Jens-Georg Reich

studierte 1956-1962 Medizin an der HU Berlin. Facharztausbildung für Biochemie 1964-1968 an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. 1964 und 1976 wurde er promoviert. 1964 erhielt er ein Stipendienangebot der Max-Planck-Gesellschaft. Er forschte auf dem Gebiet der mathematischen und der Molekularbiologie. Ernennung zum Professor für Biomathematik 1979. Seit 1986 am Zentralinstitut für Molekularbiologie in Berlin-Buch tätig. Dort Leiter der Abteilung für mathematische Biologie. Arbeitete 1974 und 1979 an der sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Puschtschino. Seit 1990 Abteilungsleiter für Molekularbiologie am Zentralinstitut für Molekularbiologie (heute Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin). Bis 2005 Leiter der Bio-Informatik am Max-Delbrück-Centrum. Arbeitete im Rahmen seiner Forschungen auch in Heidelberg 1992 und 1993. 1998 wurde er an die Humboldt-Universität zu Berlin als Prof. berufen. Ombudsmann an der Charité in Berlin.

Er lehnte den Eintritt in eine Blockpartei ab. In einem "Dienstgespräch" wurde er aufgefordert seine Westkontakte zu Freunden und Bekannten in der BRD abzubrechen. Er lehnte mit der Begründung ab, dass es ihm unlogisch erscheint, wenn zur gleichen Zeit Honecker mit Strauß über friedliche Koexistenz parliere. (1) Wurde als Leiter abberufen und durfte keine Westreisen machen. Er war Mitbegründer und Teilnehmer des privaten "Freitagskreises", intern auch wenig respektierlich "Quasselklub" genannt. Mitarbeiter im Kreis "Ärzte in sozialer Verantwortung". Schrieb unter dem Pseudonym "Asperger" in "Lettre International".

Mitbegründer des Neuen Forum. Seinen handschriftlichen Entwurf für die Vereinigung vernichtete er Tage später, da er eine Verhaftung befürchtete. Er schrieb vorsorglich zwei Vollmachten für die Rechtsanwälte Lothar de Maizière und Gregor Gysi aus. Erfasst wurde er in der Operative Personenkontrolle "Arm" des MfS.

Für englisch und französisch sprechenden Journalisten war er der erste Ansprechpartner im Neuen Forum.

Wegen seiner Neigung, zur kompromissbereiten Abwägung auch des gegnerischen Standpunktes hielt er sich für nicht geeignet, Delegierter des Neuen Forums am Zentralen Runden Tisch zu sein. Er war für energische Kämpfer, wie Ingrid Köppe, Rolf Henrich und Reinhard Schult. (2)

Mitglied des Landessprecherrates des Neuen Forum. März-Oktober 1990 Abgeordneter in der Volkskammer und Fraktionssprecher von Bündnis 90 und Grüner Partei. Mitglied im Gesundheitsausschuss.

Am 26.10.1989 trafen er und Sebastian Pflugbeil sich mit dem damaligen SED-Bezirkssekretär von Berlin Günter Schaboswki zu einer Unterredung. Die Solidarność lud ihn und andere DDR-Oppositionelle zu Gesprächen am 03.01.1990 nach Warschau ein.

Lehnte das Angebot, auf einen Listenplatz der Grünen in NRW für die Bundestagswahl 1990 zu kandidieren, ab.

Mitglied im Redaktionsbeirat und zeitweilig Mitherausgeber der Zeitung "Die Andere" (Berlin). Von Juni 1990 bis März 1991 Vorsitzender des Komitees "Ärzte der DDR zur Verhütung eines Nuklearkrieges" - die offizielle IPPNW. Musste 1991 aufgrund eines Gerichtsbeschlusses seine Tätigkeit als Beauftragter der Berliner Ärztekammer für ärztliche Friedensarbeit einstellen.

Er erklärte sich 1992 bereit, eine Woche Gefängnis anstelle Klaus Wolfram abzusitzen, der wegen der Veröffentlichung der "Stasigehaltsliste" in der Zeitung "die andere" als presserechtlicher Verantwortlicher zu 200 000 DM, ersatzweise 1 000 Tage Gefängnis verurteilt wurde.

Im November 1993 unterschrieb er einen Appell in dem Entschädigungszahlungen an Ghetto- und KZ-Häftlinge aus Estland, Lettland und Litauen gefordert wird.

1994 meinte er, die Natur betreibe schon seit Milliarden Jahren Gentransfer und Genmanipulation, und wir überschreiten keineswegs eine heilige Grenze, wenn wir es ihr nachtun. (3)

Eine Initiative von Bürgern aus dem Westen überzeugte ihn im Mai 1994 für das Bundespräsidentenamt zu kandidieren. Passend dazu gab es einen Verein mit dem Namen "Jens Reich e. V."

In einem Interview Anfang Oktober 2014 sagte er: "Diese Technik, gezielt Erbinformationen zu manipulieren, das ist eine Revolution, die derzeit in Zehntausenden Labors weltweit stattfindet. Das wird bald intensiv in das Leben der Menschen eingreifen". Und: "Verglichen mit diesen demiurgischen Aktivitäten, mit diesen Eingriffen in die Grundgesetze des Lebens, ist das, was in der Ukraine passiert, ein Feierabendspaziergang. Ich kann da nur bedauern, dass ich alt bin und das nicht mehr miterleben werde. Das ist Faszination und Befürchtung zu gleich". (4)

Im Juni 1997 warf er dem damaligen Bundespräsidenten Herzog vor, er propagiere einen Wettbewerb in dem nur derjenige gewinnen könne, der am schnellsten, umfassendsten, und skrupellosesten Umwelt und Menschen ausbeute. (5) Im Februar 1998 unterschrieb er einen Aufruf gegen den Krieg gegen die Zivilbevölkerung in Algerien.

