NACH-RUF

Wir wollten eine ANDERE Zeitung machen.

Eine unabhängige Zeitung. Kein Organ. Keiner Partei. Es war nicht möglich.

Wir hatten es mit einem Herausgeber, einem Verlag und (der Mehrheit in) einem Beirat zu tun, die eine andere ANDERE wollen. Nicht so leise. Nicht so behutsam. Kämpferischer. Wir kennen selbst die Mängel, die unsere Zeitung nach nur vier Wochen Vorbereitungszeit, bei zunächst primitivsten materiellen Bedingungen und einem Stamm von nur drei oder vier Redakteuren noch hatte. Wir wären gern aktueller gewesen. Hätten gern mehr Information geboten. Wir hatten die Hoffnung - und haben dafür oft genug mehr als 12 Stunden täglich gearbeitet - dies nach und nach zu erreichen. Es hätte dazu Vertrauen gebraucht. Und Geduld.

Was wir erlebten, war Hineinreden, Hineinredigieren, Intoleranz, Anmaßung und Bevormundung. Im alten Stil. Im gleichen Ton wie früher. Mit den gleichen Methoden.

Was uns daran besonders schmerzt: Diesmal sind es die eigenen Leute, die politischen Freunde, die uns so begegnen. Leute, die von Basis-Demokratie reden. Uns aber das Recht absprechen, über unsere Zeitung selbst zu entscheiden. Leute, die öffentlich soziale Sicherheit fordern, sie den eigenen Mitarbeitern aber nicht gewähren (Zitat: "Soziale Sicherheit ist hier nicht zu haben!") Wir haben bis jetzt keinen Arbeits-Vertrag. Während sogar ehemalige Partei-Zeitungen sich unabhängig machen, sollte unsere unabhängige Zeitung mehr und mehr Sprachrohr werden.

Das geht nun nicht mehr. Nicht mit uns.

Wir stellen geschlossen die Arbeit an dieser Zeitung ein. Vielleicht wird es demnächst eine andere ANDERE geben. Die andere machen werden. Denen können wir nur mehr Glück wünschen.

Vor allem aber verabschieden wir uns von den Lesern, die in unserer Zeitung eine Hoffnung sahen.

TSCHÜSS!
die ANDEREn


Aus einem Brief an Bärbel Bohley

in Erwiderung auf das Redigieren eines Interviews

Am Anfang hast Du noch Fragezeichen an den Rand gestellt. Dann Worte verändert. Dann, Sätze gestrichen, die Du gesagt hattest. So schnell geht das mit der Zensur.

Mit dem Ducken geht es nicht mehr so schnell. Eine Zeitung wird von Menschen gemacht. Die ihre Individualität haben, die Du in unserem Gespräch beschworen hast. Mit ihnen kann man reden, diskutieren. Was aber nicht geht ist: Weisungen erteilen. Ihnen ihre Ideen und Konzeptionen verbieten. Das war einmal die Krankheit dieses Landes. Du sagst: Das ist unsere Zeitung. Und meinst damit das NEUE FORUM und Dich. Meinst Du auch - das sind unsere Redakteure, über die wir verfügen können? Wie früher, als die Partei jeden Satz bestimmte, keine kleine Meldung ohne Rücksprache zuließ?

Zum Dialog sind wir bereit. Aber wir sind nicht bereit, auf unsere Ansichten zu verzichten, wir wollen sie umsetzen.

Verantwortungsvoll und mit Blick auf den Anderen, wohlgemerkt. Ich bitte Dich dringend, uns in unserer Problematik zu sehen. Sonst können wir nicht miteinander arbeiten. Sonst gehen wir davon, und Euch wird fehlen, was wir einzubringen haben.

Uns haben wir einzubringen, und zwar ganz. Ohne Abstriche und Streichungen.

Irina M(...)

Die Andere, Nr. 6, Do. 01.03.1990, Zeitung für basisdemokratische Initiativen im Auftrag des Landessprecherrates des Neuen Forum, herausgegeben von Klaus Wolfram

"Die Andere" am Ende?

