Grünes Licht für gleiche Chancen

Im Gespräch mit dem stellvertretenden Minister für Bildung Volker Abend vom Neuen Forum

Was Eltern und verantwortungsbewusste Lehrer seit langem bewegt, nämlich die notwendige Erneuerung der Schule, ist mit den Veränderungen in unserem Land in Bewegung geraten. Als Mitglied der Initiativgruppe Pädagogik des Neuen Forums waren Sie bereits an der Erarbeitung erster Positionen beteiligt, die eine Neubestimmung und Neubesinnung im Bildungswesen fordern. Die CDU hat den christlichen Lehrer Volker Abend für das Amt des stellvertretenden Ministers für Bildung nominiert, das Ihnen die Verantwortung für den Bereich Schule übertrug. Wo sehen Sie im gegenwärtigen Prozess der Umgestaltung Ihre besonderen Wirkungsmöglichkeiten?

Zunächst einmal möchte ich vorausschicken, dass mein umfangreiches Aufgabengebiet zu den Bereichen gehört, die dem Minister für Bildung direkt unterstellt sind. Einen besonderen Ansatzpunkt für meine Tätigkeit sehe ich darin, auf staatlicher Ebene die gesellschaftlichen Kräfte zusammenzuführen, die bisher kaum miteinander in Berührung gekommen sind. Das ist zum Teil bereits geschehen. In Zusammenkünften mit Vertretern der evangelischen und der katholischen Kirche wurde eine vierzigjährige Sprachlosigkeit überwunden. Die kirchlichen Vertreter begrüßten die Möglichkeit zum Gedankenaustausch und äußerten Wünsche und Vorstellungen, die in das Konzept einer Bildungsreform einfließen werden. Wir wollen ein für allemal Schluss machen mit dem Unrecht der Vergangenheit. Wenn auch nicht alles wiedergutzumachen ist, wollen wir jedenfalls dafür sorgen, dass solche Dinge in Zukunft nie wieder geschehen können. In den Gesprächen spielten u. a. auch solche Fragen eine Rolle wie die staatliche Anerkennung von Abschlüssen in kirchlichen Bildungseinrichtungen, die zum Teil zum Abitur führen, das bisher nur für die innerkirchliche Ausbildung Gültigkeit besaß.

Was muss jetzt rasch geschehen in der Schule? Was braucht Zeit?

Durch ein langes Zaudern ist im Bildungswesen eine Situation entstanden, die Sofortmaßnahmen notwendig macht. Gegenwärtig geht es darum, Vorkehrungen für einen guten Start ins zweite Schulhalbjahr zu sichern. Wir wollen den Lehrern zum Beispiel vielfältige Angebote zur Weiterbildung in den Winterferien unterbreiten. Alles, was Unruhe und Unordnung an den Schulen auslöste und auslöst, ist dadurch bedingt, dass klare' Entscheidungen fehlen und Fragen auftauchen, auf die' bisher keine Antwort erteilt wurde. Da steht zum Beispiel das Thema Prüfungen auf der Tagesordnung. Dazu muss rasch etwas gesagt werden, damit nach den Winterferien mit der notwendigen sachlichen Ruhe gearbeitet werden kann. Obligatorischer Unterricht wird zukünftig zugunsten von mehr Möglichkeiten eines fakultativen oder wahlobligatorischen Unterrichts neu bestimmt Das betrifft sofort die wissenschaftlich-praktische Arbeit in der Abiturstufe, die sich nur noch mit wirklich sinnvollen Projekten beschäftigen wird und den Schülern die Möglichkeit einräumt, sich selbst nach geeigneten Angeboten etwa im fakultativen Bereich umzuschauen. Längere Zeit und gründlicheres Überlegen brauchen die Fragen einer neuen Bildungskonzeption, für die die gegenwärtige Regierung keine Entscheidungen treffen, sondern nur den Entwicklungsvorlauf schaffen kann, der die Diskussionsgrundlage für endgültige Beschlüsse bieten wird, damit eine legitimierte Regierung so rasch wie möglich neue Lehrpläne einführen kann, die den längst fälligen Anschluss an das europäische Umfeld sichern. Besonderer Zeitverzug ist im Bereich der Abiturbildung aufzuholen.

Sofortprogramm für die Abiturvorbereitung

Worin zeichnen sich Veränderungen für die Abiturstufe ab?

Vor allem ist daran gedacht, so rasch wie möglich wieder zu einer längeren Abiturvorbereitung zurückzufinden, und zwar in einem Sofortprogramm ab nächstem Schuljahr. Wir wollen auch von der bürokratischen Limitierung wegkommen; das bedeutet, dass die Zahl der Schüler in der Abiturstufe größer wird. Die Regelungen dafür müssen noch reiflich durchdacht werden. Es gibt Überlegungen, die Abiturbildung künftig bereits in der 7. Klasse beginnen zu lassen. Mit dem Schuljahr 1990/91 werden Einstiege in die Abiturbildung ab Klasse 9 möglich sein, dies allerdings im Sinne einer schrittweisen Neukonzipierung der Abiturbildung.

