Radikaler Übergang zu einem neuen Wirtschaftssystem auf der Tagesordnung

Aus der Rede von Ministerpräsident Modrow vor Generaldirektoren

Die aktuellen Aufgaben der Wirtschaft und die nächsten Schritte der Wirtschaftsreform standen im Mittelpunkt des Referates von Hans Modrow bei der Beratung des Ministerrates mit Führungskräften der Wirtschaft am Sonnabend in Berlin.

Hier Auszüge aus der Rede.

Ich möchte ausdrücklich und mit alter Herzlichkeit den Werktätigen danken, die in dieser angespannten Situation, in einer Zeit ständiger Bewegungen und nicht immer guter Neuigkeiten alle Bereiche der Wirtschaft in Gang halten. Das ist oft schwer, und es wird dadurch noch schwerer, dass sich die Bürger unseres Landes viele Sorgen um das Heute und das Morgen machen.

Ihnen allen will ich sagen:

Die Regierung ist handlungsfähig, handlungsbereit, und sie wird es bleiben; sie tut das Notwendige zur Stabilisierung der Lage. Und ich darf hinzufügen: Es liegt auch im Interesse unserer Nachbarn in Ost und West, ja im weltpolitischen Interesse, dass die staatliche Ordnung in der DDR erhalten bleibt, damit der lebenswichtige Prozess der Demokratisierung weitergehen kann.

Der Übergang zu einem neuen Wirtschaftssystem - in Inhalt und Methode - steht zwangsläufig auf der Tagesordnung. Ganz sicher ist es keine Aufgabe, die in einem kurzen Zeitraum zu lösen ist. Der Bruch mit dem bisherigen System der Kommandowirtschaft das uns den krisenhaften Zustand in der Ökonomie mit herbeigeführt hat, muss einerseits radikal sein, andererseits aber darf das Abnabeln vom Alten nicht so abrupt geschehen, dass es in ein wirtschaftliches Chaos führt. Wir starten den Übergang ja nicht aus einer normalen, geschweige denn günstigen ökonomischen Situation.

Seit Jahren immer geringere Zuwachsraten

Seit mehreren Jahren sinken die Zuwachsraten der real bewerteten wirtschaftlichen Leistung und der volkswirtschaftlichen Arbeitsproduktivität. Die Planziele der Jahresvolkswirtschaftspläne und der Fünfjahrpläne wurden insgesamt und in lebenswichtigen Teilen seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre nicht mehr erfüllt. Es gab zum Teil verdeckte und zum Teil offene Preissteigerungen bei Konsumgütern und Leistungen. Breite Sortimentslücken und Unregelmäßigkeiten in der Versorgung mit Waren des Grundbedarfs treten in vielen Orten immer wieder auf. Neben Sortimentslücken gibt es hohe Bestände an unverkäuflichen Konsumgütern. Eine "Schattenwirtschaft" - Feierabendarbeit und zwar steuerfrei - und ein "grauer" beziehungsweise schwarzer Markt für defizitäre Waren und Leistungen weiten sich aus.

In 10 von 13 Jahren nach 1975 wuchsen die Geldeinnahmen der Bevölkerung schneller als die verteilbaren materiellen Fonds. Durch eine disproportionale Entwicklung zwischen Geldeinnahmen und Warenfonds entstand in den Jahren 1986 bis 1988 ein Kaufkraftüberhang von rund 10 bis 12 Milliarden Mark.

Viele Ursachen für sinkende Motivation

Die Motive zur Leistungssteigerung haben sich deutlich abgeschwächt Dafür gibt es unterschiedliche Ursachen. Ich möchte hier nur nennen:

das fehlende klare Bekenntnis, dass die Anwendung des Leistungsprinzips zu gerechtfertigten Einkommensunterschieden führt;

die verbreitete Tendenz zur Gleichmacherei in der Entlohnung und Prämierung;

die verminderte materielle Deckung der gestiegenen Einkommen;

die Rhythmusstörungen in der Produktion aufgrund stockender Zulieferungen oder häufiger Havarien an überalterten Anlagen, aber auch die politische Bevormundung und die Schönfärberei im harten Kontrast zur Wirklichkeit.

In der Industrie und im Bauwesen hat von 1984 bis 1986 eine Kosten- und Preisexplosion stattgefunden, die nicht nur auf gestiegene Rohstoffpreise, sondern auch auf Lohnsteigerungen ohne ausreichende Leistungssteigerungen, zu hohe Gemeinkosten und sprunghaft gestiegene Reparaturkosten wegen des überalterten Grundmittelbestandes zurückzuführen ist. Sie war zugleich die Hauptursache für das Hochschnellen der Verbraucherpreis-Subventionen und die Verschlechterung der Exportrentabilität Die produktiven Investitionen sanken bis 1985 unter den Stand von 1977, und auch die Investitionssteigerungen seit 1986 haben den eingetretenen Verlust an materieller Erneuerungskraft noch längst nicht kompensiert. Das Durchschnittsalter der Grundfonds hat schnell zugenommen, die Aussonderungs- und Erneuerungsrate ist extrem niedrig. Am stärksten sind davon die Bauwirtschaft die Landwirtschaft sowie das Verkehrs-, Post- und Fernmeldewesen betroffen.