Krach bei der Wochenzeitung - Redaktion trat zurück

Es kriselte schon seit Wochen. Gestern kam es dann zum Eklat - zum Bruch der Redaktion der Wochenzeitung "Die Andere" mit ihrem Herausgeber. Somit wird die Nummer 6 des vorerst letzte Ausgabe sein. Redaktion und Klaus Wolfram, der die Zeitung im Auftrag des Landessprecherrates des NEUEN FORUMS herausgibt, wollten anfangs dieselbe Zeitung machen. Aber bereits noch der ersten Ausgabe war klar, dass man eigentlich konträr zueinander stand, jeder eine ANDERE Zeitung machen wollte. JW fragte Chefredakteur Dietmar Halbhuber.

Grund für die Kündigung der kompletten Reaktionsmannschaft war ein unlösbarer Konflikt mit dem Herausgeber, so war zu hören. Was gab's konkret?

Irgendwo waren wir wohl nicht genug Parteiblatt. Wir sollten eine politische Zeitung machen. Aggressiv und kämpferisch. Wir wollten aber nicht Sprachrohr einer Organisation sein. Wir wollten eine Zeitung machen, die unabhängig, hintergründig und aufrichtig sein sollte. Zunehmend gab's dann so was wie Geheimdiplomatie. Hinter dem Rücken der Chefredaktion wurden schon neue Leute gesucht.

Gab es in der Redaktion nicht ein Chefredakteurs-Prinzip, also der Chef und nicht der Herausgeber entscheidet letztlich was in der Zeitung steht?

Wenn der Herausgeber in die Redaktion kam, war er der Chefredakteur. Der Herausgeber ließ auch kaum mit sich diskutieren. was den Inhalt der Zeitung betraf.

Ist der Traum von Basisdemokratie gestorben?

Das Verhältnis zur Basisdemokratie ist durch diese Erfahrung eher nur gewachsen.

*

Wie es nun weitergeht mit "Die Andere" war gestern noch unklar. Herausgeber und Verlag wollen das Flaggschiff auf keinen Fall sausen lassen. Wöchentlich soll die Zeitung 40 000 Mark eingespielt haben. Die alten Redakteure wollen mit einem totalen Neuanfang ihren Traum verwirklichen. Vielleicht wird es demnächst eine andere ANDERE geben. Behutsam, auch mal leise und doch voller Ideale. Schön wär`s.

Roland Kamenz

Junge Welt, Nr. 52, Fr. 02.03.1990

DAS ANDERE LEBEN

Es entspricht nicht den Tatsachen, dass die alte Redaktion vom Beirat bevormundet wurde. Der Beirat trat bisher zweimal zusammen. Dabei wurde die Entwicklung der Zeitung sowohl gelobt als auch konstruktive Kritik geübt. Das ist doch wohl normal. Keine einzige Manuskriptzeile oder auch nur ein Wort wurde je vom Beirat, dem Verlag oder dem Herausgeber geändert.

Es stimmt leider auch nicht, dass der Verlag pro Ausgabe der ANDEREN 40 000 Mark Gewinn gemacht hat. Schön wär's. Richtig ist, daß der Gewinn nach Abzug aller Kosten und Steuern - bei 1 000 bis 2  000 Mark liegen dürfte.

Als Ente erweist sich auch die Meldung, es wären von der ANDEREN pro Ausgabe nur 40 000 Exemplare verkauft worden. Richtig ist, dass der Bedarf in den größeren Städten gar nicht gedeckt werden konnte und jede Ausgabe komplett verkauft ist.

Ausgesprochen dummes Zeug war auch die Nachricht, die Nummer 6 der ANDEREN wäre die setzte gewesen. Sie lesen gerade die Nummer 7 - und ihr werden noch viele, viele ANDERE folgen.

Die Andere, Nr. 7, Do. 08.03.1990, Zeitung für basisdemokratische Initiativen im Auftrag des Landessprecherrates des Neuen Forum, herausgegeben von Klaus Wolfram

Editorial

Die neuen ANDEREN

Wir wollen doch auf dem Teich bleiben: Was ist der kleine Krach in unsrer Zeitung gegen die Erdbeben im Lande. Jeder muss jetzt Krisen bewältigen, wir auch. Ein beschauliches Leben ist uns derzeit nicht vergönnt. Und eine Zeitung zu machen war noch nie eine gemütliche Arbeit.

