"Die meisten Akten kann man finden"

Gespräch mit einem Besetzer der Stasizentrale

Seit Tagen besetzen 21 Frauen und Männer vom Neuen Forum und anderen Bürgerbewegungen die Büros der Stasizentrale. Wir sprachen mit einem von ihnen, Reinhard Schult, über Motive und Forderungen der Besetzer.

BZ: Wieso halten Sie den Griff ausländischer Geheimdienste nach diesen Akten selbst für den gefährlich, der kein Stasi-Mitarbeiter war?

R. Schult: Ich denke, dass da soviel Material von Bürgern aus ihrem Privatleben gesammelt wurde, dass da auch diskreditierende Einzelheiten dabei sind. Die Stasi ist ja bis in die tiefste Intimsphäre der Leute eingedrungen. Hier sind Menschen einfach erpressbar, weil man sie z.B. der öffentlichen Lächerlichkeit aussetzen kann. Damit ist das Ganze politisches Material.

BZ: Wie sollte man das behandeln?

R. Schult: Wir verlangen eine Unterscheidung der Akten in Personendossiers, in Spitzelberichte und in Vorgangsberichte. Die Personendossiers müssen allen Betroffenen zugänglich sein und jeder einzelne soll selbst entscheiden, ob seine Akte vernichtet oder aufbewahrt wird. Die Spitzelberichte müssen für die juristische Aufarbeitung, für die Verfolgung von Straftaten gesichert werden und die Vorgangsberichte für die historische Aufarbeitung. Diese Unterscheidung halten wir für sehr wichtig.

BZ: Da die Akten nicht alphabetisch geordnet sind, braucht man nur ein Blatt aus der Finderkartei wegzunehmen und die entsprechende Akte ist unauffindbar. Sind die Akten da nicht in Koblenz sicherer?

R. Schult: Wenn etwas verschwunden ist, wie gerüchteweise verlautet, dann sind es Karteikarten von einzelnen führenden Persönlichkeiten. Die Mehrzahl der Karteibestände ist aber erhalten. Es ist nicht wahr, dass man jetzt keine Akte mehr findet. Um das weitere Verschwinden von Karteikarten zu verhindern - z.B. ist de Maizières Akte nicht auffindbar - fordern wir ja auch, dass die Stasi ganz schnell aus den Archiven raus muss und die Arbeit von Bürgerkomitees oder anderen integren Personen bzw. Institutionen übernommen wird. Die müssen natürlich auch parlamentarisch kontrolliert werden. Damit ist die Frage Koblenz für uns erledigt.

BZ: Wie stellen Sie sich eine konsequente Aufarbeitung dieser Akten vor?

R. Schult: Wir denken z.B., dass ehemalige Stasi-Mitarbeiter nicht in leitende Positionen des öffentlichen Dienstes oder der Politik gehören. So etwas ist anhand der Spitzelberichte ziemlich schnell klar zu kriegen. Wir meinen andererseits, dass die Methoden des Sicherheitsdienstes und die Struktur seiner Verfilzung mit Polizei, Justiz und SED mit Hilfe der Verlaufsakten ziemlich leicht öffentlich gemacht werden kann. Das ist in der Grobstruktur schnell zu erledigen. Im Detail wird das natürlich Jahrzehnte dauern.

BZ: Was ist außer der täglichen Kundgebung um 17 Uhr noch geplant?

R. Schult: Wir haben aufgerufen, am Donnerstag ab 13 Uhr vor der Volkskammer unser Anliegen mit verschiedenen Aktionen zu unterstützen. Wir wollen dort auch weitere Unterschriften sammeln für unseren offenen Brief.

Das Gespräch führte
Julia Michelis

Berliner Zeitung, Nr. 213, Mi. 12.09.1990

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