Materialien Forschungsprojekt Sozialismustheorie Aktuelle Politik 3/2/1989

Humboldt-Universität zu Berlin
Sektion m.-l. Philosophie
Rainer Land, Rosi Will, Dieter Segert

Wie wollen wir mit den entstandenen informellen politischen Gruppen und Bewegungen umgehen, und wie könnte mit dem Prozess des Umbaus des politischen Systems sowie des Staates und des Rechts begonnen werden?

2.10.1989

Die Reorganisation des politischen Systems, seiner rechtlichen Grundlage und des Staates als Zentrum des politischen Systems erfordert einen längeren Prozess verschiedener, in sich abgestimmter Reformen. Auf der Grundlage sozialistischer Machtverhältnisse und mit dem Ziel sozialistischer, sozial progressiver und gestaltbarer Gesellschaftsentwicklung sollten diese Reformen den Prozess der Interessenartikulation und -auseinandersetzung, der demokratischen Bildung einer Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung, den staatlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess und die demokratische Realisierung der im Diskurs getroffenen Entscheidungen durch die Subjekte der sozialistischen Gesellschaft so gestalten, dass die Interessen keines Subjekts unserer Gesellschaft denen anderer Subjekte subsumiert werden können, dass Innovativität, Kreativität und Individualität in den gesellschaftlichen Kommunikations- und Willensbildungsprozess eingebracht und gefördert werden und so die Entwicklungsfähigkeit unserer Gesellschaft prinzipiell verstärkt wird.

Wie diese Reformen im Einzelnen auszusehen haben, muss durch einen demokratischen Diskurs herausgefunden werden. Angebote dazu sind in unserer Studie "Überlegungen zu Problemen und Perspektiven des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels des Sozialismus und der Weiterentwicklung gesellschaftsstrategischer Konzeptionen in der DDR und anderen sozialistischen Staaten des RWG" (2. Fassung November 1989) dargelegt.

Bei den hier zu skizzierenden Sofortmaßnahmen geht es um den Einstieg in diesen Reformprozess und darum, solche Schritte zu machen, die einen Konsens über die Art und Weise der Suche nach Reformen ermöglichen, der von weiten Teilen der Bevölkerung getragen und von keinen wichtigen gesellschaftlichen Gruppen der Bevölkerung blockiert wird. Die wichtigste Frage dabei ist das Verhältnis zu den entstehenden politischen Gruppierungen, hinter denen z. T. erhebliche politische Bewegungen stehen, wie die Dimension der Demonstrationen etwa in Leipzig oder die Unterschriftensammlung zeigen.

Dabei ist unserer Meinung nach eher Stabilität und sozialistische Orientierung zu wahren, je besser es gelingt, solche Bewegungen und Gruppen über Diskurs, öffentliche Diskussion und Einbindung, auch verantwortliche Einbindung, in den gesellschaftlichen und staatlichen Willens- und Entscheidungsprozess zu integrieren. Gelingt dies, so besteht auch die Chance, kleine Gruppierungen mit extremen, verfassungsfeindlichen Zielstellungen zu isolieren und ihren Einfluss zu mindern. Werden neue politische Gruppierungen dagegen pauschal ausgegrenzt, ohne den Diskurs zu führen, so besteht die Gefahr des Anwachsens extremer Positionen, antisozialistischer Zielstellungen oder undemokratischer bzw. auf Gewaltanwendung gerichteter Meinungs- und Stimmungsbildung.

Wir sind daher dafür, einen breiten öffentlichen Diskurs in mannigfaltigen Formen und mit breitestem Inhalt zwischen den bestehenden politischen Organisationen und den neu entstandenen, vor allem dem "Neuen Forum", zu beginnen, sofern sie auf dem Boden der Verfassung der DDR stehen und deren Veränderung nicht mit unrechtmäßigen Mitteln anstreben.

Dazu schlagen wir vor:

1. Das Vereinigungs-, Organisations- und Versammlungsrecht durch von der Volkskammer beschlossene Gesetze auf der Grundlage unserer Verfassung neu zu regeln, die die bisherigen Anordnungen ablösen und die nach öffentlicher Diskussion verabschiedet werden.

