VERWERTBAR ODER ÜBERFLÜSSIG?

Offener Brief einer vietnamesischen Arbeiterin

Mein Problem betrifft mehr oder weniger fast alle schwangeren vietnamesischen Arbeiterinnen in der DDR. Die sozialen und menschlichen Hintergründe sind wenig bekannt. Diese Unkenntnis zu über winden möchte ich mit diesem Brief beitragen. Da mein Problem eine allgemeine Erscheinung widerspiegelt, verzichte ich auf die vollständige Nennung der Namen der Beteiligten.

Die Verhaltensnormen der traditionellen vietnamesischen Dorfgemeinde waren streng geregelt und ihre Befolgung unmittelbare Voraussetzung für die Existenz des einzelnen in der Gesellschaft. Wurde eine unverheiratete Frau schwanger, so musste sie harte Strafen und Beleidigungen über sich ergehen lassen. Ihr wurde der Kopf geschoren und mit Kalk eingestrichen, und sie wurde aus dem Dorf vertrieben. So verteidigte die Gesellschaft ihre "Tugend" und "moralische Reinheit".

In der DDR wurden wir mit einem wesentlich anderen Geschlechterbewusstsein und mit anderen Geschlechterrollen konfrontiert. In den ersten Tagen des Aufenthaltes bekamen wir, alle vietnamesischen Frauen, egal welchen Alters, von den DDR-Betreuern die Anti-Baby-Pille in die Hand gedrückt. Auf diese Weise wurde uns unmissverständlich klargemacht, dass Intimbeziehungen zwischen Mann und Frau auch außerhalb der Ehe normal sind, für uns aber die Bedingung gilt, dass keine Frau schwanger werden darf. Es war die Regel, dass jede schwangere Frau unverzüglich nach Vietnam zurückgeschickt wurde. Dieser Grundsatz hing bis vor wenigen Monaten wie ein Damoklesschwert über unserem Schicksal, dem der in der DDR arbeitenden und lebenden Vietnamesinnen. Hier galten nicht mehr ethisch-moralische Normen, sondern das Prinzip der Nützlichkeit, das uns nur als Arbeitskraft anerkannte.

Da wir auf Grund mangelnder Belehrung kaum etwas über die Wirkungsweise der Pille wissen, wurden bei einigen von uns schon mehr als einmal Schwangerschaftsunterbrechungen vorgenommen. In etlichen Fällen, wenn die Frist zur Unterbrechung aus unterschiedlichen Gründen bereits überschritten ist (zum Beispiel auf Grund des Fehlens eines Dolmetschers), versuchen die Betroffenen, selbst eine Fehlgeburt herbeizuführen, indem sie 10 bis 15 Dosen vietnamesischer Salbe einnehmen oder vom Doppelstockbett auf den Fußboden springen. In einem Leipziger Betrieb hatte eine Vietnamesin während der Arbeit eine Fehlgeburt im 7. Schwangerschaftsmonat. Sie hatte ihre Schwangerschaft die ganze Zeit über verborgen. In solchen Notsituationen scheuen die Frauen auch die gefährlichsten Mittel nicht, um zu vermeiden, in diesem Zustand nach Vietnam zurückgeschickt zu werden. Denn ein unverheiratetes schwangeres Mädchen wird, vor allem auf dem Lande, als Schande angesehen. Außerdem kann die betroffene Frau mit ihrem 25 kg-Gepäck nicht annähernd die Kosten für die Entbindung und das Wochenbett decken.

In diesem Zusammenhang ist zu fragen, wie humanistisch die Bedingungen sind, die wir hier für unser Leben vorfinden. Gehören die Dinge, die ich oben erwähnt habe, der Vergangenheit an? Diese Fragen lassen sich schwer eindeutig beantworten. Einerseits sind die rechtlichen Bedingungen für uns verbessert worden, da es schriftlich fixierte Festlegungen gibt, die es den vietnamesischen Arbeiterinnen ermöglichen, in der DDR zu entbinden. Dazu möchte ich aus einem an mich gerichteten Brief von Herrn S(...), Abteilungsleiter der Abteilung Ausländische Arbeitskräfte beim Ministerium für Arbeit und Soziales, vom 24. 04. 1990 zitieren:

