Wir sollen nur brav unsere Schularbeiten machen

"Tribüne" sprach mit Prof. Dr. Jens Reich, Abgeordneter der Volkskammer, Bündnis 90/Grüne


Kürzlich haben Sie in der Volkskammer sehr plastisch auf die Folgen des Staatsvertrages hingewiesen. Ein rosiges Bild kam da wahrlich nicht zustande. Die Reaktionen reichten dann ja auch von Zwischenrufen bis zu Heiterkeit. Woran entzündeten sich die Gemüter?


Ich habe die Position für meine Fraktion Bündnis 90/Grüne dargestellt. Wir lehnen den Vertrag in der vorliegenden Form ab. Denn er sieht vor, dass die DDR ihre Selbständigkeit in entscheidenden Teilen abgibt, ohne dass die staatliche Einigung zeitlich und sachlich gesichert ist. Es ist doch kein Vertrag zwischen gleichen Partnern, wenn die eigene Staatshoheit zur Hälfte aufgegeben wird. Wir lehnen den Vertrag auch ab wegen seiner schweren sozialen Auswirkungen, die kommen werden. Uns wird immer gesagt, dass die Grundfrage schon am 18. März mit den Wahlen entschieden wurde, wobei ich mich erinnere, zwischen Parteien und Gruppierungen gewählt zu haben und keine Staatsverträge. Es ist klar, dass wir den Sozialismus abgewählt haben und mehrheitlich die deutsche Einigung auf die Bahn bringen wollten und auf das Angebot der D-Mark eingegangen sind. Aber da gibt es ja immer noch das Kleingedruckte im Staatsvertrag.


Gerade darüber müsste doch ein Parlament verhandeln. Aber dem ist offensichtlich nicht so. Ergibt sich da nicht die Frage nach dar Rolle des Parlaments Überhaut. Mehr Schein als Sein also?


Ein Parlament muss eingebunden sein bei einem verfassungsgebenden Vertrag. Bei den Dimensionen des Vertrages ist es doch Durchführung und Kontrolle wenigstens an einen Parlamentsausschuss zu binden und nicht an ein von der Regierung zu ernennenden Komitee. Man hat den Eindruck, der Vertrag soll vom Parlament abgesegnet werden, möglichst ohne Änderungen. Und die, die dann doch zugelassen werden, können nur kosmetischer Natur sein. Sicher, wir haben eine Reihe von Vorschlägen zusammengestellt, was man zumindest noch ändern müsste in den Anlagen des Vertrages. Möglich ist alles, das Parlament könnte den Vertrag zurückweisen. Nur die Mehrheitsverhältnisse und die politische Absicht sind klar: Alles soll schnell durch. Und es läuft ja, die Leute stehen an der Sparkasse. Das Geld wird reingefahren.


Das ist die eine Seite. Von der versprechen sich viele hierzulande etwas. Kommen Sie sich nicht als ein Rufer in der Wülste vor, wenn Sie negative soziale Folgen beschreiben?


Nein. Ich bin auch nicht deprimiert oder enttäuscht, wenn unsere Fraktion in der Volkskammer oft wenig Gegenliebe erntet. Wir wollen nicht die deutsche Einheit verzögern. Doch wir sind gegen diese nackte Zwischenzone. Denn es wird ja nicht wirklich auf Strukturveränderungen gesetzt hier. Das Land ist reformbedürftig. Aber ich sehe nicht ein, warum schockartig die halbe Wirtschaft zugemacht werden muss. Es ist einfach nicht wahr, dass wir so völlig pleite sind. Man hätte in den Verhandlungen zum Staatsvertrag einfach mehr Nerven gebraucht, um sich nicht so unter Wert zu verkaufen, um Mitbestimmung nicht so einfach aufzugeben.

Bei den Hohen Vertragschließenden Seiten handelt es sich nun eher um eine hohe und eine niedrige Seite. Ich sehe auch nicht, dass irgendwo neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Nettobezüge, die Lohnempfänger bekommen werden, auch die Renten - darin ist ziemlich viel sozialer Sprengstoff enthalten. Die Warenkörbe, von denen bei den Verhandlungen zum Staatsvertrag ausgegangen wurde, sind nirgends bekanntgegeben. Ich weiß nicht, ob da die zukünftige Preisentwicklung überhaupt berücksichtigt wurde. Und die Arbeitslosen, gerade im mittleren Alter, was kann man sich für sie vorstellen? Selbst wenn es nur ein Drittel der Gesellschaft wäre, dem es schlecht geht, wäre das entschieden zu viel. Was wir brauchen, sind klare wirtschaftliche Konzepte. Doch der Minister muss zugucken, ob die neuen Unternehmen nun wie Pilze aus dem Boden schießen. Aber auf Befehl tun die das auch nicht.


Das sind Positionen, die sich ziemlich weit links einordnen. Wäre es denn denkbar, im Parlament mit der PDS zusammen zugehen, um ein stärkeres Gegengewicht der Opposition zu erreichen?


