Rückblick vor der Währungsunion
Am 1. Juli kommt die D-Mark. Wie fühlen Sie sich kurz vor diesem Datum?
Mit dem Stichtag verbinden sich für mich, ich muss es offen gestehen, sehr zwiespältige Gefühle. Zum einen bin ich sicher, dass für die DDR-Bürger, und somit auch für mich, eine ganze Reihe von Alltagsproblemen, die uns in den letzten Jahren, um nicht zu sagen, Jahrzehnten, Sorgen gemacht haben, ziemlich schlagartig gelöst werden. Wir werden freie Konsumenten sein können mit der freien Entscheidungsmöglichkeit, wann wir etwas kaufen wollen, was wir kaufen wollen, zu welchen Bedingungen wir es kaufen wollen. Vorausgesetzt ist natürlich immer, dass die DDR-Bürger ein Einkommen haben, das es ihnen gestattet, diesen Zugriff zu machen. Aber ich gehe einmal davon aus, weil ich mir angewöhnt habe, nicht immer nur die Schattenseiten zu beschreiben, sondern auch das, was für uns eine Chance sein kann. Es wird uns in der DDR sicherlich, davon bin ich als Ökonom überzeugt, mit der Verwendung der D-Mark als offiziellem Zahlungsmittel leichter möglich sein als manchem an deren osteuropäischen Land, die Inflationsgefahren zu bannen. Es wird möglich sein, im Unterschied zu anderen osteuropäischen Ländern, die diesen Reformprozess gegenwärtig durchmachen oder noch vor ihm stehen, die Kaufkraft der Währung zu erhalten. Für kreative, initiativreiche Menschen werden sich Chancen auftun, wir werden Existenzgründungen erleben, wie sie die Generation, zu der ich gehöre, in diesem Land bisher nicht erleben konnte. Das alles und manches andere sind zweifellos gute Aussichten.
Aber?
Aber ich darf nicht versäumen zu sagen, was ich sehr wohl auch sehe: dass eine Reihe von Unsicherheiten und Unwägbarkeiten vor uns steht, mit denen wir noch nicht umzugehen gelernt haben. Die Einführung der D-Mark ist damit verbunden, dass die DDR auf eine eigene Währung verzichtet. Damit verzichtet sie aber auch auf den Schutzschild oder den Puffer, den andere produktivitätsschwache Länder haben, um die Wirtschaft durch Verbilligung ihrer Währung wettbewerbsfähiger zu machen und sich überlegener Konkurrenten zu erwehren. Somit kommt ein Schock auf unsere Wirtschaft zu, auf Industrie und Landwirtschaft, der zur Folge hat, dass viele Arbeitsplätze verloren gehen. Wir werden um eine zeitweilige strukturelle Arbeitslosigkeit nicht herumkommen. Sie hat schon begonnen, und die Zahlen haben sich in den letzten Wochen gegenüber April bereits verdoppelt. Ich erinnere mich, im November, als ich kurzfristig gebeten wurde, in der Regierung mitzuarbeiten, hatte auch ich persönlich noch die Überzeugung, dass es gelingen würde, eine Wirtschaft zu entwickeln, die ohne einen Wohnungs- und ohne einen Arbeitskräftemarkt auskommt. Mir wurde in den nächsten Wochen dann klar, dass das mit der Philosophie der Marktwirtschaft nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.
Sicher, soviel steht fest, ist zur Zeit nur die Unsicherheit Welche Möglichkeiten gibt es, der entgegenzuwirken?