"Grundlage einer Entscheidung ist die Ordnung über Aufgaben der Betriebe und örtlichen Staatsorgane im Zusammenhang mit der Schwangerschaft vietnamesischer Frauen, die auf der Grundlage zweiseitiger Regierungsabkommen zeitweilig in Betrieben der DDR arbeiten, vom 1. März 1989. Oberster Grundsatz. ist, dass alle Entscheidungen nur mit Ihnen erfolgen können ... Ihr Betrieb ist verpflichtet, in Zusammenarbeit mit den örtlichen Staatsorganen eine geeignete Unterbringung für Sie und Ihr Kind zu sichern. Sie erhalten Schwangerschafts- und Wochengeld sowie Kindergeld und Sachleistungen der Sozialversicherung. Es besteht kein Anspruch auf die staatliche Geburtenbeihilfe und bezahlte Freistellung mit Ende des Wochenurlaubs."

Andererseits ist unsere Lage insofern unverändert, als wir über unsere Rechte nicht in Kenntnis gesetzt werden und dementsprechend auch nicht die Möglichkeit haben, sie gegenüber unseren Betrieben geltend zu machen.

Deshalb haben gerade auch in der jüngsten Zeit schwangere Vietnamesinnen. aus Angst, nach Vietnam geschickt zu werden, ihren Betrieb verlassen und leben nun bei Freunden beziehungsweise im Flüchtlingslager in Berlin/West oder in der BRD. Manche Frauen wünschen sich innig ein Kind, müssen aber warten, bis sie nach Ablauf der fünf Jahre ihres Arbeitsaufenthaltes in der DDR wieder nach Vietnam zurückkehren. An dieser Stelle möchte ich über meine eigenen Erfahrungen berichten.

Da ich jetzt 30 Jahre alt bin, habe ich mich entschlossen, meine Schwangerschaft nicht zu unterbrechen, sondern das Kind zu bekommen. Ich habe den Antrag auf Entbindung in der DDR rechtzeitig bei Frau E., Betreuerin für vietnamesische Werktätige unseres Betriebes seitens der DDR, gestellt, der aber von ihr kategorisch abgelehnt wurde. Ich stellte diesen Antrag auf Entbindung in der DDR, nachdem ich im Februar bei der gynäkologischen Untersuchung erstmals erfahren hatte, dass es für den Fall der Schwangerschaft von vietnamesischen Frauen rechtliche Regelungen gibt, die mir diese Möglichkeit einräumen. Tatsächlich liegt bei Frau P., der Direktorin für Arbeit und Soziales, seit langer Zeit ein Beschluss vor, der die rechtlichen Fragen meiner Schwangerschaft regelt. Wir aber, die betroffenen Arbeiterinnen des Betriebes, wissen nichts von der Existenz dieses Dokumentes. Eine Belehrung oder Bekanntmachung dazu gab es nicht.

Auf meine Bitte hin setzte sich Herr A., Bezirksvertreter der vietnamesischen Botschaft in Leipzig, mit meinem Betrieb in Verbindung. Meiner Vermutung nach müsste er auf Grund seiner Aufgaben das genannte Dokument kennen. Zu meinem Problem sagte ihm der Betrieb eindeutig, ich dürfe weder in der DDR entbinden, noch könne ich nach meiner Entbindung in Vietnam meine Arbeit im DDR-Betrieb gemäß Arbeitsvertrag wieder aufnehmen. Daraufhin stellte ich bei Frau E. den Antrag auf Bau einer Überseekiste, in der ich meine persönlichen Gegenstände, die Sachen für das Baby sowie meine Ersparnisse aus der zweijährigen Arbeit in der DDR in Form von Waren nach Vietnam schicken wollte, bevor ich fliegen müsse. (Ich war im März im 3. Monat schwanger.) Ich möchte hier hinzufügen, jedem vietnamesischen Werktätigen in der DDR steht das Recht zu nach einer zweijährigen Tätigkeit eine 1 m3-Überseekiste nach Vietnam zu schicken. Holz und Bau der Kiste bezahlen wir selbst. In einem Gespräch am 22. 03. 1990, an dem die vietnamesische Gruppenleiterin, die gleichzeitig unsere Dolmetscherin ist, der BGL-Funktionär, Frau E. und Frau P. teilnahmen, wurde mir mitgeteilt, dass meine Kiste am 26. 03. 90 kommen werde und ich am 04. 04. 90 nach Vietnam fliegen solle. Auf meinen Einwand, dass ich es in der kurzen Zeit vom 26. 03. 90 bis zum 03. 04. 90 nicht schaffen könne, meine Heimreise vorzubereiten, das Notwendige einzukaufen, die Kiste zu packen und die Zoll- sowie Transportformalitäten zu erledigen, drohte Frau E. mir, dass sie geeignete Maßnahmen ergreifen werde, gegen mein Verhalten vorzugehen, falls ich am 04. 04. nicht fliegen sollte.

