"Ich ärgere mich über jeden, der sich jetzt nicht freut"

Mit dem Besetzer Wolf Biermann sprach in der Stasi-Zentrale Renate Oschlies

Zu Beginn der 60er und 70er Jahre war er eine oppositionelle Instanz, obwohl von der Stasi Tag und Nacht bewacht. Die Bonzen fürchteten sein in der Tradition Heines geführtes Wort so sehr, dass sie dem Liederdichter jahrelang jeglichen öffentlichen Auftritt verboten. Die Adresse Chausseestraße 131, wo er viele Jahre wohnte, war seine Bühne. Seine Lieder und Gedichte kursierten in Form von Tonbändern und in Pralinenschachteln über die Grenze geschmuggelten Büchern. 1976 wurde Wolf Biermann während eines Konzertaufenthaltes in Köln ausgebürgert und nicht mehr in die DDR zurückgelassen. Viele Künstler erklärten sich mit ihm solidarisch - Auslöser für eine engstirnige Phase in der Kulturpolitik dieses Landes. Wolf Biermann lebt mit seiner Familie in Hamburg.

"Herabwürdigung des Staates", "Verunglimpfung" von Bonzen - das kennt man von Ihnen in Deutschland. Wie kamen Sie, Wolf Biermann, unter die Besetzer?

Eigentlich wollte ich mich nur mal wieder ein Stündchen mit meinen alten Freunden, mit Bärbel Bohley und Katja Havemann, unterhalten. Und die saßen da in dieser alten Höhle des Löwen, von der wir doch im Traum nie gedacht hätten, die mal zu betreten. Und als ich bei ihnen war, wurden die Füße so schwer, und das Herz wurde so leicht, und ich fühlte mich wohl bei den Besetzern. Außerdem war ich neugierig, denn die jungen Leute, die da sitzen, haben alle die Jahre, die mir hier fehlen, hautnah, intensiv miterlebt. Viele von ihnen gehörten zur Mahnwache in der Gethsemanekirche, einem Zentrum des Widerstands in Berlin. Andere haben seit Monaten bei der Stasi-Auflösung mitgearbeitet. Für mich ist die Besetzung auch eine wunderbare Chance, mir DDR-Nachhilfeunterricht geben zu lassen.

Viele der wirklichen Herbst-Revolutionäre sehen ihre Träume jetzt sterben, empfinden das schmerzhaft. Ist das auch Ihre Stimmung?

Natürlich ärgere ich mich auch darüber, dass vieles seit dem Herbst anders gelaufen ist, als so einer wie ich es sich wünscht. Aber dieser permanenten Deprimierten-Fete werde ich mich nicht anschließen. Ich freue mich eben, dass dieses verfluchte Stasi-System endlich zusammengebrochen ist, und ich ärgere mich über jeden, der sich darüber nicht freuen kann. Die verhalten sich nach meiner Meinung wie Eintagsfliegen, die nicht über den Tag hinaus denken und fühlen können. Ich freue mich ohne Wenn und Aber, trotz aller dieser Widrigkeiten, deretwegen wir jetzt hier sitzen.

Wie lange wollen sie denn zusammen mit den Bürgerrechtlern hier noch sitzen?

Entweder, bis wir erreicht haben, was wir wollen oder bis keine Hoffnung mehr ist, dass sich in der Frage der Behandlung der Stasi-Akten etwas in unserem Sinne ändert. Ich bin ja kein Fanatiker, der sich hier festbeißt. So schön ist es hier auch nicht. Außerdem hängt das auch noch von meiner Frau und den Kindern ab. Ich halte nichts von Leuten, die immer nur an der Menschheit rummachen und sie retten wollen, aber die einzelnen Menschen, für die sie verantwortlich sind und die sie lieben, vergessen.

Haben Sie schon Stasi-Entschädigung beantragt?

Ich bin ja kein Stasi-Opfer. Mir ist es ja immer gelungen, aus allem, was die gegen mich taten, etwas Produktives zu machen. Ich habe mich ja gewehrt, habe gegen die Stasi gekämpft mit den Mitteln, die ich hatte und zuweilen ganz erfolgreich, finde ich. Man geht nicht zu sehr an den Schlägen kaputt, die man einsteckt, sondern vielmehr an denen, die man nicht austeilt.

Wollen Sie Ihre Stasi-Akte sehen?