Als Parlamentarier ringe ich natürlich darum, dass es nicht zu einer ständigen oder langanhaltenden Arbeitslosigkeit für Hunderttausende oder gar, mitunter sind ja auch solche Ziffern im Gespräch, für Millionen Menschen kommt. Und wenn ich sage, ich ringe darum, dann geht es mir darum, dass Arbeitsförderungsprogramme nun schnell zum Greifen kommen, dass die Arbeitslosenversicherung hoffentlich finanziell ausreichend abgesichert ist, wenngleich ich auch der Meinung bin, die Aussicht auf eine erkleckliche Arbeitslosenunterstützung darf für die Vielzahl der betroffenen Bürger nicht ein Trost sein, dies darf nur eine Übergangslösung sein, so dass Arbeitsförderungsprogramme, Umschulungsprogramme in meinen Überlegungen die Priorität haben.
Ich hab in der Regierung Modrow sicherlich mit zu den ersten gehört, die davon gesprochen haben, dass wir die Wirtschaft nur effizienter machen können, wenn wir sie auf marktwirtschaftlicher Grundlage entwickeln. Ich habe damals die Überzeugung gehabt, und die will ich auch nicht verlieren, dass die Marktwirtschaft ein Wirtschaftstyp ist. Die Wirtschaft kann ohne Wettbewerb, ohne freie Preisbildung, ohne Unternehmertum, auch ohne einen großen Anteil Privateigentum, das Kreativität hervorbringt und Motivation, nicht entwickelt werden. Aber die Marktwirtschaft soll bitte nicht ein Regulativ werden für die Gesellschaft überhaupt. Das heißt, wenn wir Kunst und Kultur, Gesundheitswesen, Bildungswesen, Sport, Grundlagenforschung, das sind nur einige Bereiche, die mir jetzt auf den Schlag einfallen, durchgängig kommerzialisieren würden, dann würden wir unter der Praxis bleiben, die eine Reihe hochentwickelter nord- und westeuropäischer Länder bereits hat. Es muss einen staatseigenen Sektor geben, der für nicht marktwirtschaftliche Zwecke, für nicht-profitgebundene Zwecke ein Aufkommen an Geld produziert.
Gehen wir einmal zum Beginn Ihrer Amtszeit zurück. Sie (und damit meine ich auch die Regierung, der Sie angehörten und die Partei, der Sie angehören), mussten während einiger Monate Ihre Ansichten über die Entwicklungsmöglichkeiten der DDR-Wirtschaft mehrmals und in ziemlichem Tempo ändern. Hatten Sie überhaupt Handlungsspielraum?
Ich hatte zwar nicht an der Regierungserklärung mitgeschrieben, sie war im Grunde fertig, als man mich fragte, ob ich bereit sei, diese Erklärung mitzutragen. Ich war bereit. Vor allen Dingen auch den Teil mitzutragen, der dort zur Wirtschaft formuliert war. Damals hieß es noch, die DDR-Regierung wird zusammen mit dem Parlament eine marktorientierte Planwirtschaft durchsetzen. Damit sollte schon zum Ausdruck gebracht werden, wir wollten ganz bewusst die Produktion auf die tatsächliche Nachfrage ausrichten. Aber dieses "orientiert" war immer noch so eine Unsicherheit: Wie weit werden wir in Bezug auf die Markterfordernisse gehen? Ich sage Ihnen ehrlich, nach sechs Wochen allerspätestens war klar, dass mit ein bisschen Pflaster hier und Pflaster dort und "weiter vervollkommnen" nichts auszurichten war. Es bedurfte schon eines qualitativen Einschnitts. Zu dieser Erkenntnis sind wir sicherlich relativ schnell durch die großen Übersiedlerzahlen gekommen. Die Suche nach etwas, was die DDR-Bürger akzeptieren konnten, musste beschleunigt werden. Und Mitte Dezember war das Konzept dann: Wir wollen kompromisslos eine soziale Marktwirtschaft mit Ökologischer Orientierung ansteuern. Aber bis ins letzte klar, was das bedeutet, war uns das damals nicht. Weil man Marktwirtschaft nicht unter Trockenbedingungen lernen kann und auch nicht aus Lehrbüchern.