Sicher, es gibt in ökologischen und sozialen Fragen linke Standpunkte unsererseits. Doch unser Wählerauftrag ist eindeutig: Nicht mit der PDS. Da gibt es eine klare Abneigung. Wie sich das weiterentwickeln wird, hängt von der Reformfähigkeit der PDS ab. Man erlebt noch zu oft stalinistische Strukturen. Das Beschluss- und Apparatdenken, übrigens auch bei den anderen Parteien, ist offensichtlich. Wenn die Parteien das 19. Jahrhundert abgelegt haben, kann man weiterreden. In Sachfragen wird es auf kommunaler Ebene ein Zusammengehen geben, da kann man sich verständigen. Geht es doch darum, die soziale Komponente in den Kommunen zu betonen.


Das Neun Forum hat die friedliche Revolution vom Herbst `89 mitbestimmt, Heute, ein halbes Jahr später, sind die Relationen ganz andere. Wie empfinden Sie das, jetzt am Rande einer Entwicklung zu stehen, die Sie mit ausgelöst haben?


Also, ich sehe das nicht so dramatisch. Wir sind eine kleine Bewegung, wir haben auch unsere Schwächen. Aber das ist so etwas wie Sauerteig. Das gärt und entwickelt sich. Zu unserem Grundverständnis von Politik gehört die stärkere Einbindung der Bevölkerung, das Überwinden von verkalkten Parteistrukturen. Und da sind wir vom Neuen Forum ja unbelastet. Wir sind auch nicht angewiesen auf Regierungskompromisse. Bei uns gibt es einen Kern engagierter Leute, ein breites politisches Spektrum. Und gerade das birgt doch gute Chancen, Alternativen in der Politik zu finden. Wir werden uns auch weiterhin für Menschenrechte, ein vernünftiges Umweltrecht einsetzen. Genauso müssen noch vor der Einigung das Regt auf Arbeit und Wohnung festgeschrieben werden. Das sind ganz reale Sachen, für die wir eintreten. Denn arbeitslos unter einer Brücke leben zu müssen, ist menschenunwürdig. Das Recht auf Wohnung muss einklagbar sein.


Das ist ja auch im Verfassungsentwurf formuliert. Ihre Bürgerbewegung, das Neue Forum, war maßgeblich am Zustandekommen dieses Entwurfs am Runden Tisch beteiligt. Wie schätzen Sie das Dokument ein?


Die Expertenmeinungen dazu sind unterschiedlich. Die einen sagen: sehr gut, Konservative haben Einwände. Und aus diesem Lager kommt die Meinung, das Bonner Grundgesetz genüge. Jedoch - das wurde vor 40 Jahren verabschiedet.. Die Umweltrechte, die Charta der Menschenrechte, die Einbeziehung der Bevölkerung - all das konnte im Grundgesetz noch gar keine Rolle spielen. Muss es aber jetzt. Die Entwicklung der Menschheit gebietet es dringend. so etwas in eine neue Verfassung aufzunehmen. Der Entwurf der neuen Verfassung ist in weiten Teilen passgerecht mit dem Grundgesetz. Geht aber auch in manchem darüber hinaus. Im Hinblick auf die Vereinigung - kann so etwas denn schädlich für die Bürger der Bundesrepublik sein? Auf der anderen Seite: Die 49er Verfassung, nach der einige rufen, bringt nicht voran, weil sie vorn Grundanliegen her ein völlig anderer Typ von Verfassung ist.


Nun ist aber die neue Verfassung von der Volkskammer wiederholt abgeschmettert worden und erst einmal in die Versenkung gerutscht . . .


Auch daraus kann sie wieder auftauchen. Ich bin nach wie vor der Meinung, die deutsche Vereinigung soll ein verfassungsgebender Prozess sein. Das Neue Forum organisierte eine Unterschriftensammlung für den Verfassungsentwurf. Wir wollten damit den Koalitionsparteien zeigen, dass es so wie sie wollen, nicht geht. Vielleicht erreichen wir auch ein Volksbegehren. Mit politischen Mitteln müssen wir uns gegen die Mehrheitsablehnung des Parlaments wenden. Wir müssen protestieren, verlangen, argumentieren. Kurz - wir werden hartnäckig bleiben, damit es zu einer neuen Verfassung kommt, und zwar zu einer, wie sie der Runde Tisch erarbeitete. Und deshalb noch einmal: Eine 49er Verfassung so umzumodeln, damit sie für das passt, was kommen soll, ist für mich inakzeptabel. Eine zentralistische Verfassung so umzudrehen, damit wir in einen pluralistischen Staat reingehen können, ist ein Unding!


Verunsichert sind hierzulande jetzt viele Leute, weil sie am eigenen Leibe zu spüren bekommen, wie das Recht auf Arbeit verlorengeht. Umschulung wäre eine Lösung. Ist's aber nicht, weil dafür das nötige Wirtschaftskonzept noch Immer fehlt . . .