Schließlich wurde uns gesagt, dass unsere Gruppe von 60 Personen vorerst nur 10 Kisten erhalten werde. Diese wurden durch lose verteilt, wodurch ich auch eine erhielt.

In der Zeit, in der ich meine Kiste packen musste, wurde ich krank. Mein rechtes Bein schwoll an, so dass ich auch jetzt noch Schmerzen habe und sehr schlecht laufen kann. Am 28. 03. 90 ging ich deshalb zum Arzt. Frau Dr. F. schrieb mich krank und bestellte mich wieder. Sie gab mir auch einen Überweisungsschein für die Hautabteilung der Poliklinik. Als ich zur vietnamesischen Gruppenleiterin ging und sie bat, mich zur Hautabteilung der Poliklinik zu begleiten, da ich allein mit der deutschen Sprache schwer zurechtkomme, sagte sie mir: "Geh zum Betrieb. Dort wird man deinen Begleiter zum Arzt bestimmen. Außerdem bleibt der Flugtermin am 04. 04. 90. Krank ist krank, und Fliegen ist Fliegen." Daher ging ich nochmals zu der Ärztin, die mich krankgeschrieben hatte und versuchte, ihr mein Problem verständlich zu machen.

In diesem Moment erschien Frau E., die Betreuerin. Sie war nur meinetwegen gekommen und bat die Ärztin um ein Gespräch unter vier Augen, das etwa 15 bis 20 Minuten dauerte. Anschließend teilte mir die Ärztin in Anwesenheit von Frau E. mit, sie werde mir Medikamente mitgeben, damit ich fliegen könne. Eine ärztliche Bescheinigung, dass ich wieder gesund sei, erhielt ich nicht. Frau E. nahm gegen meinen Willen meinen SV-Ausweis an sich. Sie verlangte auch noch andere Unterlagen, so den Krankenschein, den Überweisungsschein sowie den Schwangerenausweis.

Das Auftreten von Frau E., ihre Einmischung in die Arbeit der Ärztin, empören mich. Durch den Entzug meines SV-Ausweises hat sie mir die Möglichkeit genommen, das mir zustehende Recht und die Notwendigkeit ärztlicher Betreuung in Anspruch zu nehmen. Sie hat mich entmündigt in einer Weise, wie sie das mit keiner deutschen Frau hätte tun können, nur weil ich nicht die sprachlichen Fähigkeiten besitze, mich zu verteidigen. Gleichzeitig entsetzt mich aber auch die Gleichgültigkeit der anderen beteiligten Personen, die mich in eine Situation der völligen Rechtlosigkeit versetzten. Weder der BGL-Funktionär noch die Ärztin haben sich für die Durchsetzung meiner Rechte eingesetzt.

Da ich befürchtete, unter allen Umständen zum Abflug gezwungen zu werden, übernachtete ich am 04. 04. 90 nicht im Wohnheim. Am folgenden Tag wurde ich mittags zum Werkleiter bestellt. Dort wurde mir in Anwesenheit der Direktorin für Arbeit und Soziales mitgeteilt, dass ich die verfallene Flugkarte zu bezahlen, weitere Kosten zu tragen und eine Geldstrafe zu entrichten habe. Außerdem wurde ich unter Androhung der sofortigen Auflösung meines Arbeitsvertrages gezwungen zu unterschreiben, dass ich im Mai 1990, egal zu welchem Termin, nach Hause fliegen werde.