Ich erinnere mich an Ihr Treffen mit den Wirtschaftskapitänen der BRD. 30 Männer des Kapitals und eine Frau. Das war schon ein beeindruckendes Bild. Äußerlich machten Sie damals einen sicheren und kompetenten Eindruck. Aber ich kann mir vorstellen der Schein trog. Hinter diesen Herren stand ein Kapital von Milliarden, hinter Ihnen eine desolate Wirtschaft. Haben Sie sich damals auf verlorenem Pasten gefühlt?
Also ich kann sagen, in der ganzen Zeit, die ich in der Regierung mitgewirkt habe und in der ich sowohl viel mit Journalisten als auch mit Industriekapitänen zu tun hatte geschauspielert habe ich eigentlich nie. Das könnte ich wahrscheinlich auch gar nicht. Wo ich gar Lücken habe, kann ich sie auch mit Schauspielerei nicht überbrücken. Aber ich will zugeben, ich hatte damals auch physisch und psychisch einen ganz besonders guten Tag, es hat mir selber Spaß gemacht. Ich hatte mich zu diesem neuen Konzept durchgerungen, und insofern war es auch wichtig zu merken, wie dieses Konzept ankommt. Dass ein Herr Hahn vom Volkswagenwerk, ein Herr Ruhnau von Lufthansa, ein Herr Pieper von Salzgitter meinte, ja, wenn dieses Konzept in die Praxis überführt werden könnte, dann wäre die DDR schon auf einem richtigen Wege und dann würde das auch das Kapital anziehen, du gab mir damals auch Sicherheit. Und diese drei Herren haben bereits in der damaligen Zeit schon - trotz eines Joint-Venture-Gesetzes, von dem man immer sagte, es sei halbherzig mit den 49 Prozent Beteiligung an größeren Objekten (für kleinere war ja ohnehin keine Beteiligungsgrenze festgelegt, man hat das bloß nicht so gern über die Medien gebracht) Geschäfte gemacht. Da ist vieles ins Laufen gekommen, was heute hält. Es war für mich schon beeindruckend, dass ich dort die einzige Frau war. Es war eine große Herausforderung, und es war auch ein Risiko. Ich bekam im Verlauf der Veranstaltung das Gefühl, dass es gelingt, und das hat mich dann auch beflügelt.
Nun waren Sie ja Wirtschaftsministerin unter dem Druck der Zeitweiligkeit. Hat sich dieses Bewusstsein nicht eher lähmend ausgewirkt? Oder haben Sie geglaubt, die Dinge, die da im Eilzugtempo auf uns zukommen, wären in so kurzer Zeit in den Griff zu bekommen?
Es war ein ständiger Prozess, der Zug fuhr, er fuhr schnell. Ab Mitte Januar war mir persönlich auch klar, das Konzept der Zweistaatlichkeit ist kein realistisches Konzept mehr, und somit war alles, womit wir angetreten waren, neu zu überdenken. So hatten wir mit den Vorstellungen, mit denen auch ich in die Regierung gegangen war, noch nicht den Fakt eingefangen, dass die vorangegangene Partei- und Staatsführung vor dem 9. November so überraschend und völlig unvorbereitet die Staatsgrenze öffnen würde. Wir hatten an der Hochschule für Ökonomie, von der ich kam, das ganze Jahr über eifrig und couragiert und manchmal auch mit Prügel, die wir dafür bezogen haben, an Reformkonzepten gearbeitet.
Aber dieser Fakt: Da macht über Nacht einer die Grenze auf, war nicht bedacht. Vielleicht kann man sagen, das war ein Fehler, ihr hättet auch dafür ein Szenario haben müssen. Würde ich akzeptieren. Aber wir hatten es nicht, denn dass es so kommen könnte, so dumm haben wir nicht gedacht. Ich habe zu denen gehört, die sich die Öffnung der Grenze lange gewünscht haben, damit die Menschen reisen können, damit sie ihren Horizont erweitern und mit Aha-Effekten nach Hause kommen, was immer nur die Produktivität befördern kann. Aber so dilettantisch hatte ich es mir nicht gewünscht.