Keine DDR-typische Struktur des Exports

Die Kontinuität des Produktionsprozesses wird zum Teil erheblich durch Disproportionen zwischen Finalproduzenten und Zulieferern gestört die durch willkürliche Exportentnahmen aus der inländischen Zirkulation noch verschärft wurden und zu teuren Eigenproduktionen bei Zulieferteilen führten.

Die Auslandsverschuldung gegenüber dem NSW ist in den letzten Jahren weiter gewachsen. Die Zahlungsverpflichtungen, zwingen immer wieder zu Eingriffen in unseren Binnenmarkt und häufig auch zum Export unrentabler Erzeugnisse. Um so schmerzhafter ist es, dass in den letzten Jahren überstürzte NSW-Ausrüstungsimporte vorgenommen wurden, die zum Teil auch noch am dringenden Bedarf vorbeigingen. Unter diesen Bedingungen ist es auch nicht gelungen, eine DDR-typische Exportstruktur zu entwickeln.

Volkswirtschaft hat tragfähige Substanz

Diesen bedrohlichen Gleichgewichtsstörungen der Volkswirtschaft ständen jedoch entwicklungsfähige Grundlagen gegenüber. Dazu zählte Modrow das hohe Qualifikationsniveau, Arbeitskräftereserven z. B. hinsichtlich des hohen Grades manueller Arbeit das international vergleichbare Leistungsvermögen der Kombinate, gewachsene Außenmarktbeziehungen, insbesondere mit der UdSSR, das relativ hohe Verbrauchs- und Ausstattungsniveau der Bevölkerung mit Konsumgütern, einschließlich der neugeschaffenen Wohnungsfonds, eine relativ leistungsfähige Landwirtschaft, entwickelte genossenschaftliche und teilweise private Eigentumsformen, die Rolle als Transit- und Reiseland, die Bindungen mit der BRD, die Möglichkeiten zwischen unserer Hauptstadt und Westberlin, das objektive Interesse westlicher Nachbarn an Stabilität in Mitteleuropa und entsprechendes ökonomisches Engagement sowie die ökonomischen Möglichkeiten weiterer Rüstungsbegrenzungen. Das alles mache die tragfähige Substanz unserer Volkswirtschaft aus.

Stabilisierungsprogramm für 1990 bis 1992

Die Wirtschaftsreform muss jetzt beginnen. Sie ist in ihrer ersten Etappe - etwa bis 1992 - auf die Stabilisierung der Volkswirtschaft gerichtet. Dieser Zeitraum wird eine Phase des Übergangs zu einer neuen Qualität des Wirtschaftens sein.

In der zweiten Etappe - etwa ab 1993 - muss sich diese Qualität weiter entfalten, indem bei ausgewogenen Proportionen und tieferer Integration in die internationale Arbeitsteilung die Betriebe als eigenverantwortliche Warenproduzenten mit voller wirtschaftlicher Rechnungsführung auf dem Markt zur Wirkung kommen. Das wird - nach unseren Zielvorstellungen ab 1995 - durchgängig wirksam werden, indem mit einer weiteren Qualifizierung langfristig angelegter Wirtschafts- und Sozialstrategie auch entsprechende volkswirtschaftliche Rahmenbedingungen für eine konsequent auf den Binnen- und Außenmarkt orientierte Produktion gegeben sind.

Der gegenwärtige Planungsstand unterstreicht die Notwendigkeit für 1990 beginnend ein Stabilisierungsprogramm das aus heutiger Sicht bis in das Jahr 1992 reicht.

Es sind Maßnahmen zur Stabilisierung der materiellen Produktion durchzuführen. Hierfür müssen die Generaldirektoren und Betriebsdirektoren operative Absprachen mit ihren Kooperationspartnern und Abnehmern treffen und zwar in hoher Eigenverantwortung. Für 1990 geschlossene Verträge in der Kooperationskette und zum Handel sind konsequent zu realisieren.

Vor Ausfuhr soll der Erlös geprüft werden

Eine der wichtigsten Fragen ist die Stabilisierung der Zulieferindustrie und ihrer Beziehung zu den Finalproduzenten. Es sind entschiedene Maßnahmen zur Stabilisierung des Binnenmarktes durchzusetzen. Zur Förderung des genossenschaftlichen und privaten Handwerks sowie der privaten Gaststätten hat die Regierung bereits Beschlüsse gefasst.

