Gerd Poppe
Studium der Physik an der Universität in Rostock 1959-64. Gerd Poppe (Spitzname Poppoff) arbeitete von 1965-76 im Halbleiterwerk in Stahnsdorf bei Berlin. Unterbrochen durch einen halbjährigen Einzug als Bausoldat 1975.
Da er wegen seines politischen Engagement bei der Obrigkeit unangenehm aufgefallen war, bekam er eine Stelle bei der Akademie der Wissenschaften nicht. Er war sieben Jahre als Maschinist in einer Schwimmhalle und fünf Jahre als Ingenieur im Baubüro des Diakonischen Werkes tätig. Rentner seit 2005.
Nach dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Vertrages in die ČSSR am 21.08.1968 unterzeichnete er eine Protesterklärung.
1969 wurde im die Einreise in die Sowjetunion verweigert. Grund waren seine langen Haare. Protestierte gegen die Ausbürgerung Biermanns mit einem persönlichen Brief an Staatschef Erich Honecker. Autor in den Publikationen "Grenzfall", "Ostkreuz" und "SPUREN". Ab 1980 wurde gegen ihn ein Auslandsreiseverbot verhängt.
Bei den Poppes fanden Lesungen von Autoren, die sonst in der DDR keine Auftrittsmöglichkeiten hatten, statt.
Unterzeichnete einen Offenen Brief von Robert Havemann an Leonid Breschnew vom 20.09.1981.Erstunterzeichner des "Berliner Appells" 1982.
Er beteiligte sich an einem befristeten Fasten in der Erlöserkirche in Berlin vom 06. bis 12.08.1983. Auch wurde ein Brief an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker geschrieben. Sie solidarisierten sich mit Menschen, die in verschiedenen westlichen Ländern, die 06.08.1983 mit einem unbefristeten Fasten für das Leben begannen.
1984 unterschrieb er eine Solidaritätserklärung an die Bundesversammlung der Grünen in Hamburg.
Beteiligte sich an der "Initiative für Blockfreiheit in Europa". Es wurden zum 08. Mai 1985 zwei Offene Briefe geschrieben. Die Unterzeichner aus der DDR schrieben an den Kongress der USA und die Unterzeichner aus der BRD und Westberlin an den Obersten Sowjet der UdSSR. Es wurde u.a. die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone und den Anzug von US- und sowjetischer Truppen in Europa gefordert.
Im Juni 1985 unterzeichnete er die "Antwort auf den Prager Appell". Er gehörte der "Kontaktgruppe Charta '77", die sich 1985 bildete, an.
Unterschrieb im November 1986 das Memorandum "Das Helsinkiabkommen mit wirklichem Leben erfüllen". Unterzeichnete ein Brief von Ludwig Mehlhorn an Erich Honecker vom 01.11.1986. Ihn ihm wird um die Einstellung des Verfahrens gegen Reinhard Lampe ersucht. Reinhard Lampe hatte am 13.08.1986 gegen die Berliner Mauer protestiert.
Nahm an einem Treffen mit CDU/CSU-Politikern in der Berliner Wohnung von Ralf Hirsch im Oktober 1987 teil. Danach schrieb er: "Für unsere Gesellschaft sehen wir den Weg nicht in Richtung eines Parteienpluralismus und parlamentarischer Demokratie nach westlichem Vorbild, sondern notwendig wäre es, den Weg der Demokratisierung zu gehen mit den sich daraus ergebenden Möglichkeiten gesellschaftlicher Selbstverwaltung". Teilnehmer eines Treffens am selben Tag mit Vertretern einer US-amerikanischen Delegation, von Botschaftsangehörigen und dem Korrespondent der Frankfurter Rundschau in der DDR.
Gab zusammen mit Peter Grimm und Reinhard Weißhuhn die Zeitschrift "Fußnote3", Dokumentation zu den Ereignissen um die "Liebknecht-Luxemburg-Demo" 1988 heraus. Mitbegründer des Arbeitskreises Gerechtigkeit 1988. Ihm und seiner Frau wurde 1988 ein einjähriger Studienaufenthalt in England angeboten. Was sie aber ablehnten. Mitherausgener von OSTKREUZ 1989.
Eine Erklärung vom 15.04.1989 unterschrieb er, in der begründet wird, warum er an der Kommunalwahl am 07.05.1989 nicht teilnehmen werde. Von geheimer und freier Wahlen kann nicht die Rede sein. Eigene Kandidaten konnten nicht aufgestellt werden, wird neben anderem als Begründung angeführt.
Er schlug eine gemeinsame Arbeitsgruppe der neuen Kräfte vor, zur Ausarbeitung eines Wahlgesetzes. Die aber wegen der unterschiedlichen Positionen nicht zustande kam.
Mitbegründer der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM). Sprecher der IFM im Herbst 1989. Vertreter der IFM am Zentralen Runden Tisch. Dort leitete er die Arbeitsgruppe Neue Verfassung.
Wolfgang Templin schrieb über ihm: "Als sich Poppe entschloss, zu dem heterogenen Kreis zu stoßen, der zur Gründung der IFM drängte, wurde er zu einem ihr wichtigsten Stabilitätsfaktoren."
