Werner Schulz
Der aus Zwickau stammende Werner Schulz lernte Lokomotivschlosser mit Abitur. Studierte von 1968-72 Lebensmittelchemie und -technologie an der Humboldt-Universität Berlin. Wissenschaftlicher Assistent an der Humboldt-Universität 1974 bis 1980. In dieser Zeit war er Bausoldat von 1976 bis 1978.
Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages in die ČSSR 1968 sollte er eine Erklärung unterschreiben, die das begrüßte. Zunächst weigerte er sich, was eine Exmatrikulation bedeutet hätte. Auf Anraten seiner Mutter, an seine Zukunft zu denken, unterschrieb er dann doch.
Nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Afghanistan 1979 verweigerte er eine Unterschrift unter eine Erklärung, die den Einmarsch begrüßte. Er wurde als wissenschaftlicher Assistent der Humboldt-Universität entlassen. Leiter des Bereichs Umwelthygiene in der Kreishygieneinspektion Berlin-Lichtenberg 1988-89.
Mitbegründer des Friedenskreis Berlin-Pankow im Oktober 1981. Nach Werner Schulz Angabe waren 38 IMs im Friedenskreis.
Er nahm an der verhinderten Gründung des Demokratischen Aufbruchs am 01.10.1989 im Gemeindehaus der Kirche Alt-Pankow teil.
Er hielt die SDP-Gründung für einen großen Fehler. Sie sei eine Provokation gegenüber der SED. Die Gefahr bestehe der SED ins offene Messer zu laufen. Außerdem befürchte er die Spaltung der Opposition. (1)
Werner Schulz schloss sich dem Neuen Forum an. Der gebürtige Zwickauer, der seit 1968 in Berlin lebte, wurde als Verbindungsmann vom Neuen Forum nach Leipzig geschickt.
Nachdem er am Abend des 09.11.1989 von der Öffnung der Grenze an der Bornholmer Straße in Berlin hörte, ging er zusammen mit seiner Frau rüber in den Berliner Bezirk Wedding. Dort dachte er, es sei eine Falle und sie könnten nicht mehr zurück. Sie gingen dann wieder zurück.
Vertreter des Neuen Forums am Zentralen Runden Tisch. Dort fragte er die Vertreterin des Unabhängigen Frauenverbandes nach Einbringung eines Antrages, der die Forderung erhob die ersten vier Plätze einer Wahlliste zur Hälfte mit Frauen und Männern zu besetzen, ob "sie sich damit selbst von der Wahl ausschließen oder sind sie sich sicher, dass sie das auch erfüllen, realisieren können?".
Er arbeitete im Verfassungsausschuss des Zentralen Runden Tisches mit, in dem ein Verfassungsentwurf für die DDR erarbeitet wurde.
Nachdem die Regierung Modrow im Februar 1990 aus Bonn mit leeren Händen zurückkam, meinte er: "Wir haben auch etwas einzubringen. Wir sind nicht der kleine Michel".
Zu den Auftritten westdeutscher Redner während des DDR-Wahlkampfes meinte er: der Einsatz bundesdeutscher Gastredner verletze die Chancengleichheit der Parteien und verdecke gegenüber dem DDR-Wähler das tatsächliche Niveau der DDR-Parteien.
Abgeordneter in der Volkskammer. Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Grüne. Er nannte die Privatisierung in der DDR eine Enteignung der Bürger in einem ungeheuerlichen Ausmaß. Er kritisierte im September 1990 den Vereinigungsvertrag. Er bedauerte, dass im Zuge der Einheit die Gelegenheit zu einer neuen Verfassung und Nationalhymne nicht genutzt wurde. (2)
Von der Volkskammer wurde er am 28.09.1990 bis zur gesamtdeutschen Wahl am 02.12.1990 in den Bundestag gewählt.
Gründungsmitglied des Bündnis 90. Verhandlungsführer von Bündnis 90 bei den Vereinigungsverhandlungen mit den West-Grünen.