Im Februar 1997 schrieb er in einem Zeitungsartikel: "Pointiert gefragt: Warum gibt es zwar eine Notstandsgesetzgebung für den militärischen Gefahrenfall, aber keine für die schleichende soziale und die ökologische Krise, die unsere Zukunft gefährdet? Die überlebensnotwendige Umgestaltung der Industriegesellschaft auf langfristige Naturverträglichkeit war dem Verfassungsausschuss der letzten Legislaturperiode gerade einmal der verlegen platzierte kurze Artikel 20a wert. In die Grundrechte passen die natürlichen Lebensgrundlagen angeblich nicht, weil sie nicht individuell zuweisbar und einklagbar sind. So wurde ein verklemmt formuliertes Staatsziel daraus, dessen befürchtete Brisanz durch gleich zwei Einschränkungen ('im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung' und 'nach Maßgabe von Gesetz und Recht') gefesselt wurde. Damit ja nichts damit angestellt wird - so lese ich den Artikel 20a. Der Kontrast zwischen der wortkargen Ausgestaltung dieses Artikels und der detaillierten Behandlung des Verfassungsgerichts zeigt deutlich den geringen Stellenwert der Gefahren der Zukunft im Vergleich zu den Reibereien der Gegenwart." (6)

Auf einer Veranstaltung im November 2016 sagte er, wenn er Bundespräsident geworden wäre, hätte er nach kurzer Zeit zurücktreten müssen. Er hätte bei dem Besuch des chinesischen Präsidenten sich geweigert im die Hand zu schütteln.

Er unterschrieb den Aufruf, "Schluss mit dem Massenmord in Aleppo!", für eine Kundgebung am 07.12.2016 vor der russischen Botschaft in Berlin.

Mitbegründer der "Robert Havemann Gesellschaft" dessen Beirat er angehört. 1997 Mitbegründer den "Willy-Brandt-Kreis" in Berlin. Er stellte einen Antrag auf Akteneinsicht bei der CIA und NSA nach dem "Freedom of Information Act" und dem "Privacy Act" über ihn gespeicherte Berichte.

Er unterschrieb einen Offenen Brief vom 28.06.2019, indem gegen den geplanten Auftritt von Gregor Gysi am 09.10.2019 in der Peterskirche in Leipzig protestiert wird.

Rückblickend meinte er 1999, die revolutionäre Stimmung des Volkes und seiner Bürgervertreter war auf den Feierabend konzentriert. Die Bürgergruppen trafen sich abends und diskutierten bis nach Mitternacht.

Zur möglichen Regierungsübernahme durch die Opposition meinte er, "wir wäre zu lächerlichen Chaoten geworden, wenn wir das trotzdem versucht hätten. Die Apparate eines Staates von 15 Millionen Einwohnern hätten uns entweder benutzt oder leerlaufen lassen".

"Ich habe stets unter der geistigen Enge der DDR gelitten - die materielle Knappheit war mir weniger drückend". Über die Eliten in den realsozialistischen Ländern meinte er, ihnen sei bewusst gewesen, dass die Länder wirtschaftlich nicht mehr konkurrenzfähig waren und sie richteten ihre Anstrengungen darauf sich gute Grundlagen im neuen System zu sichern. So waren am Ende alle für das Ende des Sozialismus.

Wir, die DDR-Bevölkerung seinen zu lange ruhig geblieben. Diese eingeübte Zurückhaltung in der DDR habe nach 1990 wesentlich zur Lethargie und Verdrossenheit beigetragen, nachdem nach dem wilden Herbst der neue Alltag im vereinten Deutschland einkehrte, meinte er 2000. (7)

In der Wochenzeitung "Die Zeit" schrieb er: "Unter den ungefähr vierzig Aktivisten des Runden Tisches gibt es einige politische Figuren von großer Überzeugungskraft und Talent, Ingrid Köppe etwa oder Wolfgang Ullmann." (8)

Der 13. August 1961 sei der schlimmste Tag in seinem Leben gewesen, sagte er auf einer Veranstaltung im November 2016.

Er war Mitglied im nationalen Ethikrat. Mitglied im Kuratorium der Deutschen Gesellschaft e. V. und der Historischen Kommission am Campus Berlin-Buch.

Er erhielt 1991 den Theodor-Heuss-Preis in Form einer Medaille. 1993 Anna-Krüger-Preis des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Am 9. Oktober 1995 erhielt er in Leipzig das Bundesverdienstkreuz. 1996 die Lorenz-Oken-Medaille. Träger des "Nobelpreises für Volksbildung" (Urania-Medaille) 1998. Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Preis der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und des Stiftungsverbundes für die Deutsche Wissenschaft 2009. Schillerpreis 2009. Am 02.10.2019 wurde im der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen.

(1) Jens Reich in: Andrea Pabst, Catharina Schultheiß, Peter Bohley (Hrsg.): Wir sind das Volk?, Ostdeutsche Bürgerrechtsbewegungen und die Wende, Attempto Verlag 2001, S. 42
(2) Jens Reich in Die Zeit, Nr. 50, 09.12.1994
(3) die tageszeitung, 11.04.1994
(4) Berliner Zeitung, 04./05.10.2014
(5) die tageszeitung, 30.06.1997
(6) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.02.1997
(7) Jens Reich in: Andrea Pabst, Catharina Schultheiß, Peter Bohley (Hrsg.): Wir sind das Volk?, Ostdeutsche Bürgerrechtsbewegungen und die Wende, Attempto Verlag 2001, S. 39
(8) Die Zeit, 09.12.1994

Link

Rede von Jens-Georg Reich am 04.11.1989 auf dem Alexanderplatz

Δ nach oben