Wir brauchen öffentliches Denken
Erklärung der Akademie der Künste der DDR
Das Präsidium der Akademie der Künste der DDR hat folgende Erklärung abgegeben:
Das Präsidium der Akademie der Künste ist der Ansicht, dass das vierzigjährige Bestehen der Deutschen Demokratischen Republik, an dem wir teilhaben mit Leben und Arbeit, ein Grund ist, um ein umfassendes offenes und öffentliches Gespräch zu beginnen. Der Sozialismus, der sich als auch als alternativer Entwurf zur bürgerlichen Weltordnung versteht, ist für die Mehrheit der Menschen da, und die Mehrheit muss sich an ihm beteiligen, damit er die materielle, geistige und moralische Produktivität gewinnt, um sich durchzusetzen. Er braucht öffentliches Denken als Instrument und Korrektiv seiner Pläne, als Vermittlung zwischen historischem Anspruch und alltäglicher Erfahrung. Öffentlichkeit ist notwendig auf allen Ebenen der Gesellschaft. Sie benötigt Diskussion und Disziplin, Solidarität und die Persönlichkeit jedes einzelnen, und das alles zugleich.
Der wissende und informierte Mensch ist handlungsfähig. Wer gebraucht wird, auch mit seinem Kopf fühlt sich zu Hause. Wir haben einen Vorrat an Denksubstanz, die beste Währung unseres Landes. Er stellt die eigentliche Produktionsreserve dar, sie muss freigesetzt werden. Das heißt, dass keine Frage von Belang unausgesprochen bleiben darf.
Die alltäglichen Erfahrungen des Bürgers prägen die öffentliche Meinung in unserem Land, die oft genug im Gegensatz zu der veröffentlichten Meinung steht, ein Widerspruch, der zu empfindlichen Störungen des moralischen und geistigen Klimas in der Gesellschaft führt. Dieser Widerspruch muss durch ein neues Verständnis für den Gebrauch der Medien aufgelöst werden, durch das auch eine Ritualisierung der politischen Sprache zu überwinden wäre, die häufig den gemeinten Sinn nicht mehr trägt.
Entscheidungen, die Bürger unseres Landes betreffen, müssen für diese begründet und durchschaubar sein. Wo dies nicht der Fall ist und Anonymität waltet, entsteht ein ohnmächtiges Bewusstsein der Bevormundung, das in direktem Gegensatz zu dem von der veröffentlichten Meinung propagierten Bild des mündigen Staatsbürgers gerät.
Vertrauen beruht auf Vertrauen. Wir brauen es als Grundwert des Umgangs miteinander. Niemand darf verdächtigt werden, der sich Sorgen um die Zukunft unseres Landes macht.
Die DDR hat auch Identität durch die Kunst gewonnen. Auf die Auskünfte der Künste über Lebensqualität und Lebensgefühl, über die tatsächliche moralische Befindlichkeit des Individuums kann so wenig verzichtet werden, wie auf ihren Gehalt an humaner Utopie. Soziale Sicherheit ist nicht denkbar ohne den geistigen Reichtum der Kultur.
Wenn wir erörtern, was wir weiter mit diesem Land vorhaben, wenn wir Vorzüge und Nachteile vergleichen, Chancen und Verzicht, wenn wir Vorschläge erwarten, dann motivieren wir Menschen verschiedener Generationen, Gemeinwohl und eigenes Leben miteinander in Beziehung zu setzen.
Antifaschismus, Friedensliebe, soziale Gerechtigkeit, die Pflege und Mehrung der Kultur das sind geistige Grundpositionen unserer Gesellschaft und bleibende Arbeitsfelder. Wir sind nicht am Ziel. Wir haben uns zu behaupten, benachbart einem anderen deutschen Staat in einem anderen Weltsystem, der unsere Sprache spricht und aus gleicher Geschichte kommt. Wir sind mit ihm widersprüchlich verflochten in Kooperation und Konfrontation, in menschlicher Verbindung und politischer Trennung. Die Vernunft, die wir unserer gemeinsamen Zukunft schulden, wir bedroht durch Kräfte, die uns noch immer die Existenz bestreiten, auch durch Leute, die uns plündern mit dem Ausdruck des Bedauerns.
Die gesellschaftliche Strategie, die der XII. Parteitag der SED zu erarbeiten hat, beruht auf der täglichen Arbeit von Millionen Menschen in allen bereichen der Produktion.
Die Akademie der Künste stellt ihre Erfahrungen und die Fähigkeiten ihrer Mitglieder zur Verfügung, jetzt und auf Dauer.
Berlin, 4. Oktober 1989
aus: Neue Zeit, Nr. 241, 13.10.1989, 45. Jahrgang, Zentralorgan der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands
[Der Termin für den XII. Parteitag der SED wurde im Dezember 1988 auf den 15.05.-19.05.1990 festgelegt. Er fand aber nicht mehr statt.]