War nicht in jener Nacht des 9. November, als die Mauer geöffnet wurde, das Schicksal der DDR-Wirtschaft bereits entschieden? Stand da nicht fest, dass dieses Wirtschaftssystem ohne die schützenden Grenzen zum Ausbluten, zum Zusammenbruch verurteilt war? Auch wenn wir das alle nicht so sehen wollten, einfach, weil es unsere Vorstellungskraft überstieg, uns auszumalen, was dann eingetreten ist?
Aus heutiger Sicht gebe ich Ihnen recht. Als ich in die Regierung eintrat, bin ich, wie alle Kollegen, die damals diesen schweren Auftrag übernommen haben, davon ausgegangen, man müsse versuchen. die DDR-Bürger mit dem geringsten Maß an sozialer Eruption in ein neues System zu führen. Aber wir haben nicht geglaubt, dass es ein neues Gesellschaftssystem sein wird. Wir dachten schon, dass das Volkseigentum das Dominierende bleiben wird, zumindest in den Schlüsselbereichen, wir dachten an eine lenkende öffentliche Hand, um Rahmenbedingungen zu setzen, das alles war in unserem Konzept. Aber mit der Grenzöffnung hatten wir die hohen Übersiedlerströme, die starke Sogwirkung aus einem Nachbarland, das der gleichen Nationalität zugehört, das die gleiche Sprache spricht, ökonomisch Ieistungsfähig und sozial in vielerlei Hinsicht attraktiv ist. Sehr schnell war auch die D-Mark als Parallelwährung da. Somit entwertete sich die Mark der DDR, die Bürger hatten von Tag zu Tag mehr das Gefühl, dass sie sich für ihr Geld noch weniger kaufen können als vorher. Das war ein zweiter Fakt, der zu bedenken war und der auf Zeit drückte. Das Konzept der Zweistaatlichkeit, wie schon gesagt, erwies sich als nicht mehr realistisch, und es wuchs der Druck auf die Angleichung der Wirtschaftsordnungen bis hin zu den Gesetzen. Einiges ist in der damaligen Regierung noch auf den Weg gebracht worden. Physisch war einfach nicht mehr drin, aber aus heutiger Sicht muss man sagen, das Tempo hätte doppelt so hoch sein müssen. Der Weg jedoch hätte immer zu dem geführt, was jetzt auch passiert, einen anderen Weg hätte es wahrscheinlich nicht mehr gegeben.
Wie marode ist die DDR-Wirtschaft eigentlich jetzt am Scheidepunkt?
Es sind in den letzten Wochen viele Zahlen im Gespräch über den Anteil der Betriebe, die der harten Herausforderung des internationalen Marktes ohne ausreichenden Schutz nicht gerecht werden können. Da die Zahlen genannt sind, male ich ja nicht schwarz, wenn ich sie wiederhole, leicht kommt man in einen solchen Geruch, dass man schwarzmalen will. Aber ich persönlich bin von den Zahlen, die genannt worden sind, überzeugt. ich glaube auch, dass in etwa ein Drittel unserer Betriebe kaum eine Chance hat, den Weltmarktbedingungen gerecht werden zu können. Das sind Betriebe sehr unterschiedlicher Branchen, vor allem sind Betriebe aus der Bergbauindustrie, aus der Landwirtschaft, aus der Textilindustrie, aus der Leichtindustrie überhaupt, und auch nicht wenige Betriebe des Maschinenbaus, der Elektrotechnik/Elektronik betroffen.
Gab es ihrer Meinung nach einen früheren Zeitpunkt, zu dem die zentral gelenkte Planwirtschaft noch die Chance hatte, sich so zu entwickeln, dass sie attraktiv für das Land gewesen wäre?