Ja, dem ist so. Wenn Wirtschaftsminister Pohl sagt, mehr mittelständische Betriebe müssten geschaffen werden, kann er nicht nur zugucken, ob die wie Pilze wachsen. Da müssen Voraussetzungen geschaffen werden. Jüngste Debatten im Parlament kann man auch so interpretieren, dass man statt Arbeitslosenunterstützung Schulgeld zahlen will. Das ist, wie Umschulung generell, an sich sehr lobenswert. Doch ich weiß nicht, in welche Richtung sich eine halbe Million oder noch mehr Menschen bilden sollen, wenn Unklarheit über künftige Wirtschaftsstrukturen herrscht. Französisch lernen oder englisch, sich an Computer setzen ist ja ganz schön und dient der Allgemeinbildung. Für den Weg aus dem wirtschaftlichen Tal brauchen wir mehr. Nämlich ein klares Konzept. Und nur das kann eine Basis für die Umschulung und damit eine Grundlage dafür sein, ein solch wichtiges Menschenrecht wie das Recht auf Arbeit zu erhalten.


Nochmals zum Staatsvertrag. Ist er überhaupt nötig, wäre der Weg zur deutschen Einheit über eine gemeinsame Verfassung nicht der bessere?


Ich bin der Meinung, dass man Verfassungs- und Wirtschaftsfragen hätte trennen müssen. Eine Reihe von Reformmaßnahmen, die wir selbst zu erledigen haben, gehören nicht in den Staatsvertrag hineingeschrieben. Nun aber steht's in diesem Vertrag mit einem anderen Staat. Diese Art Selbstverpflichtung geht bis zu Dingen, die wir nun übernehmen sollen, also Tarifgesetz, Versicherungsgesetz, Bankgesetz . . . Wir verpflichten uns, sie brav als Schularbeiten zu erledigen. Als wüssten wir nicht selbst, was wir tun müssen. Ich sehe nicht ein, weshalb wir diese Art von Wellblechbaracken-Verfassung, die wir da mit dem Staatsvertrag zusammengezimmert haben, übernehmen sollen und brauchen können.

Was wir brauchen, sind eine neue Verfassung und ein Wirtschaftsvertrag. Dann hätte es auch konkreter zugehen können. Nehmen wir nur den Artikel 14 des Staatsvertrages, den über die Struktur der Wirtschaft. Herr Schröder von der SPD warf der vom Runden Tisch ausgearbeiteten Verfassung Lyrik vor. Doch Lyrik ist dieser Paragraph des Staatsvertrages, denn seine Sätze sind lediglich pure Absichtserklärungen ohne ein konkretes Wort. Wäre ich bösartig, könnte t sagen, ein paar Ausdrücke geändert und schon wäre es ein Zitat aus einem der SED-Parteitagsberichte.


Harte Worte, die momentan aber wohl nicht viel bringen, so wie die Dinge liegen. Wie sehen Sie da Ihre Zukunft?


Völlig offen. Momentan komme ich bestenfalls einmal in der Woche ins Institut . . . Wissen Sie, ich habe wenig angenehme Empfindungen bei der mir zu sehr routinierten Volkskammerarbeit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das sehr lange mitmache. Ich bin jetzt schon so weit, dass ich mir sage, das muss reformiert werden, wenn es Sinn haben soll. Und ich bin mir da einig mit Altgedienten aus dem Bundestag. Diese Abstimmungsmaschinerie! Diese unbefriedigenden, unter oberflächlicher Vorbereitung und Zeitdruck leidenden Debatten! Dieses „dank" Fernsehen und Rundfunk Nach-Hause-Reden vieler Abgeordneter! - Da müsste sich viel verändern. Ich könnte mir vorstellen, dass ich mich da engagiere. Aber man muss ja nicht unbedingt parlamentarisch arbeiten, um politisch etwas zu bewegen. Und das hätte dann noch den Vorteil, man käme im eigenen Fach weiter.


Gestatten Sie zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Was machen Sie mit dem Haufen Geld, den Sie nun Monat für Monat Volkskammerabgeordneter erhalten?


Den nehme ich nicht. Ich schäme mich für dieses Geld und will es nicht. Ich nehme mir nur so viel davon, wie ich als Institutsmitarbeiter verdient habe. Mit dem Rest kaufe ich dem Neuen Forum vielleicht Büromöbel oder gebe es in eine Stiftung der Bürgerbewegung oder stelle es zur Verfügung, damit sich Kinder von Tschernobyl bei uns erholen können. Vielleicht unterstütze ich auch grüne Projekte. Wenn Arbeitslose knapp 500 Mark erhalten, kann ich mir nicht 4 000 Mark Netto gutschreiben lassen.

Biographisches
Jens Reich wurde 1939 geboren. Er ist Arzt, genauer Facharzt für Biochemie. Seit 20 Jahren arbeitet er auf dem Gebiet der Molekularbiologie im entsprechenden Akademie-Zentralinstitut in Berlin-Buch. Mit der Aufklärung der menschlichen Gene will sich der Professor verstärkt beschäftigen, wenn er zu seiner wissenschaftlichen Arbeit zurückkehrt. Prof. Reich ist verheiratet und Vater dreier erwachsener Kinder. Er gehört zu den Mitbegründern der Bürgerbewegung Neues Forum.

Text: Jutta Schütz / Roland Tittel

Tribüne, Nr. 116, 46. Jahrgang, Mi. 20.06.1990

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