Brief der Gesellschaftswissenschaftler des IPW an das Zentralkomitee der SED

Die Gesellschaftswissenschaftler des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR (IPW) haben die von der 9. Tagung des Zentralkomitees der SED eingeleitete Wende mit Genugtuung aufgenommen und sehen darin eine große Herausforderung, auf neue Weise an der Erneuerung des Sozialismus in der DDR teilzunehmen. Das wird nach einer Beratung der Leitungskader im Institut in einem Brief an das Zentralkomitee der SED mitgeteilt, der ADN mit der Bitte um Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurde, damit die Gedanken und die spezifischen Vorstellungen des IPW in die öffentliche Diskussion eingebracht werden.

Wir wenden uns an das Zentralkomitee aus der Besorgnis, heißt es in dem Brief, dass bisher ein Konzept für den innenpolitischen Dialog fehlt, das Orientierung für ein geschlossenes Auftreten der Partei in der Volksaussprache geben könnte. Wir stellen fest, dass der Disput über die Zukunft des Sozialismus zu sehr der Diskussion außerhalb der Partei überlassen bleibt. Jede weitere Verzögerung in der Klärung konzeptioneller Grundfragen unserer weiteren gesellschaftlichen Entwicklung verstärkt die Unsicherheit in den Reihen der Partei sowie in der Bevölkerung, gibt Raum für irreführende und gegnerische Auffassungen und birgt die Gefahr falscher politischer Frontstellungen in sich.

Die entscheidende Frage ist, heißt es weiter in dem Brief, dass unsere Partei die Feststellungen "der Sozialismus ist unantastbar" beziehungsweise "die sozialistischen Grundlagen und Werte in unserer Gesellschaft lassen wir uns nicht nehmen" präzisiert.

In dem Schreiben legen die Wissenschaftler ihre Vorstellungen von der Veränderung und Erneuerung in den Grundstrukturen der gesellschaftlichen Entwicklung dar. Sie richten sich vor allem auf die Erneuerung des politischen Systems und die Demokratisierung des öffentlichen Lebens sowie auf den kritischen Dialog, der zu einer ständigen Einrichtung werden müsse. Weiter werden genannt der Ausbau des sozialistischen Rechtsstaates, der Umbau des Wirtschafts- und Planungsmechanismus, einschließlich flexiblerer Gestaltung der sozialistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, die Entwicklung neuer Formen der Verflechtung der DDR- Wirtschaft mit der internationalen Wirtschaftsentwicklung sowie die Schaffung einer modernen Informationskultur. Es wird die Erwartung ausgesprochen, dass die 10. Tagung des Zentralkomitees eindeutige Zeichen setzt, welche Konturen ein solches Konzept aufweisen und welche Grundfragen es in sich einschließen sollte.

aus: Neue Zeit, Jahrgang 45, Ausgabe 257, 01.11.1989, Zentralorgan der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands

Δ nach oben