Nach meiner Auffassung hätte es Mitte der 80er Jahre vielleicht eine letzte Chance gegeben, um die DDR-Wirtschaft vor dem zu bewahren, was dann eingetreten ist. Das ist der Zeitpunkt, als in der Sowjetunion Prozesse in Gang gekommen sind, die in den umliegenden osteuropäischen Ländern vieles leichter gemacht haben. Das heißt, wenn sich zum damaligen Zeitpunkt jemand ein Herz gefasst hätte und hätte in der Tat, wie es in Ungarn und auch in Rumänien geschehen ist, die Rüstungsausgaben drastisch reduziert, wenn sich jemand ein Herz gefasst hätte und hätte den ungeheuren, den aufgeblähten Sicherheitsapparat reduziert, es wären enorme Beträge zustande gekommen. Wenn jemand sich ein Herz gefasst hätte und hätte begonnen, nicht radikal und mit der Sense, sondern in drei größeren Sprüngen, oder wie immer man das nennen will, den aufgeblähten Leitungs- und Verwaltungsapparat, den Organisationsapparat, der doch in vielen Fällen uneffektiv war, einzuschränken und auf ein normales Maß zurückzuschrauben, wir hatten diese Staatshaushaltbelastung und dieses Staatshaushaltsdefizit, mit dem ich dann auch konfrontiert worden bin, nicht haben müssen. Als Außenwirt habe ich manches darüber gewusst, (hinter den Kulissen gehört, denn öffentlich gab es dazu keine Aussagen, oder sie waren geschönt), wie die äußere Verschuldung aussieht, am Ende wir es auch nicht alles, was ich wusste. Aber, dass der Staatshaushalt ein solch enormes Loch aufwies, habe ich persönlich nicht geahnt. Ich bin in dieser Hinsicht völlig unvorbelastet in die Regierungsgeschäfte gegangen. Also ich glaube, es hätte eine Möglichkeit gegeben, die DDR vor dem Letzten zu bewahren, aber dann wären Schnitte spätestens Mitte der 80er Jahre notwendig gewesen. Sie wären damals auch möglich gewesen, ohne dass politisch und international etwas passiert wäre, was man nicht hätte verantworten können.
Dann wäre immer noch das Problem der Mauer geblieben.
Das habe ich einschließen wollen, als ich vom Abbau des Sicherheitsapparates sprach. Ich muss auch dazu sagen, seit Mitte der 80er Jahre habe ich, wenn ein solches Thema auf der Tagesordnung war, und in vielen, vielen Gesprächen mit Studenten, meine persönliche Meinung gesagt, dass diese Mauer uns nicht hilft, auch ökonomisch nicht, sondern dass sie uns schadet, auch ökonomisch schadet. Weil die Menschen, die eingeschlossen sind, es verlernen, sich international zu messen, zu sehen, was macht der Konkurrent, wie macht er es, und was muss ich besser machen, wenn ich nach Hause komme, damit ich besser werde als die Konkurrenz. Wir haben immer nur vorgegeben, wir wollen die Menschen vor irgendeinem Feind schützen. Aber dass wir uns auf diese Weise ein Großteil Produktivitätsverlust eingehandelt haben, das wollte niemand so richtig sehen. Auch hier meine ich, wir hätten ein vernünftiges System der Öffnung gebraucht, nicht den Bagger nehmen und die Mauer über Nacht abreißen, das halte ich nach wie vor für unvernünftig (nebenbei bemerkt halte ich es auch gegenwärtig nicht für die dringlichste Aufgabe in ganz Berlin, nun jedes Stück Mauer wegzunehmen, zumal es dreistellige Millionenbeträge kostet, da gibt es wohl Wichtigeres, was wir jetzt zu tun hätten), aber ich bin schon für eine Freizügigkeit, wie wir sie jetzt haben, und die nie und nimmer hätte rückgängig gemacht werden können. Aber wir hätten auch Mitte der 80er Jahre die Möglichkeit gehabt, Reiseerleichterungen zu schaffen. Wir hätten den Menschen einen bestimmten Geldbetrag geben können, um das Reisen für sie finanzierbar zu machen. Polen war viel stärker verschuldet als wir, hat aber seinen Bürgern jedes Jahr oder alle zwei Jahre einen bestimmten Betrag in Valuten verfügbar gemacht, auch die Ungarn hatten ein solches System. Ich kann mir bis heute nicht erklären, weshalb wir das nicht gemacht haben. Es gab immer den Bezug auf unsere Devisenlage, das konnte kein vernünftiger Bezug sein, weil andere Länder mit ungünstigeren Bedingungen den Interessen ihrer Menschen entsprechend mehr getan haben.