Werner Schulz forderte 1992 den Rücktritt von brandenburgs Ministerpräsidenten Manfred Stolpe nach den gegen ihn erhobenen Stasi-Vorwürfen. Unterschrieb 1992 einen Offenen Brief an die Friedensbewegung, in der das "Prinzip der Einmischung" vertreten wird.
Er wurde von Bündnis 90/Die Grünen in den 2. Untersuchungsausschuss - Bundestagsbeschluss vom 30.09.1993 - zur Treuhandanstalt entsandt. Dort hatte er ein Frage- und Antragsrecht, jedoch kein Stimmrecht.
Im Deutschen Bundestag sagte er am 21.09.1994 während der Debatte über "Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses 'Treuhandanstalt'": "Die durch die Treuhand verursachten finanziellen Schäden stellen die durch das organisierte Verbrechen entstandenen Schäden in den Schatten. Im Verhältnis zu dieser Vermögensschleuder Treuhand sind die Anlagen zur Geldwäsche Kleingeld."
Sprach sich 1994 vor der Landtagswahl in Sachsen dafür aus, auszuloten ob ein Bündnis mit der CDU nach der Wahl möglich sei. Er wandte 1995 sich gegen ein "Lex PDS", wodurch der Einzug der PDS in den Bundestag über drei Direktmandate verhindern werden sollte. Nach dem Übertritt mehrerer DDR-Oppositioneller in die CDU 1996 nannte er das Bürgerbüro ein CDU-Akquirierungsbüro. Dieses Büro zeigt doch, dass der Anspruch, den Opfern zu helfen, missbraucht, ja beschädigt wurde. (3)
Mitunterzeichner eines Offenen Briefes am 18.12.1996 an Vera Lengsfeld nach dessen Übertritt zur CDU, worin diese gefragt wird, "Hast Du alles vergessen, Vera?".
Kandidierte für das Bürgermeisteramt 1998 in Leipzig. Mitglied im Bundestag von 1990 bis September 2005. Dort parlamentarischer Geschäftsführer von Bündnis90/Die Grünen bis 1998. Wirtschaftspolitischer Sprecher und Sprecher für die Angelegenheiten der Neuen Bundesländer ab 1998. Mitglied im Ältestenrat.
Nannte 1998 Bündnis 90/Die Grünen eine Westpartei. Unterlag 1998 Rezzo Schlauch bei der Wahl zum Sprecher der Bundestagsfraktion. Danach meinte er: "Personalpolitik nach der Methode Fischer, das heißt Personalplanung wie bei der FDJ". Fischer nannte er "zu eigensinnig, stur und ein Polarisierer". Er kritisierte Jürgen Trittin wegen seines Protestes gegen ein öffentliches Gelöbnis der Bundeswehr. Im Jahr 2000 unterschrieb er einen Brief, in den den Grünen ein mangelndes Engagement im Osten vorgeworfen wurde. 2001 sprach er sich für den Einmarsch der Bundeswehr in Afghanistan aus.
In einem Interview im Tagesspiegel sagte er am 18.01.2002: "Als langjähriger Gegner der SED verstehe ich besser als viele andere in meiner Partei, wie man die PDS bekämpft".
Einen "Piratenakt Schilys" nannte er im Dezember 2004 den Ressort-Wechsel der Stasi-Behörde vom Innenministerium zum Kulturministerium. (4) Zur Ankündigung der Auflösung des Bundestages durch den SPD-Parteivorsitzenden Müntefering im Mai 2005 meinte er: "Das ist Harakiri mit Terminankündigung, absurder geht es einfach nicht". (5) Im Juni 2005 gelang es ihm nicht in Berlin eine der vorderen Listenplätze von Bündnis 90/Die Grünen für die Bundestagswahl im Herbst 2005 zu belegen.
Das Stimmverhalten bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage Bundeskanzler Schröders am 01.07.05 verglich er mit den Abstimmungen in der DDR-Volkskammer. Er forderte den Bundeskanzler zum Rücktritt auf. Vor dem Bundesverfassungsgericht klagte er gegen die Auflösung des Bundestages. Kritiker werfen ihm vor, dass Wahlkampfplakate mit seinem Konterfei schon Wochen vor seiner Wahl zum Direktkandidaten in Berlin-Pankow gedruckt wurden.
