Neue Bedingungen - neue Aufgaben
Ein Positionspapier der Mitarbeiter der NMG Buchenwald
Mit Vertretern aller Parteien, Organisationen und Gruppierungen und der Kirchen in Weimar wurden im Beisein interessierter Bürger neue Wege und Inhalte antifaschistischer Arbeit in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald besprochen. In der angeregten Aussprache kam, vor allem von der katholischen sowie der evangelischen Kirche, zum Ausdruck, dass man an einer konstruktiven Mitarbeit interessiert sei. Entschieden wandte man sich gegen Erscheinungen des Rechts- und Linksradikalismus in unserem Lande; leider auch in Weimar. Dabei nutzen derartige Elemente den Deckmantel der alternativen Gruppen und der sich formierenden neuen Parteien.
Die Mitarbeiter der NMG Buchenwald legten ein Positionspapier vor, das einhellige Unterstützung fand. Es lautet: "Neue Bedingungen und neue Aufgaben."
Der Antifaschismus wird wesentlicher Bestandteil einer auf Vielfalt gegründeten politischen und kulturellen DDR-Identität sein. Die Bedeutung des Antifaschismus als gemeinsame Verbindung zwischen Klassen, Schichten, Generationen, Parteien, Organisationen und Kirchen und zwischen einzelnen Menschen wächst bedeutend an. Entsprechend erhöht sich die Verantwortung der KZ-Gedenkstätten in unserem Land. Die Direktunterstellung der NMG unter das Ministerium für Kultur muss also erhalten bleiben.
Antifaschismus ist kein Monopol der Kommunisten, wurde aber in der Vergangenheit oftmals eindimensional eingeengt (z. B. "Wir pflegen das revolutionäre Erbe"). Entsprechend seiner wachsenden Bedeutung ist es notwendig, dass Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Weltanschauung und unterschiedlicher sozialer Standorte Ihren spezifischen Zugang zum Antifaschismus finden. Es ist deshalb zu überlegen, wie sie in der Gedenkstätte ihre Form antifaschistischer Arbeit, ihre spezifische Antwort auf das Problem formulieren können. Das erfordert neue Formen der gleichberechtigten Mitsprache bei Wahrung der Souveränität der staatlichen Leitungsentscheidung. Im Unterschied zu traditionellen Museumskonzeptionen liegt der Akzent zukünftiger Gedenkstättenarbeit nicht auf didaktisch-methodischer Einheit der Sichtweisen und Gestaltungsprinzipien, sondern auf Vielfalt. Für die Arbeit heißt das konkret:
- Bildung eines Gedenkstättenbeirates aus (Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Kräfte, der
- selbständig Vorschläge für eigenständige Auslandsformen einbringt, Gestaltungskonzepte beeinflusst, den Erhalt der Substanz unterstützt,
- Forschungs- und Führungskonzeptionen der Gedenkstätte diskutiert und bereichert,
- Einspruchsrecht in strategischen Fragen hat.
- Bildung eines Jugendbeirates aus Vertretern der Jugendorganisationen, der gemeinsam Formen der Jugendarbeit in der Gedenkstätte diskutiert.
Die Beiräte sind schrittweise im Prozess der Arbeit zu formieren. Denkbar wären für den Zeitraum 1990/91 folgende Inhalte:
- gemeinsame Diskussion am "Runden Tisch" zur Durchführung einer Veranstaltung am 11.4.1990,
- gemeinsame Diskussion über eine Nutzungskonzeption für die ständige Ausstellung antifaschistische Kunst,
- gemeinsame Aussprache über den Forschungsplan 1990-95 und konzeptionelle Grundorientierungen der pädagogischen Arbeit.
- Das bisherige Erbe- und Traditionsverständnis muss weiter überdacht werden. Viele Elemente sind durch langjährige politische Fehler überholt bzw. diskreditiert (z. B. "Schwur von Buchenwald - in der DDR erfüllt"). Auf neuer Inhaltlicher Grundlage wird ein Zugang zum Antifaschismus auch zukünftig über die Beschäftigung mit dem antifaschistischen Widerstandskampf im Lager erfolgen. Dafür sind ein hoher Grad an Konkretheit und eine enge Verbindung zwischen Lageralltag und Widerstand erforderlich. Orte des Widerstandes sind genauer zu benennen bzw. neu zu gestalten, z.B.
- Rekonstruktion der Elektrikerwerkstatt im Trafohaus,
- Einbeziehung des Kellers der Häftlingskantine.