Maßnahmen sind nötig, um das Geld-, Finanz- und Kreditwesen sowie unsere Währung zu stabilisieren. Die inflationistischen Tendenzen müssen überwunden werden. Sie beginnen damit, dass zu teuer produziert und mit geringer Effektivität exportiert wird. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass viele Investitionen und wissenschaftlich-technische Vorhaben im Verhältnis zu ihrem Aufwand nicht den notwendigen Ertrag bringen.

Die Stabilisierung muss die außenwirtschaftlichen Beziehungen erfassen.

Die Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit der DDR ist eine Aufgabe, die alle Maßnahmen auf außenwirtschaftlichem Gebiet bestimmen muss.

Als Sofortmaßnahme zur Verbesserung der Effektivität des Exports sollte der Vorschlag des Volkskammerausschusses für Industrie und Bauwesen aufgegriffen werden, schon für 1990 Exporterzeugnisse nach dem Nettovalutaerlös zu prüfen, um zu entscheiden, was exportiert werden sollte.

Eine weitere Frage ist die Neubestimmung des Außenhandelsmonopols. Auf keinen Fall dürfen die auf den Märkten erkämpften Positionen verlorengehen. Die bestehenden außenwirtschaftlichen Verflechtungen dürfen nicht zerstört sondern müssen im Gegensatz gefestigt und wo nötig auch ausgebaut werden. Eine entscheidende Frage ist und bleibt die Wahrung des Valutamonopols des Staates. Die internationale Zahlungsfähigkeit und Kreditwürdigkeit der DDR muss unter allen Umständen gesichert bleiben. Das erfordert, alle Verbindlichkeiten pünktlich und vollständig zu bezahlen.

Rechtliche Grundlagen für Joint Ventures

Eine weitere Notwendigkeit besteht darin, neue progressive Formen der internationalen Arbeitsteilung bis hin zu Joint Ventures bedeutend stärker als bisher zu nutzen. Unsere Strategie für NSW-Kooperationen muss koordiniert werden. Dazu ist der Einsatz eines Regierungsbeauftragten vorgesehen. Konkrete Objekte sind der Regierung zur Entscheidung vorzulegen, damit fundierte Verhandlungen von Generaldirektoren und Ministern geführt werden können. Verpflichtungen können erst eingegangen werden, wenn die gesetzlichen Grundlagen dafür in Kraft sind. Der Ministerrat hat rechtliche Grundlagen für ausländische Kapitalbeteiligung bis zum Gewinntransfer in erster Lesung behandelt. Wir werden für die notwendige Rechtsgrundlage Übergangslösungen schaffen, für endgültige Regelungen muss von der Volkskammer im Prinzip erst eine Verfassungsänderung herbeigeführt werden.

Die Regierung unterstützt voll und ganz die Auffassung, dass eine Hauptfrage der Wirtschaftsreform darin besteht wie wir Wissenschaft und Technik für eine weit höhere Effektivität der Volkswirtschaft einsetzen.

Zu berücksichtigen ist, dass sich auch das Forschungs- und Entwicklungspotential der DDR in verschiedenen Eigentumsformen entfalten wird. Mittel- und Kleinbetriebe aller Eigentumsformen werden zum Beispiel existieren für wissenschaftlich-technische Forschungen und Dienstleistungen sowie Technika und Technologiezentren.

Bald auch Erwerb von Anteils-Eigentum?

Das Ziel der Wirtschaftsreform jedoch ist weit gesteckt es muss radikal sein. Wir wollen auf eine sozialistische Wirtschaft zugehen, in der die Werktätigen vom gesellschaftlichen Eigentum wirklich Besitz ergreifen, Interesse an der Entwicklung ihres Betriebes haben, sich als Eigentümer erkennen und auch sich verwirklichen. Warum also sollten sie zum Beispiel nicht Anteils-Eigentum erwerben können?

Wirklich demokratischen Charakter soll unsere Wirtschaft tragen, ökonomisch effizient soll sie sein und damit Voraussetzungen zur Befriedigung der tatsächlichen Bedürfnisse der Werktätigen in sozialer Sicherheit schaffen. Das Leistungsprinzip soll das Grundprinzip zur Erhöhung des Lebensniveaus jedes Bürgers sein. Sozial und ökologisch verträglich muss unsere Wirtschaftsentwicklung sein.

Kernfrage aber wird sein, dass sich in unserer Wirtschaft ein leistungs- und funktionsfähiger Markt mit voller Entfaltung der Ware-Geld-Beziehungen herausbildet.

Berliner Zeitung, Mo. 11. Dezember 1989, Jahrgang 45, Ausgabe 291

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