Die neue Linkspartei PDS-ML (PDS mit Lafontaine) zu nennen war sein Schlichtungsvorschlag im Namensstreit zwischen PDS und WSAG. Im Juli 2007 unterzeichnete er einen offenen Brief an die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, wo gegen die Zusammenarbeit der Stiftung mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung protestiert wird.
Einen Offenen Brief an Sportlerinnen, Sportler, Verbände und Sponsoren zur Teilnahme an den Olympischen Spielen in China unterschrieb er im April 2008. In im heißt es: "Auch weil sich bereits zwei deutsche Diktaturen mit den Leistungen von Sportlern schmückten, ist die öffentliche Debatte zu diesem Thema notwendig und die Teilnahme an den Spielen in Peking eine Gewissensfrage".
Im Juni 2009 wurde er für Bündnis 90/Die Grünen in das Europaparlament gewählt. 2014 kandidierte er nicht mehr für das EU-Parlament. Mitglied im Kooperationsausschuss EU-Russland und im Auswärtigen Ausschuss.
2009 sagte er in einer Rede in Leipzig: "Wir brauchen kein in Stein gemeißeltes Freiheits- und Einheitsdenkmal. Statt einer Kunstinstallation sollten wir lieber die authentischen Orte bewahren und als Gedenk- und Begegnungsstätten pflegen." (6)
Im Juni 2010 unterstützte er Joachim Gaucks Kandidatur für das Bundespräsidentenamt. Im Juli 2011 appellierte er an die "Werkstatt Deutschland" von einer beabsichtigten Preisverleihung an russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin abzusehen. Er nannte die beabsichtigte Preisverleihung "... ein Hohn und ein politischer Missgriff erster Güte". (7) Im Zuge der Diskussion 2012, ob Joachim Gauck sich DDR-Bürgerrechtler nennen lassen darf oder nicht, meinte er, Wolfgang Thierse dürfe sich nicht Bürgerrechtler nennen lassen, da er erst aufgestanden sei, als im November 1989 die Gefahr schon vorüber gewesen sei. (8)
Im April 2012 warf er der ukrainischen Regierung die Veranstaltung von Schauprozessen vor. Der gegen die frühere Regierungschefin und andere ehemalige Regierungsmitglieder angewandte Paragraf sei vom stalinistischen Geist geprägt. Im Juni, während der Fußballeuropameisterschaft entrollte er in Charkiw ein Transparent, auf dem Freiheit für alle politischen Gefangenen in der Ukraine gefordert wurde. In Charkiw besuchte er auch die frühere inhaftierte Ministerpräsidentin Timoschenko. Er nannte sie "unglaublich tapfer" und ihre Überwachung "Psychoterror". (9)
Im selben Monat kritisierte er die Verschärfung des Demonstrationsrechts in Russland. Das Gesetz nannte er "ein direkter Schritt in den Polizeistaat" (10). Anfang 2013 schrieb er an den russischen Präsidenten Putin einen Brief, auf den er keine Antwort erhielt, indem er sich für die Freilassung der zwei inhaftierten Pussy Riot Mitglieder einsetzte.
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24.02.2022 unterschrieb er die Erklärung "Hisst die ukrainische Flagge überall!"
Nach der Bundestags- und der Landtagswahl 2013 plädierte er dafür "Schwarz-Grüne" Koalitionen auszuloten. Von der Grünen Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt, für deren Aufstellung er gestimmt hatte, zeigte er sich enttäuscht. Grund ist, sie habe seiner Ansicht nach sich nicht genug um die Stimmen aus dem "konservativen Milieu" bemüht. (11)
In einem Interview am 28.01.1990 meinte er, die Bundesregierung solle sich von dem Schröderkurs gegenüber Russland, Annäherung durch Anbiederung verabschieden. Mit Putin müsse Tacheles geredet werden. (12)
Im September 2014 warnnte er Bündnis 90/Die Grünen davor, ihr Erbe als Bürgerrechtspartei mit der Wahl eines linken Ministerpräsidenten in Thüringen zu beschädigen und zu verscherbeln. Im Dezember 2014 unterschrieb er eine kritische Antwort auf den Aufruf "Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!".