1.1. Informelle Gruppen, d. h. solche, die zeitweilig und aus konkreten Bedürfnissen der Bürger entstehen, um Meinungen und Standpunkte zu verschiedenen politischen Fragen zu diskutieren, zu artikulieren oder als Vorschläge zu unterbreiten und die kein Statut, keine feste Mitgliederstruktur haben, bedürfen u. E. keiner besonderen Genehmigung. Selbst wenn Vorschriften erlassen werden, besteht praktisch keine Möglichkeit ihrer Durchsetzung, um die Arbeit solcher Gruppen ohne feste Form zu regeln. Solche informellen Strukturen gibt es in jeder Gesellschaft. Handlungsbedarf besteht bei ihnen nicht in der Regelung ihrer Arbeitsweise, sondern im Abstecken des Spielraums. U. E. ist es nötig, klar zu sagen, bis wohin der Spielraum solcher Initiativen reicht und ab wann der Staat berechtigt und verpflichtet ist, die Arbeit informeller Gruppen zu kontrollieren, zu kanalisieren oder gegebenenfalls auch zu verbieten. Dies bedeutet aber auch, dass außerhalb dieser Festlegungen ein Eingriff nicht berechtigt ist.

Als Kriterien sollten u. E. gelten:

1. Der Staat darf die Tätigkeit solcher Gruppierungen unterbinden, wenn sie nicht gewaltfrei verläuft und das Gewaltmonopol des Staates verletzt wird.

2. Der Staat darf eingreifen und gegebenenfalls unterbinden, wenn zu Verfassungs- oder Gesetzesbruch aufgerufen und dieser betrieben wird. Das gilt nicht, wenn die Änderung der Verfassung oder der Gesetze auf dem Rechtsweg angestrebt wird.

3. Der Staat darf und muss die Tätigkeit unterbinden, wenn Verfassungsfeindlichkeit vorliegt. (Gerichtsentscheid!) Die Beweislast sollte jeweils dem Staat obliegen, den Gruppen allerdings die Verpflichtung, ihre gesamte Arbeit öffentlich nachvollziehbar zu gestalten, so dass der Nachweis wie auch der Gegenbeweis der Gesetzlichkeit und Rechtmäßigkeit der Initiativgruppen u. ä. möglich ist.

Dazu kann gelten:

4. Die Arbeit informeller Gruppen muss öffentlich und nachvollziehbar sein. Ist sie dies nicht, so hat der Staat das Recht der Kontrolle. Lassen sich nichtöffentliche oder konspirative Formen der Arbeit nachweisen, so besteht ebenfalls das Recht und die Pflicht staatlichen Eingriffs.

1.2. Formelle, d. h. zugelassene und eingeschriebene Organisationen, die nicht nur auf der Basis der politischen Rechte der Bürger für die Öffentlichkeit arbeiten, wie informelle Gruppen, sondern die darüber hinaus Zugang zum politischen System, zu den Volksvertretungen oder anderen demokratischen staatlichen oder wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen anstreben, sollten durch ein gesetzlich geregeltes und gerichtlich überprüfbares Verfahren genehmigt und gegebenenfalls auch wieder verboten werden können.

Dafür sind rechtliche Kriterien und ein rechtlicher Verfahrensweg gesetzlich zu bestimmen.

Als Kriterien sollten im Prinzip gelten, dass nur solche Organisationen zugelassen werden:

- die nicht verfassungsfeindlich sind und keine antisozialistischen, nationalistischen, rassistischen oder militaristischen Ziele verfolgen;

- die ein Statut besitzen und die bereit sind, ihre Arbeit in einer öffentlich nachvollziehbaren Weise im Großen und Ganzen zu gestalten. Dazu gehört auch die Offenlegung der Finanzen. Geheimbündelei und konspirative Methoden sind verboten.

Diese Prinzipien müssen dann natürlich auch für die schon bestehenden Organisationen gelten.

Zugleich mit den Prinzipien ist der Verfahrensweg zu beschreiben, durch den gegebenenfalls die Übereinstimmung bzw. die Nichtübereinstimmung mit diesen Prinzipien festgestellt wird und eine Zulassung oder ein Verbot erfolgen darf bzw. muss.