Ich kann mir vorstellen, dass dahinter eigentlich doch nur die Angst vor dem stand, was letztlich passiert ist.
Ich sehe das auch so.
Als die Grenzen noch zu waren, haben wir immer gedacht, eine sanfte Öffnung müsste positive Folgen haben, die Leute würden nicht in diesen Massen weggehen, sie würden in der Mehrzahl wiederkommen. Heute muss ich ehrlich sagen, habe ich diese Überzeugung verloren, ich denke, auch wenn die Grenze behutsam geöffnet worden wäre, wären die Leute gegangen und hätten das bessere Leben für sich in Anspruch genommen.
Bei dieser langen Zeit der Trennung durch die Mauer - 28 Jahre - muss man sich nicht wundern, dass es zu solchen Eruptionen kommt. Ich glaube, der Abstand zum 9. November ist noch zu gering, um wirklich sagen zu können, ob es noch irgendeine andere Möglichkeit gegeben hätte. Wobei ich eine Möglichkeit ausschließe, die nicht Pluralismus im Denken, Toleranz und das Bestreben, ein effizientes Wirtschaftssystem aufzubauen, eingeschlossen hätte. Die hätten wir nicht anstreben sollen und auch nicht können. Ich bilde mir aber ein, wenn die DDR-Wirtschaft leistungsfähiger gewesen wäre, wenn das Selbstbewusstsein der Menschen damit auch größer geblieben wäre, hätten wir einen Teil von dem, was wir nicht materielle Werte nennen, vielleicht doch mit größerer Chance einbringen können.
Gegen Ende Ihrer Amtszeit haben Sie erklärt, Marktwirtschaft sei nicht gleichzusetzen mit Kapitalismus, und sie sei durchaus mit hohen sozialen Absicherungen möglich zu machen. Auch jene Mehrzahl der Wähler, die im März "die schnelle D-Mark" gewählt haben, hat doch gehofft, die Marktwirtschaft komme mit großen sozialen Sicherheiten, beziehungsweise erhalte uns die, die wir schon hatten. Die Wirklichkeit sieht nun anders aus. Könnte es sein, dass beide Konzepte, das ihre des moderaten Übergangs und das der Wählermehrheit, die auf Tempo drückte, von Wunschvorstellungen ausgegangen sind, von einer Beschönigung der Folgen der Marktwirtschaft? Vielleicht, weil wir gar keine andere Wahl hatten?
Ich habe ja schon einmal betont, als ich das erste mal von Marktwirtschaft gesprochen habe, hatte ich zwar die Vorstellung von den großen Konturen, und diese sich unter noch nicht marktwirtschaftlichen Bedingungen zu erarbeiten, war schon nicht einfach. Aber ich gebe zu, ich habe die Marktwirtschaft in all ihren Verästelungen und Anforderungen damals auch noch nicht so gesehen, und ich glaube, alle, die am 18. März Marktwirtschaft gewählt haben, wussten auch am 18. März noch nicht genau, was das wirklich bedeutet. Was wir hier machen, eine - wenn man will - Kommandowirtschaft in eine Marktwirtschaft oder eine Naturalwirtschaft in eine Geldwirtschaft zu überführen, dies hat es ja auf der Welt noch nicht gegeben. Insofern muss man auch nicht verwundert sein, wenn von verschiedenen Richtungen versucht wird, für das Problem eine Lösung zu finden. Und alle anderen osteuropäischen oder RGW- oder Noch-RGW-Länder, wie zum Beispiel Ungarn, haben ja auch keine überzeugenden Resultate. Die Kernfrage, die sich alle Länder, die heute Reformen machen, stellen, ist: Soll dieser Übergang nun radikal sein, mit Schock, oder soll er moderat sein und in einem mehrjährigen Anpassungsprozess erfolgen.