Im Oktober 2015 unterschrieb er einen Offenen Brief, der mit den Worten beginnt: "Sehr geehrte Frau Dr. Merkel, wir unterstützen Ihre Politik der offenen Grenzen. Wir unterstützen Ihre Flüchtlingspolitik und Ihren Einsatz um der Menschen willen. Mit größtem Respekt sehen wir Ihre feste Haltung zur Aufnahmeasylsuchender Flüchtlinge bei uns in Deutschland." Er unterschrieb eine Gemeinsame Erklärung zu Chemnitz vom 05.09.2018.
Er unterschrieb einen Offenen Brief vom 28.06.2019, indem gegen den geplanten Auftritt von Gregor Gysi am 09.10.2019 in der Peterskirche in Leipzig protestiert wird.
Er kritisierte die Grünen im Europaparlament dafür, dass sie am 16.07.2019 bei der Wahl von Ursula von der Leyen zur Präsidentin der EU-Kommission nicht mit Ja stimmten.
Erstunterzeichner der Offene Erklärung vom 18.08.2019 "Nicht mit uns: Gegen den Missbrauch der Friedlichen Revolution 1989 im Wahlkampf", durch die AfD.
Laut Werner Schulz stammt die Demonstrationsparole "Wir sind das Volk" aus dem Gedicht "Trotz Alledem" von Ferdinand Freiligrath und "Wir sind ein Volk" wurde von den Demonstranten gerufen, um Außenstehende zum Mitmachen zu bewegen.
"Ursprünglich gab es unter den Oppositionsgruppen die Absprache, unter dem Begriff 'Demokratischer Aufbruch' eine eigene Wahlliste für die geplante Volkskammerwahl aufzustellen, die 1990 unter UNO-Aufsicht stattfinden sollte. Daraus hat sich später Bündnis 90 entwickelt", schrieb er 2009. (13)
Mitglied des Kuratoriums der Stiftung "Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland". Seit 2009 Kuratoriumsmitglied bei der Stiftung Friedliche Revolution. Er unterstützt die Initiative zur Errichtung eines Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit in Leipzig.
Am 14.06.2022 erhielt der den Deutschen Nationalpreis. Die Laudatio hielt Joachim Gauck.
Der am 22.01.1950 in Zwickau geborene Werner Schulz starb am 09.11.2022 in Berlin. Auf den Tag genau, einen Monat später findet eine Trauerfeier in der Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg statt.
(1) Sturm, Daniel Friedrich: Uneinig in der Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90. Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH, 2006, S. 123
(2) Werner Schulz in Friedliche Revolution und deutsche Einheit, Sächsische Bürgerrechtler ziehen Bilanz
(3) die tageszeitung, Interview 19.12.1996
(4) Berliner Zeitung, 04./05.12.2004
(5) Der Tagesspiegel, 24.05.2005
(6) Werner Schulz in seiner Rede zum 20. Jahrestag in Leipzig
(7) Der Tagesspiegel, 12.07.2011
(8) Der Tagesspiegel, 25.02.2012
(9) Berliner Zeitung, 15.06.2012
(10) Der Tagesspiegel, 07.06.2012
(11) Werner Schulz auf Phoenix, 26.09.2013
(12) Werner Schulz im inforadio des rbb, 28.01.2014
(13) Werner Schulz in Eckart Conze, Katharina Gajdukowa, Sigrid Koch-Baumgarten (Hrsg.): Die demokratische Revolution 1989 in der DDR, Böhlau Verlag 2009 , S. 109
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Werner Schulz, Gespräch über die Bürgerbewegung 09.02.1990
Rede zur Treuhandanstalt im Deutschen Bundestag 04.03.1994
Rede zur Treuhandanstalt im Deutschen Bundestag 21.09.1994