Dabei ist es im Sinne der Verfassung der DDR nicht richtig, dies durch einen Verwaltungsakt zu regeln, der von der Exekutive ausgeht, weil dies ein Verfassungsrecht von einem Verwaltungsakt abhängig macht. Erforderlich ist ein Gesetzesakt, der regelt, ob die Zulassung durch die zuständige Volksvertretung oder eine ihrer Kommissionen oder durch ein Gericht o. ä. erfolgt. Das gilt gleichfalls für das Verbot oder die Erteilung von Auflagen, wenn in der Tätigkeit ein Verstoß gegen die o. g. Prinzipien festgestellt wird.

1.3. Legt man die Verfassung als Maßstab für die Zulassung neuer politischer Organisationen an, so ist von den vorliegenden Erklärungen des "Neuen Forum" her u. E. der Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit nicht aufrechtzuerhalten. Im Text des "Neuen Forum" vom 1. Oktober 1989 heißt es: "Für uns ist die Wiedervereinigung kein Thema, da wir von der Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgehen und kein kapitalistisches Gesellschaftssystem anstreben. Wir wollen Veränderungen hier in der DDR."

Mit dem Zulassungsverfahren sollte nicht bis zur Neuregelung des Vereinigungsrechts gewartet werden.

Wir empfehlen, das "Neue Forum" aufzufordern, ein Statut vorzulegen, das klare Aussagen enthält, aus denen zu entnehmen ist, dass das "Neue Forum" auf dem Boden der Verfassung und der Staats- und Rechtsordnung der DDR steht, deren gewaltsame Änderung nicht anstrebt und nicht zu Rechtsbruch aufruft. Natürlich ist es zulässig, die Rechtsordnung mit rechtmäßigen Mitteln zu verändern.

Liegt so ein bindendes Statut vor, sollte es geprüft werden, z. B. durch den Verfassungs- und Rechtsausschuss der Volkskammer. Nach der bisher noch geltenden Ordnung hätte der Minister des Innern dann die Entscheidung zu fällen; er sollte dabei der Empfehlung des Verfassungs- und Rechtsausschusses der Volkskammer folgen.

Wenn sich im Verlaufe der weiteren Entwicklung nach Zulassung des "Neuen Forum" oder anderer Organisationen herausstellt, dass in ihrer praktischen Arbeit verfassungsfeindliche Tendenzen auftreten, die im Gegensatz zum Statut stehen, dann kann nach einem gleichartigen Verfahren die Zulassung auch wieder entzogen werden. Eine Zwischenstufe wäre ein Verfahren zur öffentlichen Prüfung des Vorwurfs mit Aufforderung zur Korrektur der Arbeitsweise der Organisation.

2. Das Demonstrationsrecht sollte ebenfalls durch ein von der Volkskammer nach öffentlicher Diskussion zu verabschiedendes Gesetz neu geregelt werden.

Demonstrationen sind laut Verfassung der DDR rechtmäßig, wenn sie gewaltfrei verlaufen und keine verfassungsfeindlichen Ziele verfolgen. Die Realisierung dieser Demonstrationen muss aber durch eine Anmeldepflicht geregelt werden. Dies schließt ein, dass Demonstrationen organisatorisch, örtlich und zeitlich der Koordinierung mit den örtlichen Organen, z. B. Polizei, unterliegen. Dies darf aber nur die Art und Weise, den Ort und die Zeit der Demonstration betreffen, nicht ihre Zulassung an sich. Das Verbot einer Demonstration wegen Verfassungsfeindlichkeit sollte einer Entscheidung der Volksvertretung bzw. ihrer Kommission oder einem Gericht allein zustehen.

3. Eine Neuregelung ist auch für das Presse- und Medienrecht erforderlich. Dazu haben wir einen Standpunkt in einem anderen Material dargelegt.

