Europa hat die wenigsten Flüchtlinge
Interview mit Anetta Kahane, Ausländerbeauftragte des Magistrats von Berlin/DDR
Eine erschreckend wachsende Zahl neofaschistischer Provokationen und Übergriffe der Volkspolizei schüchtern in die DDR kommende Flüchtlinge ein. Die vier Ostberliner Asylheime sind bis zum Bersten gefüllt, Asylanträge werden nur schleppend bearbeitet, mit der bevorstehenden Vereinigung droht die Übernahme des Westberliner Asylrechts. Diesem Problem steht Frau Kahane (NEUES FORUM) wie ein weiblicher Don Quichotte den Windmühlenflügeln gegenüber.
die andere: Täglich kommen Menschen aus mehreren Ländern in die DDR. Was sind ihrer Meinung nach die Gründe dafür, würden Sie diese Menschen als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen?
Kahane: Das ist sehr unterschiedlich. Mit dem Wort "Wirtschaftsflüchtling" kann ich sowieso nichts anfangen. Flüchtlinge sind meiner Meinung nach Leute, die hierherkommen, weil die Lasten in der Welt so ungerecht verteilt sind. Und es ist nicht unser Verdienst, das wir hier auf diesem Teil der Welt leben. Ich möchte nicht unbedingt in Südbulgarien geboren worden sein, nicht in Nordkorea und nicht in Afrika. Das ist nun mal reiner Zufall, dass wir dank der Gene hier geboren wurden. Darauf kann sich kein Mensch in diesem Land etwas einbilden. Der Reichtum der einen geht nicht ohne die Armut der anderen. Die Freiheit der einen wird immer bezahlt mit der Unfreiheit der anderen. Man muss begreifen, dass das politische System ein Gefüge ist, wo jeder eine unterschiedliche Last trägt, man müsste bereit sein, es zu verändern, denn jeder sollte von allem etwas haben. Wenn man das nicht akzeptiert, sondern davon ausgeht, dass es aus irgendwelchen mystischen Gründen richtig ist, dass man hier im europäischen Norden in einem so netten Klima sitzt und zu den Reichsten gehört und dabei meint, es wäre ein ganz besonderer Verdienst, das geht nur auf eigenen Fleiß und eigenes Genie zurück, dann wird man behaupten können, nur die einen sind gut, die anderen aber Wirtschaftsflüchtlinge.
Wenn ich mir vorstelle, dass Syrien die Grenze aufgemacht hat und 20 000 Flüchtlinge aus dem Irak hereinließ ... 20 000 an einem Tag! Dabei gibt es dort schon über 150 000 Flüchtlinge aus dem Irak. Das ist selbstverständlich, sie nehmen die Flüchtlinge nicht nur auf, sondern versorgen sie auch. Und es sind nicht nur 3 000 Roma. Wir hier in Europa haben die wenigsten Flüchtlinge in der Weit. Und Syrien ist ja weit weg! Ich verstehe ja, dass die DDR-Bürger ihre eigenen Sorgen haben. Ich habe diese Sorgen auch. Mir tut das nicht weh, wenn mich ein Roma anbettelt. Dann gebe ich schon mal eine Mark oder ein paar Groschen, weil ich weiß, das würde ich an der nächsten Straßenecke für ein Eis auch ausgeben. Die großen Verluste, die ich in meinem Leben habe, kommen nicht davon, dass ich einem Roma ein paar Geldstücke gebe, sondern dass Dinge entwertet werden, die bisher Werte ausgemacht haben. Ich will auch immer wieder den Leuten sagen: Lasst euch da nicht beschummeln. Auch wenn man mal von einem Roma beklaut wird, die wirklichen Täter sind ja doch ganz andere.
die andere: Wie beurteilen Sie die Bedingungen in den Aufnahmeheimen?
Kahane: Das ist sehr unterschiedlich und hängt davon ab, wie die sind, die die Heime leiten, mit wie viel Herz und Verstand das gemacht wird. Zum Beispiel ist die Betreuung in Hessenwinkel wirklich gut.
die andere: Wie können Sie Politik beeinflussen?
Kahane: Wir haben dafür gesorgt, dass es hier ein Ausländer- und Asylrecht gibt. Es ist ein großer politischer Erfolg, dass wir es mitverfasst und durchgesetzt haben. Insofern kann kaum ein Ausländerbeauftragter von sich behaupten, dass er soviel Möglichkeiten hatte. Die Frage ist natürlich, wie man es in der Praxis durchsetzen will. Da ist es ein bisschen schwieriger.
die andere: Wie läuft die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung und dem Senat?
Kahane: Frau Funke (Ausländerbeauftragte der Bundesregierung - d. Red.) oder Frau John (Ausländerbeauftragte des Senats von Westberlin - d. Red.) sind nicht meine Gegnerinnen. Wir sind zwar durchaus nicht einer Meinung, aber das sind nicht diejenigen, gegen die man politisch antreten muss.
Man kann nicht ausgerechnet von mir verlangen, dass ich mehr politischen Spielraum habe als der Ministerpräsident. Hier findet der Anschluss unter § 23 statt, daran kann auch ich nichts ändern. Das heißt, wir werden sehr bald auch hier das bundesdeutsche Ausländergesetz haben und müssen dann sehen, wie wir damit leben können. Dass wird nicht ganz leicht sein. Ansonsten habe ich natürlich noch Spielräume auf der parlamentarischen Strecke und Kontakte zu Politikern, und die lasse ich mir auch nicht so ohne weiteres nehmen.
die andere: Versuchen Sie noch, eigene Gesetze für das Gebiet von Ostberlin zu erlassen?
Kahane: Das halte ich für schwierig. Man kann natürlich, wenn demnächst ein Land Berlin entsteht, auf ganz Berlin bezogene Verordnungen durchsetzen, die bestimmte Situationen der Ausländer erleichtern. Die wären nur gültig für Berlin, aber die hätten wir dann erstmal, und um sie zu verändern, müsste man vor den Bundesgerichtshof gehen. Doch mit den ganzen Spielregeln kenne ich mich roch nicht so gut aus.
Jetzt im Moment, was soll es? Es sind nur noch ein paar Wochen. Es kann ja jeder jederzeit auf die Idee kommen, sofort den Anschluss zu erklären, und selbst bis zum 3. Oktober ist nicht mehr viel zu wollen. Diese Frage hätten Sie mir früher stellen müssen.
Interview: Chris Weiland
die andere, Der Anzeiger für Politik, Kultur und Kunst, Nr. 34, Mi. 12.09.1990