Das Neue Forum fordert mehr Freiräume im Unterricht für das persönliche Engagement des Lehrers. Welche Voraussetzungen sind zu schaffen, um einen kreativen Unterricht zu sichern?

Der Unterricht wird künftig stärker davon bestimmt sein, wie der Lehrer seine Persönlichkeit einbringt, wie abwechslungsreich er das Lernen gestaltet. Der Lehrer wird sich viel mehr als bisher mit dem Unterrichtsstoff auseinandersetzen müssen. Das hat den Vorzug, dass er engagierter arbeitet Das Wegfallen von Vorschriften soll sich stimulierend auswirken. Mit einem Bild möchte ich versuchen, diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen. Im Straßenverkehr beobachtet man häufig, dass auf Rot geschaltete Ampeln verkehrshindernd wirken, da trotz freier Bahn alle erst auf Grün warten. Bei unseren Nachbarn in der Tschechoslowakei gibt es in solchen Fällen die gelb blinkenden Ampeln in verkehrsarmen Zeiten. Jeder muss nun selbst entscheiden und entscheidet auch umsichtig. Nur in verkehrsreichen Zeiten muss zur Vermeidung von Problemen auf Rot oder Grün geachtet werden. Das gilt meines Erachtens auch für das Bildungswesen, in dem Reglementierungen nur für wesentliche Bereiche der Allgemeinbildung im Sinne eines gleichen Bildungsangebots für alle erforderlich sind, Initiative und Kreativität durch unnötige Vorschriften behindert werden.

Sie sprechen dabei vom notwendigen Umdenken in Bezug auf das Kind, das den Ausgangspunkt aller Überlegungen bilden muss. Wie wird sich das Lernen mit der Erziehung junger Menschen verknüpfen?

Wissens- und Könnensvermittlung und Erziehung liegen nebeneinander her, solange die Erziehung überwiegend politisch-ideologisch aufgefasst wurde. Wir sind dabei, ein neues humanistisches Bildungsziel zu erstreiten im Sinne eines echten Konsens an dem alle Mitverantwortung tragen. Dabei ist auch das Recht des Lernenden und der Eltern als Erziehungsberechtigte zu sichern, die gewünschte Bildung zu bestimmen. Das schließt ein, sich für einen vorzeitigen Schulabgang und eine frühere Berufsausbildung zu entscheiden.

Kritik ist inzwischen an den Formen der Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule geübt worden. Wie stellen Sie sich künftige Beziehungen zwischen Schule und Familie vor?

Wie auf allen Gebieten des Bildungswesens gibt es auch da Gutes und Bewahrenswertes. Nicht alles, was bisher geleistet wurde, war schlecht. Als Ansatzpunkte, für künftige Beziehungen zwischen Eltern und Schule fehlen uns Vergleiche und Anregungen. Wir können sicher im Erfahrungsaustausch mit Nachbarländern lernen, auch aus den Ergebnissen, die die Schule bei der Erziehungsarbeit im Umgang mit den Eltern erzielte. Wichtige Wirkungsbereiche für eine Zusammenarbeit werden sich zum Beispiel in der Mitwirkung bei der Entscheidung über den künftigen Bildungsweg ergeben, auch bei der Wahrnehmung des Erziehungsrechts durch die Anteilnahme am Werdegang des Kindes vom Kindergarten bis zum Abschluss der Berufsausbildung. Die Eltern sollen nicht die Aufgaben der Schule übernehmen, aber auch ihre Erziehungspflicht nicht auf andere delegieren, sondern dafür sorgen, dass das Kind in der Schule seine Aufgaben erfüllt. Die Mütter und Väter müssen wieder begreifen, dass Erziehung zunächst einmal in der Familie stattfindet, und aus dieser Position heraus ihr demokratisches Recht auf Mitbestimmung in Anspruch nehmen. Diese Art der Mitwirkung kann sich bis zu inhaltlichen Fragen erstrecken, auf die sie als in der gesellschaftlichen Praxis Lebende und Arbeitende Einfluss ausüben. Die Ausgrenzung von religiösen Eltern hat die konstruktive Mitarbeit bisher gelähmt. Aus der Vielfalt der Meinungen und Auffassungen wird sich eine schöpferische Atmosphäre ergeben, denke ich.

Das Neue Forum setzt sich für eine strikte Trennung von Schule und gesellschaftlichen Organisationen ein. Wo sehen Sie den Platz der Kinder- und Jugendorganisation?

