, wie sie sich zum Beispiel Bundeskanzler Kohl vorzustellen scheint, keinesfalls für eine Lösung halten. Der Abstand zwischen unseren beiden Staaten ist sehr groß - nicht nur auf währungspolitischem Gebiet, auch auf wirtschafts- und gesellschaftspolitischem Gebiet. Ich würde deshalb Ministerpräsident Modrow zustimmen, der von einer Vertragsgemeinschaft spricht und eine spätere Koexistenz beider Staaten nicht ausschließt. Das heißt: Auf dem Boden der DDR sollte - wie wir es in der Wirtschaftsverfassung konzipiert haben - ein sozialer und demokratischer Staat entwickelt werden, der die krassen kapitalistischen Auswüchse wie sie in der Bundesrepublik zu beobachten sind, nicht aufweist, und der die Ideale, die der Sozialismus trotz allem birgt, in gewisser Hinsicht neu entwickelt. Die aufgetauchten Wünsche und Forderungen nach Wiedervereinigung sind für mich ein Ausdruck von Resignation. Viele können sich offenbar nicht (mehr) vorstellen, dass es gelingen kann, diesen Staat so umzubauen, wie ich es eben versucht habe zu umreißen. Aus Resignation sind sie bereit, sich Widerspruchs- und kompromisslos zu übergeben.

Schneider: Daneben gibt es in der DDR allerdings eine ganze Reihe von Menschen, die den Wiedervereinigungsgedanken nie aufgegeben hatten. Ich denke, dass es nicht nur Resignation ist, was da hochkommt.

Jedenfalls würde eine veränderte DDR auch die Bundesrepublik verändern?

Schneider: Sicherlich. Heutzutage hängt in der ganzen Welt alles mit allem zusammen. Deshalb wird es, egal wie die Entwicklung in der DDR läuft, eine unmittelbare Rückkopplung auf die Bundesrepublik geben - ob negativ oder positiv. Wenn es uns gelingt, die Probleme in den Griff zu bekommen und uns wirtschaftlich und politisch weiterzuentwickeln, würde das unbedingt eine positive Wirkung auf die Bundesrepublik haben. Momentan muss man allerdings realistischerweise eher von einer negativen Entwicklung ausgehen.

Das Gespräch führte Stephan Hegger am 10. Dezember 1989 in Düsseldorf.

aus: Gewerkschaftliche Monatshefte Nr. 12/1989

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