Ich glaube, man muss uns zugute halten, dass wir nicht bremsen wollten. Wir wollten etwas erhalten und soziale Eruptionen vermeiden, das waren unsere Prinzipen. Ob ein Konzept gegangen wäre: Augen zu und durch, wolln mal sehen, was ist, wenn wir die Augen wieder aufmachen, weiß ich nicht. Eine Schocktherapie für dieses Land bei offener Grenze und Zweistaatlichkeit wäre an den Baum gegangen, davon bin ich überzeugt. Darum der Versuch, das etwas moderater zu machen. Nun, mit der Wirtschafts- und Währungsunion, steht die Frage nicht mehr. Da wird es ein radikaler Übergang sein. Die Gesetze, die Institutionen, die geschaffen werden müssen, das alles kann man stichtagbezogen machen. Aber man krempelt nicht über Nacht und stichtagbezogen Menschen um. Trotzdem lernt man gewiss leichter die neue Praxis zu meistern, wenn man wirklich Wasser unterm Kahn hat als unter Trockenbedingungen. Wenn die D-Mark da ist, werden die Menschen das marktwirtschaftliche Prinzip sicher schneller beherrschen lernen, als wenn wir sie nun noch monatelang theoretisch vorbereiten.
Das Sozialismusexperiment ist gescheitert. Die Volkskammer hat das Wort Sozialismus gestrichen. Wir werden, wie Gysi sagt, Kapitalismus pur haben. Ist nun nicht eigentlich schon wieder der Zeitpunkt gekommen, wo die Linken hier, nachdem sie sich zu einer Anerkennung der Marktwirtschaft durchgerungen hatten, ein politisches Gegenkonzept, einen gesellschaftlichen Gegenentwurf erarbeiten müssten?
Ich glaube, dass in den nächsten Wochen und Monaten auch die PDS ihr Augenmerk darauf richten sollte, die Menschen, die sie gewählt haben und auch die Sympathisanten, beim Übergang in dieses neue System zu begleiten. Da sollten wir sie nicht durch unendlich viele konzeptionelle Diskussionen verwirren. Jetzt geht es um praktische Dinge. Es war und bleibt meine Meinung, dass für die Realisierung sozialer Ziele die Wirtschaft einer hohen Effektivität bedarf. Diese ließ sich mit dem kommandowirtschaftlichen System nicht erreichen, den Wettlauf hat die Marktwirtschaft gewonnen. Da Marktwirtschaft von sich aus nicht sozial ist, müssen wir um die Ausgestaltung die Rahmenbedingungen für die Absicherung sozialer Ziele ringen, eine stärke Gewerkschaftsbewegung befördern und eine starke parlamentarische und parlamentarische Demokratie. Dies wären für mich die drei wichtigsten Punkte, da sehe ich ein Betätigungsfeld für linke Politik. Es ist ja nun einmal so, dass in hochentwickelten kapitalistischen Ländern dank einer hohen ökonomischen Effizienz viel an sozialen Leistungen finanzierbar ist. Für mich ist wichtiger zu betonen, dass diese sozialen Leistungen für unsere Bürger nutzbar zu machen schon eine Chance ist, als nur auf der Frage herumzuhacken, was Kapitalismus und was Sozialismus ist. Ich halte nichts davon, diese Sozialismusdiskussion in den nächsten Jahren ununterbrochen auf die Tagesordnung zu sehen. Jetzt gibt es anderen Probleme, mit denen wir uns befassen müssen.