Der Keller der Desinfektion (Thälmannfeier) bleibt erhalten, Fragen einer Gestaltung und Nutzung können neu überdacht werden. Neben diesem Angebot, das zweifellos nicht von allen als Zugang zum Antifaschismus genutzt werden wird, sind weitere Angebote zu erarbeiten, die für Menschen unterschiedlicher Weltanschauung und Religion spezifische Zugänge und spezifische Betätigungsmöglichkeiten garantieren.
Mit der ständigen Ausstellung antifaschistische Kunst besitzt die NMG Buchenwald ab 1990 zudem eine Möglichkeit, Menschen auf dem Weg der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema vertraut zu machen. Das setzt eine gründliche Diskussion von Nutzungsvarianten voraus.
Künftige Überlegungen zur wissenschaftlichen und pädagogischen Arbeit müssen sich zuerst, jedoch den Fragen stellen, deren Aufarbeitung für alle Menschen, gleich welcher Weltanschauung, Religion oder sozialen Bindung, gleichermaßen notwendig und bedeutsam ist. Das betrifft vor allem das Schicksal der Opfer der Massenvernichtung - Juden, Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene, Kranke, Behinderte und Schwache. Zukünftige Konzeptionen der wissenschaftlichen, pädagogischen und Publikationstätigkeit haben hiervon auszugehen. Bei der Aufarbeitung von Einzelschicksalen sind Partner zu gewinnen. Im Zusammenhang mit einer stärkeren Orientierung auf die Opfer und das Einzelschicksal können folgende Veränderungen stehen:
a) verstärkte Einbeziehung des Häftlingskrankenbaus,
b) unbedingt notwendig ist ein Konzept zur Einbeziehung des ehemaligen Kleinen Lagers in die Gedenkstätte.
- Der Verschleiss einseitiger Traditionssicht hat seine Folgen im Verschleiss entsprechender Mittel und Methoden, die daran gebunden waren, z. B.:
- einseitig ausgerichtete Großkundgebungen,
- starre Riten,
- obligatorischer Massenbesuch,
- antifaschistischer Monolog,
- alles, was zur "Effektivierung" des Massenbetriebes diente,
- Gedenkstättenarbeit mit Orientierung an Schulmethodik und Schuldidaktik.
Die Zielstellung der Gedenkstättenarbeit ist auf das tatsächlich Realisierbare einzugrenzen. Neue Formen der Gedenk- und Trauerarbeit sind zu entwickeln. Hierbei können Ansätze kirchlicher Gruppen Anregung sein.
Das eindimensionale Führungsangebot ist schrittweise, unter Beibehaltung aller nützlichen Erfahrungen, zu einem differenzierten, vielfältigen Angebot für verschiedene weltanschauliche, religiöse und Altersgruppen zu erweitern. Zu überlegen sind mögliche Angebote für die Familienerziehung.
Die gegenwärtige soziologische Wirkungsforschung in der NMG Buchenwald soll fortgesetzt werden, um genaueren Aufschluss zu erhalten, ab wann der Besuch einer KZ-Gedenkstätte tatsächlich sinnvoll ist und welche Problemstellungen altersspezifisch angeboten werden können.
Besondere Beachtung verdient die altersgemäße Einführung von Dialogformen.
- Es sind neue Interessenfelder entstanden, denen unbedingt Rechnung getragen werden muss:
a) Neofaschismus, Rechtsextremismus
b) Antifaschismus - Antistalinismus
c) Schuld, Mitschuld, Verantwortung, Befehl und Gehorsam, Mitläuferschaft, Widerstandsmöglichkeit, Widerstandsfähigkeit
Diese Felder erhalten für die Ausprägung eines aktiven Antifaschismus wachsende Bedeutung. Ein Konsultations- und Dialogpunkt zu diesen Fragen wird in der Gedenkstätte geschaffen.
- Es bestehen neue Möglichkeiten, Kooperationsbeziehungen zwischen Gedenkstätten der DDR und der BRD zu schaffen. Eine neue Stufe der Gedenkstättenarbeit kann beschritten werden, besonders in Bezug auf gemeinsame und unterschiedliche Erfahrungen und auf Erfahrungsaustausch.
- Der Schwur von Buchenwald ist ein europäischer Schwur und die Gedenkstätte ein Ort europäischer Geschichte. In einem nunmehr wesentlich näher gerückten europäischen Haus haben die Gedenkstätten einen neuen Platz als Orte gemeinsame Erinnerung.
aus: Thüringer Neuste Nachrichten, Nr. 299, 20.12.1989, 39. Jahrgang, Bezirkszeitung der National-Demokratischen Partei Deutschlands, Herausgeber: Präsidium des Hauptausschusses der National-Demokratischen Partei Deutschlands