Da inzwischen bereits viele Jugendorganisationen entstanden sind, beschränkt sich diese Forderung längst nicht mehr nur auf FDJ und Pionierorganisation. Im übrigen haben gute Lehrer auch früher schon unter dem Mantel der Pionier- und FDJ-Arbeit mit den Kindern ein interessantes Freizeitleben gestaltet das sich jetzt ohne den Druck von Aufträgen und Vorgaben zugunsten eines aufgeschlossenen Miteinanders ausbauen lässt. Der Erfolg der Tätigkeit der Jugendorganisation außerhalb der Schule wird davon abhängen, was den Kindern geboten wird. In Bezug auf die kirchliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wurden in der Vergangenheit dabei gute Erfahrungen gesammelt.

Welche Bedeutung messen Sie der Förderung von Begabungen und Talenten bei?

Als Fachlehrer für Mathematik und Physik habe ich selbst versucht, Begabungen zu entdecken und zu fördern und kann aus eigener Erfahrung sagen, dass es schwer ist, wirklich Hochbegabte ausfindig zu machen. In den meisten Fällen handelt es sich um in der Einheitsschule unterforderte Kinder, bei denen sich später herausstellte, dass sie nur normal begabt waren. Deshalb werden in Zukunft differenzierte Angebote, z.B. frühere Abiturbildungsklassen für leistungsstarke Schüler, besondere Bedeutung erhalten. Die Förderung spezieller Talente muss allen interessierten Kindern offenstehen und soll nicht unbedingt ein Berufsziel ansteuern. Vielfältige Formen, auch private Angebote - etwa Klavier- oder anderer Instrumentalunterricht - müssen zukünftig in unserem Land wieder zur Verfügung stehen.

Gegenwärtig wird auf vielen Zusammenkünften von Eltern und Lehrern über die Einführung von Schulmodellen diskutiert. Wie stehen Sie zu diesen Forderungen?

In Übereinstimmung mit den Basisgruppen des Neuen Forums bin ich für eine sofortige Einführung von Schulversuchen in Zusammenarbeit mit interessierten Eltern und Lehrern. Allerdings sollten solche Vorhaben gründlich und solide vorbereitet werden und nicht im Wildwuchs entstehen. Im Mittelpunkt müssen die Bemühungen um die Reformierung der allgemeinbildenden Schulen bleiben.

Polytechnik ohne Kinderarbeit

Der polytechnische Unterricht hat sich zu einem besonderen Merkmal unserer Schule entwickelt. Wie wird es auf diesem Gebiet weitergehen?

Der besondere Vorzug der Polytechnik liegt darin, dass sie den Kindern die Bekanntschaft mit der Arbeitswelt vermittelt. Sobald polytechnischer Unterricht in Kinderarbeit umfunktioniert wird, verkehrt sich die gute Absicht ins Gegenteil. In diesem Bereich wird die Meinung von Fachleuten, nicht nur aus unserem Land, auch aus ost- und westeuropäischen Ländern, einzuholen sein, um von anderen zu lernen. Aber auch gute Traditionen sollten fortgeführt und ausgebaut werden.

Das Fehlen von religionskundlichen Kenntnissen unter jungen Menschen ist inzwischen als Bildungsdefizit erkannt worden. Wo bieten sich in der gegenwärtigen Stundentafel günstige Bedingungen für die Vermittlung von Wissen auf diesem Gebiet?

Am günstigsten ließe sich dieser Stoff in das neue Fach einbringen, das den Staatsbürgerkundeunterricht ablösen wird, ob es sich nun Lebenskunde oder gesellschaftskundlicher Unterricht nennt. In welchem Umfang, in welcher Form sich überwiegend atheistisch erzogene junge Menschen im Sinne einer guten Allgemeinbildung religionskundliche Kenntnisse aneignen, darüber wird noch nachgedacht werden müssen. Auf jeden Fall wird es sich nicht um Religionsunterricht an der Schule handeln.

Ich möchte abschließend noch einmal ein Bild verwenden. Die Umgestaltung in unserem Land lässt sich mit dem Umbau eines Hauses vergleichen, bei dem vor Beginn zunächst einmal die Tragfähigkeit seines Fundaments überprüft werden muss, wenn man Fenster und Türen neu einbauen und Außenwanddurchbrüche vornehmen muss. Bei solchen Umbauten muss aber durch einen guten Architekten und viele versierte Bauleute auch an die Sicherung, z. B. das rechtzeitige Abstützen, gedacht werden, damit keine Risse entstehen, die sich schwer wieder beseitigen lassen. Eingerissen ist schnell, aufbauen und rekonstruieren braucht langfristige Überlegungen.

Das Gespräch führte Gudrun Skulski

aus: Neue Zeit, Jahrgang 46, Ausgabe 12, 15.01.1990, Tageszeitung der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands

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