Ich bin froh, wenn ich die nicht lesen muss, ich weiß selber, wer ich bin, und ich weiß selbst, was ich getan habe. Dazu brauche ich keinen Nachhilfeunterricht von irgend einem Stasi-Laffen. Aber ich will unbedingt, dass diese Akten nicht vernichtet werden. Das ist mein Motiv.

Was soll mit Stasi-Akten geschehen?

Das weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass wir über diese Frage nur nachdenken können, wenn sie da sind - sonst spielen wir ja absurdes Theater. Die Akten sind so schlimm, wie ein hochgegangener Reaktor in Tschernobyl. Sie strahlen gefährlich aus: Denunziation, Verleumdung, alles, was sich jetzt daran anschließen kann. Das löst man nicht, indem man die Akten zubetoniert. Viele von der Stasi Geprügelte und Gepeinigte leben irgendwo ihr kleines Menschenleben, die haben ein Recht auf Wiedergutmachung, auch materielle. Aber Herr Diestel hat mich, als ich vor einiger Zeit bei ihm war, beruhigt. Er sagte: "Herr Biermann, die wirklich wichtigen Akten sind alle schon vernichtet."

Was wird aus Deutschland nach dem 3. Oktober? Ist die Ex-DDR dann dazu verurteilt, wie es heißt, alle die Fehler der Bundesrepublik zu wiederholen?

Deutschland wird etwas längliches Ganzes. Der vordere Teil - historisch gesehen der westliche - versucht gerade, sich mehr oder weniger halbherzig vom brutalen Kapitalismus zu verabschieden und sucht Wege heraus aus dieser Wohlstandsgesellschaft, die fortschrittlichsten Leute wenigstens. Und der hintere Teil, der östliche, versucht gerade, den Frühkapitalismus zu erreichen, den Wohlstand oder das, was sie sich darunter vorstellen, nachzuholen. Das ist ja auch irgendwie legitim: Diesem Affen werden die Menschen hier erst einmal Zucker geben müssen. Allerdings werden sie dabei vermutlich nicht sehr fein miteinander umgehen und sich gegenseitig die Nasen abbeißen. Sie sind ja auch ein bisschen verroht durch das alte System.

Aber ich kann darüber nicht im tragischen Tonfall reden. Denn gemessen an der Menschheit, die verhungert und verreckt - und zu der wir ja außerdem auch noch gehören - sind das alles Luxusprobleme, alles. Das wollen wir im Über schwang nicht vergessen.

In den letzten Tagen hörte man hier in der Normannenstraße, Sie kämen zurück von Hamburg nach Berlin?

Vor einigen Monaten hatte ich ein Gespräch im Kulturministerium, wobei man mich einlud, wieder in die DDR zu kommen Und da ich bekanntlich sentimental bin, will ich das auch. Nun habe ich eine große Familie, meine alte Wohnung in der Chausseestraße ist noch von der Stasi in gewandelter Form, wie man mir sagte, besetzt. Man schickte mich zum Innenminister, der hätte Riesenmengen an Stasi-Villen und -häusern. Und Herr Diestel war gerne bereit, mir für wenig Geld eine Stasi-Villa zu besorgen.

Aber dann überlegte ich: Mir von Herrn Diestel etwas schenken lassen, das ist zu teuer. Und ob mich die Musen dann jemals küssten, wenn ich in einer Stasi-Villa säße? Die Musen haben ja eine unglaublich feine Nase für den Gestank der Heuchelei und wenden sich dann schaudernd ab. Und dann kann ich keine guten Gedichte mehr schreiben. Aber wozu brauche ich dann eine Villa?

Und nun bleiben Sie doch in Hamburg?

Aber nein. Ich bin ja schon hier. Man bot mir dann doch noch eine völlig verrottete Wohnung im Prenzlauer Berg an, nahe dem Friedrichshain. Da regnet es noch durch, und die Wände sind mit Schimmel bedeckt. Diese Wohnung nehmen wir. Auch aus einem höheren Grund. Dies ist nämlich eine Metapher für die ganze DDR: Völlig ruiniert, verrottet und kaputt. Aber wenn man Mut hat und ranklotzt, kann das der schönste Platz auf der Welt werden, wo man leben kann und gute Freunde hat, und wo die menschliche Landschaft in Ordnung bleibt, wenn wir etwas dafür tun.

Neue Zeit, Mi. 12.09.1990


[Der damalige Pressesprecher der PDS wohnte damals in der ehemaligen Biermann-Wohnung.]

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