Also keine Zeit für Utopien?
Natürlich kann das System, das die BRD heute hat, noch nicht das letzte Wort der Geschichte auf dem Wege einer Zivilisationsentwicklung sein. Da kommt noch etwas. Aber um genau zu bestimmen, wie das aussieht, brauchen wir noch ein bisschen mehr Abstand, da müssen wir erst einmal Atem holen. Ich denke allerdings, nur aus dem hochentwickelten Kapitalismus kann sich eine Gesellschaftsformation entwickeln, die danach kommt. Ich glaube nicht, dass sie aus der Mongolei oder aus Albanien kommt. Insofern werde ich mich in den nächsten Monaten, ich sage das ganz deutlich, nicht an irgendwelchen Alternativ-Konzept-Diskussionen beteiligen können. Natürlich bedeutet der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, um mich noch einmal dieser Vokabel zu bedienen, nicht einen endgültigen Sieg des Kapitalismus. Nie hat die Welt mehr einer Alternative zu dem jetzigen Kapitalismus bedurft als augenblicklich, da die Umweltprobleme in einer Größenordnung vor uns stehen, auch in der DDR, wie ich das im November auch noch nicht gewusst habe, und die Probleme in der Dritten Welt eine Dimension angenommen haben wie nie zuvor. So kann die Welt auf Dauer nicht leben. Und auf Dauer würde für mich bedeuten, es muss noch in diesem Jahrzehnt der Ansatz gefunden werden, sonst geht die Welt, unabhängig davon, welches Adjektiv vor der Gesellschaftsordnung steht, ihrer Selbstvernichtung entgegen.
Im Februar haben Sie in einem Interview sinngemäß gesagt. Sie wollten nichts auf der Weg bringen, dessen Sie sich nach den Wahlen vor dem Volk schämen müssten. Haben Sie heute das Gefühl, eine persönliche Niederlage erlitten zu haben?
So würde ich es nicht nennen. Ich bin der Überzeugung, dass die Mannschaft, die sich damals gefunden hat, und vor allen Dingen Herr Modrow, das ist sein Verdienst, es sich zum Ziel gesetzt hatte, ein Chaos, das, um es ehrlich zu sagen, auch an manchen Tagen vor der Tür gestanden hat, zu vermeiden. Ja bitte, wir hatten die Überzeugung, es wird uns gelingen, ein Stück DDR-Identität, wie wir es immer genannt haben, hineinzubringen in ein neues Deutschland. Im übrigen hat Herr de Maizière, der fünf Monate neben mit auf der Regierungsbank gesessen hat, mindestens so häufig wie mancher von uns von einer DDR-Identität gesprochen. Und er hat es mit Liebe getan. Ich hoffe, dass er sich auch in seiner Allianz in dieser Richtung weiter stark machen kann. Es ist nicht realisiert worden, womit wir angetreten sind, das bedaure ich, aber ich bin kein Mensch, der das nun unendlich betrauert. Wir konnten kein vorgefertigtes Konzept hernehmen, an dem wir uns am Ende hätten messen können. Ich persönlich habe diese fünf Monate als eine ungeheure Herausforderung empfunden. Ob eine andere Mannschaft es hätte anders machen können, darüber muss die Geschichte eines Tages urteilen. Jetzt steht eine neue Realität am Horizont, und wir müssen uns selbst couragieren und damit auch viele Menschen, die nach wie vor auf uns sehen.
Mit Christa Luft
sprach Renate Rauch
Professor Christa Luft war Wirtschaftsministerin in der Regierung Modrow, ist jetzt Volkskammerabgeordnete und lehrt an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst
Sonntag, Unabhängige Wochenzeitung für Kunst und modernes Leben Nr. 26, So. 01.07.1990
9. November 1989 Öffnung der Grenze der DDR zur Bundesrepublik und Westberlin für DDR-Bürger, 18. März 1990 Volkskammerwahl, 1. Juli 1990 Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion