Thierse: Will der CDU-Vorsitzende den Koalitionsbruch?

Für Ost-SPD ist entscheidend, wie das gesamtdeutsche Parlament gewählt wird / BZ sprach mit Vorsitzendem

Nach der Wahl ihres neuen Vorsitzenden Wolfgang Thierse vermittelt die SPD den Eindruck, dass sie Ihre Positionen konsequenter vertritt und erkennbarer in die Koalitionsabsprachen einzubringen versucht. Das zeigt sich besonders deutlich am gegenwärtigen Streit um den Beitritt zur Bundesrepublik und dem Modus der ersten gesamtdeutschen Wahlen. BZ sprach gestern darüber mit der neuen Nummer eins der Sozialdemokraten.

BZ: Auf dem halleschen Parteitag sind Sie fast unerwartet zum Vorsitzenden gewählt worden. war das ein Schuss vor den Bug des Partei- und Fraktionsvorstandes durch die Basis?

W. Thierse: Ganz so würde ich das nicht verstehen. Schließlich war ich selbst Mitglied des Fraktionsvorstandes der SPD in der Volkskammer, aber andererseits bin ich nicht vom Parteivorstand nominiert worden. Eine ganze Reihe von Landesverbänden stand tatsächlich gegen den Parteivorstand. Insofern dokumentiert sich in dieser Wahl auch eine Kritik an der Arbeit des Parteivorstandes und eine kritische Stellungnahme zum Zustand der Partei. Das nimmt mich sehr in die Pflicht, denn die Erwartungen sind sehr groß, dass ich als neuer Parteivorsitzender integrierend in dieser Partei wirken und auch versuchen sollte, ihr ein deutlicheres Profil zu geben. Ich will es versuchen, ob es mir gelingt und ob es mir bislang gelungen ist, kann ich selbst natürlich am schlechtesten beurteilen.

Von Überforderung zu Überforderung

BZ: Es klang in der Parteibasis an, dass man unzufrieden ist mit einer Reihe von Beschlüssen, mit der Arbeit in der großen Koalition. Zu wenig Eigenständigkeit beim Zustandekommen des 1. Staatsvertrages wurde kritisiert. Ist die Parteibasis linker als die Parteispitze?

W. Thierse: Dazu muss man zunächst wissen, dass wir in der kurzen Zeit unseres Bestehens sehr schwierige Aufgaben zu bewältigen hatten. Die Erarbeitung eines Grundsatzprogramms, Volkskammerwahlkampf, Koalitionsverhandlungen zur Beteiligung in der Regierung, Kommunalwahlkampf und Beteiligung an den Kommunalregierungen. Das war in kurzer Zeit ungeheuer viel. Man kann durchaus davon sprechen, dass die Partei von Überforderung zu Überforderung gegangen ist. Ich denke, angesichts dieser Schwierigkeiten steht die Partei nicht schlecht da. Wir leben nicht in einer heilen Welt. Wieso soll die SPD eine heile Partei sein? Wenn man also diese Schwierigkeiten bedenkt und das Tempo der Entwicklung, muss man sich nicht wundern, dass die Partei gar keine Zeit hatte, sich als solche genügend zu profilieren, und eine Differenzierung in rechts und links sehe ich so eindeutig nicht. Die Fronten sind bei uns etwas undeutlicher, beweglicher; sie entstehen spontaner und hängen auch von den jeweiligen politischen Themen ab. Und grundsätzlich muss ich sagen: Nach den Erschütterungen in der Entwicklung des Sozialismus, nach dem absoluten Scheitern des realen Sozialismus weiß ich selber nicht mehr so ganz genau, was links und was rechts ist. Und ich sehe, dass es den meisten anderen auch so geht. Die Eindeutigkeit unseres Weltbildes ist verlorengegangen, aber das hat auch Vorteile.

BZ: Bei der gegenwärtigen Diskussion zum Einigungsvertrag legt die SPD besonderen Wert auf die Art und Weise des Beitritts nach Artikel 23 GrundgesetzArtikel 23 . . .

W. Thierse: Ja, er soll die staatsrechtlichen und sonstigen rechtlichen Bedingungen des Beitritts der DDR regeln. Für uns ist in diesem Zusammenhang die Frage des Wahlrechts entscheidend, wie das gesamtdeutsche Parlament gewählt wird. Da befinden wir uns gerade in einer schwierigen Phase. Es ist mein Eindruck, dass sich die Fronten verhärtet haben. Ich muss ehrlich sagen, dass ich die Motive von Lothar de Maizière nicht verstehe, mit solcher Radikalität auf der Position getrennter Wahlgebiete und einer nicht gemeinsamen Wahl zu beharren.

Einheitlicher Wahlmodus ist demokratisch

BZ: Die Motive liegen doch auf der Hand.

W. Thierse: Ich denke, die Entschiedenheit, mit der er bei seiner Position bleibt, ist gegen das existentielle Interesse der Liberalen und Sozialdemokraten gerichtet und steht auch gegen die Mehrheitsmeinung in der Bundesrepublik und - wie ich annehme auch in der DDR, einschließlich großer Teile seiner eigenen Fraktion. Ich kann dies nur als extrem koalitionsfeindliches Verhalten ansehen, und es stellt sich bei mir unfreiwillig die Vermutung ein, dass Lothar de Maizière diese Koalition nicht länger will, dass er versucht, den Koalitionsbruch herbeizuführen und ihn dann den Sozialdemokraten und den Liberalen in die Schuhe zu schieben. Man kann sogar vermuten, dass er aus der Verantwortung und Pflicht entlassen werden will, auf die wir uns gemeinsam eingelassen haben. Wer so entschlossen an einer Position festhält, die nur noch seine eigene ist und die einiger weniger anderer Herren, der muss sich fragen lassen, ob er den Koalitionsbruch herbeizwingen will, um entlastet zu werden.

BZ: So weit zu Herrn de Maizière, aber bei dem Wahlmodus geht es doch noch um andere Dinge . . .

W. Thierse: Hier möchte ich unterbrechen. Gerade in der Berliner Zeitung wird uns immer ziemlich hämisch nur wahltaktische Motivation unterstellt. Ich will deshalb unsere Motive in der Reihenfolge, wie sie mir wichtig erscheinen, nennen.

Erstens ist es von elementarer Selbstverständlichkeit, dass man ein gemeinsames Parlament auch nur gemeinsam wählen kann. Alles andere halte ich für eine Absurdität.

Zweitens bin ich für den Beitritt vor der Wahl, weil dadurch ermöglicht wird, dass der erste Akt in einem gesamtdeutschen Staat die Wahl des Parlaments ist. Das wäre ein wirklich demokratischer Beginn.

Und drittens erkenne ich bei der CDU das Motiv, einerseits durch ein getrenntes Wahlgebiet und eine andere Sperrklausel die Linken zu zersplittern und sie in ihrer Arbeit in Gesamtdeutschland einzuengen und damit die Konservativen zu stärken. Andererseits soll wohl auch die DSU für das gesamtdeutsche Parlament eine Chance erhalten. Das ist für mich aber erst der dritte Grund, den Vorschlag von Lothar de Maizière abzulehnen. Die anderen beiden Gründe sind mir wichtiger.

BZ: Durch ihr Vorgehen wird aber das Bündnis 90 als eine wichtige demokratische Kraft möglicherweise aus dem gesamtdeutschen Parlament ausgeschlossen.

W. Thierse: Das ist für mich ein wichtiges Thema. Es geht uns nicht darum, andere politische Kräfte, die sich in unserer Nachbarschaft befinden, auszuschalten. Es geht um etwas sehr Grundsätzliches. Wir alle müssen lernen, uns an die großen gesamtdeutschen politischen Maßstäbe zu gewöhnen. Diejenigen, die aus der Opposition stammen, sind an andere Strukturen gewöhnt. Ein wichtiger Schritt im Herbst war es, solche Strukturen zu verlassen. Die SPD-Gründung ist eine solche Antwort, die Gründung des Neuen Forum und anderer Bürgerbewegungen eine andere, immer begleitet von der Frage, ob dies die richtige Organisationsform ist. Jetzt geht es darum, einen weiteren Schritt zu tun, und im erheblich größeren Maßstab Gesamtdeutschlands zu denken. Es geht schlicht darum, wie kann man auf dieser gesamtstaatlichen Ebene politisch wirksam werden. Ich sage, dass die Parteien für eine solche gesamtstaatliche Ebene von unersetzlicher Bedeutung sind. Schon deshalb, weil sie als relativ stabile Formationen dazu gezwungen sind, für sich selbst den Konsens zu praktizieren, der schließlich auch für den demokratischen Staat insgesamt notwendig ist. Mein Traum wäre ein Ineinandergreifen von repräsentativer parlamentarischer Demokratie - bestimmt durch Parteien - einerseits und verstärkt andererseits durch die Basisdemokratie, vertreten durch die Bürgerbewegungen. Wenn das gelänge, könnten wir mit dem Bündnis 90 sinnvoll zusammenarbeiten. Die Fünf-Prozent-Klausel übt auf diesen Entscheidungsprozess einen heilsamen Zwang aus. Dieser Zwang führt auch dazu, dass sich die Linke konzentriert. Wenn wir mitmischen wollen, können wir uns nicht zersplittern. Arbeitsteilung und Zusammenarbeit sind nötig.

Das Gespräch führte
Axel Knack

Berliner Zeitung, Sa. 21.07.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 168

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