Als die alte Redaktion überstürzt ihren Hut und nach einiges andere nahm, waren die Räume in der Französischen Straße - so leer und verlassen wie ein Freibad im Winter. Das blieb nicht lange so: die alten Redakteure zogen aus - und schon am nächsten Morgen versammelte sich eine Reihe von Leuten, die helfen wollten. SekretärInnen,- die ihr Wochenende opferten, JournalistInnen verschiedener Zeitungen, GestalterInnen und PhotographInnen. Eine neue Redaktion ist im Entstehen. Wir - die neuen Anderen - fühlen uns den Bürgerbewegungen verpflichtet, weil sie wie wir kritisch und unabhängig sind. Die ANDERE soll den gesellschaftlichen Veränderungsprozess durchschaubar machen und den Blick nicht nur auf den deutschen Bauchnabel richten.

Wir wollen eine Zeitung Für Sie und nicht für uns machen. Deshalb sind wir auf engsten Kontakt mit Ihnen angewiesen. Sie sollen bei uns zu Wort kommen mit Ihren Gedanken, Plänen und Taten.

Die Andere Zeitung, Nr. 7, 08.03.1990, Zeitung für basisdemokratische Initiativen im Auftrag des Landessprecherrates des Neuen Forum, herausgegeben von Klaus Wolfram

Erklärung

Kinder der Demokratie

Die zurückgetretenen Redakteure machten mir zwei Vorwürfe.

Erstens: Ich war zu selten da. Das stimmt.

Zweitens: Ich mischte mich zu viel ein. Wann denn eigentlich? Wir haben gemeinsam DIE ANDERE aufgebaut und ihr einen unabhängigen Geist verschrieben. Streit gab es dann über Temperament und Stil dieses Geistes, nicht über seine Unabhängigkeit. Wie auch anders in den ersten sechs Wochen einer Zeitung? Wie anders in einer Bürgerbewegung? Wie anders in der lebhaftesten deutschen Demokratie seit 70 Jahren?

"Eingriffe wie früher"? Ach, früher konnte man den Herausgeber nicht zum Streit bewegen - er wies seine Meinung einfach an. Früher konnte man einen Streit nicht in die eigene Zeitung tragen. Jetzt, da man ihn endlich führen kann, kann man ihn nicht ertragen und bricht ihn ab. Ein "Nach-Ruf" der Redakteure auf sich selbst will gar noch die Zeitung mit ins Grab nehmen. Der Alptraum von gestern steuerte hier den heutigen Streit ins Nichts. Die Wehrlosigkeit von früher schlägt in Arroganz um. Doch Selbstbezogenheit ist noch keine Selbständigkeit; sie entsteht erst aus Sachbezogenheit.

Eine Demokratie ohne Auseinandersetzung werden wir nicht finden.

Klaus Wolfram,
Herausgeber

Die Andere, Nr. 7, Do. 08.03.1990, Zeitung für basisdemokratische Initiativen im Auftrag des Landessprecherrates des Neuen Forum, herausgegeben von Klaus Wolfram

Nach einem Streit zwischen der Redaktion und dem Redaktionsbeirat schmiss die Redaktion Anfang März 1990 die Brocken hin. Das gesamte Inventar der Redaktionsräume nahm sie mit. Der Redaktionsbeirat warf der Redaktion vor die Zeitung habe zu wenig Biss, sei nicht aktuell genug und sei kulturlastig. Die Redaktion beschwerte sich über Einmischung und die Zeitung sei kein Sprachrohr der Bürgerbewegung. Verschärft wurde die Auseinandersetzung durch den Auflagenrückgang und die prekäre finanzielle Situation in der das Zeitungsprojekt von Anfang an stand. Die Mitarbeiter wurden wochenlang nicht bezahlt und später völlig unzureichend.
Die bisherige Redaktion, die hauptsächlich aus Leuten bestand, die Berufserfahrung hatten, wurde durch eine Redaktion ersetzt, die fast keine Berufserfahrung hatte. Ihr gelang es ohne Unterbrechung die Zeitung weiterzuführen. Später schrieben wieder einige Redakteure der "alten Redaktion" für die andere. Die Neugründung einer anderen ANDEREN durch die alte Redaktion ließ sich nicht realisieren.


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