Alle diese Maßnahmen gegen mich wurden unternommen zu einem Zeitpunkt, da meine Aufenthaltserlaubnis noch gültig und mein Arbeitsvertrag wirksam war; ich war sozialversichert und hatte weder meine Arbeitspflichten noch die Wohnheimordnung noch sonstige gesetzliche Bestimmungen verletzt. Im Gegenteil, die Möglichkeiten zur Realisierung meines Kinderwunsches waren gesetzlich verankert. Alle diese Fakten hinderten meinen Betrieb aber nicht, mich mit allen Mitteln nach Vietnam abzuschieben. Ich schreibe Ihnen diesen Brief nicht nur, um Ihnen ein weiteres Beispiel ausländerfeindlicher Haltungen vor Augen zu führen, sondern im wesentlichen auch deshalb, um die demokratisch und humanistisch gesinnten Menschen der DDR anzuregen, über die Ursachen der Anwesenheit der ausländischen Arbeitskräfte in der DDR (die nicht nur in Vietnam oder Kuba, sondern auch in der DDR selbst liegen) und über die Zukunftsaussichten dieser Menschen nachzudenken. Durch die grundlegende Umstrukturierung der Wirtschaft der DDR wird das nach wie vor gültige Regierungsabkommen zwischen der DDR und der SRV zwangsläufig in Frage gestellt. In den vergangenen Jahren gingen wir in die Konzeptionen der Betriebe ausschließlich in der Funktion als Arbeitskraft ein. Unsere Bedürfnisse als lebendige Menschen wurden kaum berücksichtigt. Und auch in der jetzigen Situation werden ausschließlich ökonomische Faktoren über unsere Zukunft entscheiden, unsere weitere Verwertbarkeit als Arbeitskraft beziehungsweise deren Überflüssigkeit.

Die Umsetzung unserer gesetzlich verbrieften Rechte in den Betrieben wurde allein in die Hand von Betreuern der DDR für ausländische Arbeitskräfte gelegt. Wenn wir vom Schicksal begünstigt wurden, gerieten wir in gute Hände. Bei einem Betreuer mit Sinn für Gerechtigkeit und Toleranz, mit Sachkenntnissen und einer ausländerfreundlichen Grundhaltung funktioniert die Zusammenarbeit von deutschen und vietnamesischen Kolleginnen und Kollegen gut. Die alltägliche Atmosphäre im Wohnheim und im Betrieb ist trotz aller widrigen Umstände gut. In vielen Betrieben aber spielen die Betreuer seitens der DDR die Rolle eines Alleinherrschers. Das lässt sich auch dar aus erklären, dass sie, bis auf wenige Ausnahmen, weder die Sprache der zu betreuenden Arbeitskräfte beherrschen, noch sonstige Kenntnisse über deren Herkunftsland besitzen. Ihr Einsatz wurde vor allem von der Sicherheitspolitik des alten Machtapparates bestimmt. Die Demokratisierung der Gesellschaft bedeutet auch die Schaffung eines Kontrollmechanismus von unten nach oben in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Für uns, die vietnamesischen Arbeiterinnen und Arbeiter, gelten immer noch die alten Methoden der administrativen Weisung, der Drohung und Einschüchterung. Journalisten und Fotografen werden unsere potentielle Angst vor dem Betreuer schnell spüren, wenn sie mit uns ins Gespräch kommen wollen. Wir müssen unsere schlechten Erfahrungen und Erlebnisse für uns behalten und sie als Reisegepäck mit nach Vietnam nehmen.

Von mir persönlich kann ich sagen, dass ich mehr Glück habe als andere Frauen. Die Kommission Ausländerfragen des Runden Tisches der Stadt Leipzig, die Projektgruppe Ausländerintegration der KMU sowie die Gesellschaft für Völkerverständigung in Leipzig haben sich um eine humanistische Lösung meines Problems bemüht. Daher akzeptiert mein Betrieb jetzt, dass ich in der DDR entbinden werde, obwohl die Frage nach meiner Unterbringung mit dem Kind noch offen ist. Ich möchte hiermit allen meinen aufrichtigen Dank sagen, die mir geholfen haben. Vielleicht gibt es in einigen Jahren in der DDR keine vietnamesischen Gastarbeiter mehr. Die humanistische Haltung der oben genannten Organisationen bleibt in mir aber als eine Hoffnung auf menschliche Solidarität und Rücksichtnahme gegenüber dem Schwächeren gerade in dieser schweren Zeit erhalten.

Q(...)

Sonntag, Unabhängige Wochenzeitung für Kunst uns modernes Leben, Nr. 21, So. 27.05.1990

Δ nach oben