In einem Interview 1990 meinte er: "Die Arbeit am Runden Tisch war ein permanenter Stress. Man hatte einen 16-Stunden-Tag". Am Zentralen Runden Tisch meinte er im Januar 1990, es bestehe die einmalige Chance, durch eine neu formulierte Verfassung wie auch durch ein neu formuliertes Wahlgesetz und Parteien- und Vereinigungsgesetz ein Demokratiemodell zu entwickeln, was den historischen Gegebenheiten der DDR entspricht und nicht einfach abgekupfert ist von einem bürgerlichen Parlamentarismus.
Er unterschrieb im November 1989 eine Erklärung, in der die Bevölkerung der DDR gebeten wurde im Land zu bleiben. Er, seine Frau Ulrike und Petra Kelly luden den Dalai Lama am 06.12.1989 nach Berlin ein.
Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Modrow. Delegationsmitglied beim Besuch Hans Modrowsin Bonn 13./14.02.1990 und in Moskau am 06.03.1990. Dort beklagte er die massive westdeutsche Einmischung in den DDR-Wahlkampf. Es bestehe die Gefahr, dass die Wahlen durch die Politiker der BRD entschieden werden. Gegenüber den Gesprächspartnern meinte er, die Bürgerbewegungen in der DDR seien mit großer Mehrheit für die Politik der Entmilitarisierung und Auflösung der Blöcke.
Mitglied in der Volkskammer. Stellvertretender Parlamentarischer Geschäftsführer der Volkskammerfraktion Bündnis 90/Grüne Partei. Er stimmte am 23.08.1990 gegen den Beitritt der DDR zur BRD nach Artikel 23 des Grundgesetzes.
Mitglied im Deutschen Bundestag 1990 bis 1998. Dort in den Ausschüssen Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Ausschuss für Wirtschaft und Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. Saß im parlamentarischen Unterausschuss Menschenrechte. Außenpolitischer Sprecher für Bündnis 90/Die Grünen.
Mitbegründer des "Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder". Mitglied im Deutschen Bundestag 1990 bis 1998. 1992 Aufruf zu einem "Tribunal" zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Mitglied der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" für Bündnis 90/Die Grünen.
Mitunterzeichner eines offenen Briefes von Bündnis 90 an die Friedensbewegung 1992.
Er warb in einer Rede auf der Versammlung im Januar 1993 in Hannover dafür Bündnis 90 mit den Grünen zu vereinen. Stimmte 1993 gegen die Änderung des Asylrechtsparagrafen. Sprach sich im Oktober 1993 auf dem Parteitag in Bonn von Bündnis 90/Die Grünen für einen Militäreinsatz in Ex-Jugoslawien aus. Er zog Parallelen zu der Appeasement-Politik gegenüber Hitler-Deutschland 1939.
Er wandte sich 1994 gegen die Forderung, Bilder von Kommunisten aus der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin zu entfernen. Plädierte 1996 für den Erhalt der NATO unter Einbeziehung Russlands. Befürwortete den NATO-Angriff auf Jugoslawien 1999. Im Jahr 2001 behauptete er, nur eine Minderheit in der DDR-Opposition habe vorrangig das Ziel gehabt den Sozialismus zu verbessern.
Beauftragter für Menschenrechte und humanitäre Fragen der Schröder-Fischer-Regierung November 1998 bis März 2003. Eine Aufgabe, der er sich mit großer Hingabe widmete, die aber wenig sichtbare Anerkennung erfuhr.
Er kritisierte, dass nur für eine Minderheit der westdeutschen Grünen die Menschenrechte in den Staaten des real existierenden Sozialismus ein Thema war. Im Streit um die Veröffentlichung der Stasi-Akten von Helmut Kohl sprach er sich dagegen aus, Teile der Akten zu sperren.
Während des Bausoldatenkongresses im September 2004 meinte er zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan: "Auch die militärische Aufgabe in Afghanistan ist eindeutig Friedensbewahrung. Das war kein Kriegseinsatz, sondern das war ein Einsatz, um nach 20 Jahren Bürgerkrieg nun endlich die kämpfenden Parteien auseinanderzuhalten".(2)
Einen Offenen Brief an Sportlerinnen, Sportler, Verbände und Sponsoren zur Teilnahme an den Olympischen Spielen in China unterschrieb er im April 2008. In im heißt es: "Auch weil sich bereits zwei deutsche Diktaturen mit den Leistungen von Sportlern schmückten, ist die öffentliche Debatte zu diesem Thema notwendig und die Teilnahme an den Spielen in Peking eine Gewissensfrage".
Im Juni 2012 sprach er sich dafür aus, den Platz vor dem Bundesfinanzministerium in Berlin den Namen "Platz des 17. Juni 1953" zu geben. Im Dezember 2014 unterschrieb er eine kritische Antwort auf den Aufruf "Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!".
Einen Aufruf, Norbert Lammert zum nächsten Bundespräsidenten zu wählen unterschrieb er im Oktober 2016. Er unterschrieb den Aufruf, "Schluss mit dem Massenmord in Aleppo!", für eine Kundgebung am 07.12.2016 vor der russischen Botschaft in Berlin.
Er unterschrieb einen Offenen Brief vom 28.06.2019, indem gegen den geplanten Auftritt von Gregor Gysi am 09.10.2019 in der Peterskirche in Leipzig protestiert wird.
In einem Kommentar in der Tagespost schrieb er am 19.07.2019: "Gysi als Festredner am 30. Jahrestag des 9. Oktober: Das kommt einer Verhöhnung der damals unter Gefahren gegen die Diktatur aufbegehrenden Menschen gleich. Soll er reden, wann und wo auch immer: Aber nicht am 9. Oktober 2019, nicht in einer Kirche, nicht in Leipzig, nicht unter dem Motto 'Ode an die Freiheit'!"
Erstunterzeichner der Offene Erklärung vom 18.08.2019 "Nicht mit uns: Gegen den Missbrauch der Friedlichen Revolution 1989 im Wahlkampf", durch die AfD.
Eine Grußadresse an die Demonstranten in Belarus unterschrieb er im September 2020.
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24.02.2022 unterschrieb er die Erklärung "Hisst die ukrainische Flagge überall!"
Anfang Mai 2022 unterschrieb er einen offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz "Die Sache der Ukraine ist auch unsere Sache!".
Nannte 1990 Menschen die ihn beeindrucken Gandhi, Martin Luther King, Robert Havemann, Rudi Dutschke und Petra Kelly. Ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte der DDR-Opposition nannte er die Kombination von so etwas wie DDR-68ern einerseits und christlichen Pazifisten andererseits.
In einem Interview 1990 meinte er zu den verschiedenen Gründungen von Gruppen 1989: "Durch Alleingänge wurden Leute bewusst ausgespart, und so liefen die Dinge nebeneinander her". "Bei der Opposition gab es Übereinstimmung, dass wir etwas eigenes machen wollten, nichts kopieren wollten." "Ich will das, was in der DDR geschehen ist, nicht 'friedliche Revolution' nennen. Das sagen die, die nichts damit zu tun hatten, die seit März Nutznießer sind; alles Quatsch." "Eine Revolution hätte einen zweiten Teil gehabt, wo Ergebnisse formuliert worden wären." (3)
"Unsere Bemühungen waren gegen die Aufrüstung beider Blöcke gerichtet, deshalb wünschten wir die Zusammenarbeit mit jenem Teil der westlichen Friedensbewegung, der sich selbst als blockübergreifend verstand." (4)
25 Jahre später sagte er: "An dieser Stelle sollte etwas zur Verwendung des Begriffs 'DDR-Opposition' gesagt werden. Sie war zahlenmäßig klein, bestand in den 1980er Jahren vermutlich aus weniger als 1 000 Personen, umfasste ein Spektrum von Mitte bis links, von bürgerlich oder christlich bis in Einzelfällen sektiererisch. Einig war sie sich nur selten, am ehesten im Protest gegen die Repression. Deshalb sind Formulierungen, wie sie bei manchen Historikern, Journalisten und Politikern nachzulesen sind, nach dem Muster 'die Opposition in der DDR war für dieses oder gegen jenes' mit allergrößter Skepsis zu betrachten. Gleichwohl haben die Oppositionellen in der friedlichen Revolution eine Vorreiterrolle eingenommen." (5)
Er betrachte Ibrahim Böhme jahrelang als einen Freund. Er und seine Frau lernten ihn 1986 auf einem Friedensseminar in Vipperow kennen. Das MfS erfasste ihn in einer Vielzahl von Operativen Vorgängen. Eine Vielzahl von Spitzeln hatten ihn als ihr Projektarbeit. Er und seine Frau wurden abgehört. Um sie besser bespitzeln zu können erhielten sie einen Telefonanschluss.
Erhielt 1995 das Bundesverdienstkreuz I. Klasse. Anlässlich seines 70. fand im März 2011 eine Diskussionsrunde statt. Mitglied des Stiftungsvorstandes der Bundesstiftung zur Ausarbeitung der SED-Diktatur 1998-2021.
(1) Wolfgang Templin in Ilko-Sascha Kowalczuk, Arno Polzin (Hg.): Fasse dich kurz! Der grenzüberschreitende Telefonverkehr der Opposition in den 1980er Jahren und das Ministerium für Staatssicherheit. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2014, S. 227
(2) Bausoldatenkongress Potsdam 3.-5.09.2004, S. 102
(3) Gerd Poppe in Klemens Semtner: Der Runde Tisch in der DDR, S. 165, tuduv-Studien, Reihe Politikwissenschaften Band 52, 1992
(4) Regina Wick: Die Mauer muss weg – Die DDR soll bleiben, Die Deutschlandpolitik der Grünen von 1970 bis 1990, S. 199
(5) Gerd Poppe in: Eckhard Jesse, Thomas Schubert (Hg.): Friedliche Revolution und Demokratie. Perspektiven nach 25 Jahren, Ch. Links Verlag Berlin 2015, S. 172