4. Voraussetzung für die Reform des politischen Systems, des Staates und des Rechts ist der Dialog zwischen den bestehenden und neu entstandenen bzw. entstehenden informellen und u. U. eingeschriebenen politischen Initiativen und Organisationen. Dieser Dialog sollte in mannigfachen Formen und zu allen Themen der Gesellschafts- und Wirtschaftsstrategie und der Entwicklung unserer Gesellschaft geführt werden. Besonders wichtige Themen sind u. E.:

- Probleme der bisherigen Sozialpolitik und Wege zu einer qualitativ neuen Sozialpolitik, die den Bedingungen innovativen, qualitativen Wirtschaftswachstums besser entspricht und die ökologisch und sozial verantwortungsvolleren Umgang mit unseren Ressourcen bei gleichzeitiger Solidarität mit schwächeren Teilen der Bevölkerung sichert;

- Probleme des Bildungswesens, der Jugend und der Frauen als besondere soziale Gruppen und Möglichkeiten zur Reorganisation dieser Bereiche;

- Möglichkeiten zur Reorganisation des Wirtschaftssystems, so dass es der antizipierten neuen Sozialpolitik und den Anforderungen innovativen, effektiven Wirtschaftswachstums besser entspricht;

- Wege zur Reform der kommunalen Strukturen im Zusammenhang mit der qualitativen Ausgestaltung der Infrastruktur, der Wohngebiete, der Städte und Gemeinden durch die Bürger selbst und unter ihrer eigenverantwortlichen Leitung;

- Wege zur Reform des politischen Systems und seiner Kopplungen an das wirtschaftsleitende System einschließlich des Wahlsystems, der Volksvertretungen und der staatlichen Entscheidungsprozesse;

- Neuregelung des Vereinigungs-, Demonstrations- und Presserechts.

Dieser Dialog sollte in mannigfaltigen Formen geführt werden:

- in bestehenden und neu entstehenden Organisationen und Foren in Wohngebieten und Betrieben, in öffentlichen Veranstaltungen;

- in thematischen Arbeitsgruppen bei den Volksvertretungen;

- in den Medien u. a.

Ziel dieses Dialogs sollte es sein, Wege für die progressive Entwicklung unseres Landes zu suchen. Als Mitglieder der SED müssen wir in diesem Dialog überzeugend zeigen, dass langfristig lebensfähige und progressive Konzepte sozialistischer Erneuerung für alle sozialen Gruppen unseres Landes echte Entwicklungschancen bieten und dass Konzepte marktwirtschaftlicher oder kapitalistischer Entwicklung wie auch des Anschlusses an die BRD eben diese Chancen nicht enthalten, dass sie im Gegenteil sogar mit der Gefahr sozialen Abstiegs, eskalierender wirtschaftlicher Probleme und einer grundlegenden politischen Destabilisierung in Mitteleuropa und der Verschlechterung der Chancen für einen progressiven Wandel bei der Lösung der globalen Menschheitsprobleme verbunden sind. Die Möglichkeiten, neuen informellen Gruppen und Initiativen dies plausibel zu machen und einen erheblichen Teil für einen solchen Weg zu gewinnen, sind größer, wenn der Dialog auf gleichberechtigter Ebene gesucht und geführt wird, als wenn eine Abgrenzungspolitik verfolgt würde.

5. In dem Maße, in dem im Dialog Konsens gefunden wird, der durch breite politische Kräfte getragen wird, sollten praktische Schritte bei der Umgestaltung des politischen Systems, des Staates und des Rechts erfolgen.

Für die Reform der Wirtschafts- und Sozialentwicklung empfehlen wir äußerste Bedachtsamkeit. In einem Zweistufenplan sollte zunächst das bisherige Wirtschaftssystem im Grundmodell am Funktionieren gehalten werden. Planung, Kennziffern, Finanzierung, Bilanzierung, Preisgestaltung sollten vom bürokratischen Ballast befreit werden, der für ihr Funktionieren unwichtig ist und nur unnützen Aufwand bedeutet. Zugleich soll mit freigesetzten Reserven Spielraum für die Verbesserung der Versorgung und die Sanierung der Wirtschaft in den dringendsten Bereichen gewonnen werden. Dort, wo saniert und investiert wird, sollte aber schon eine ökologisch und sozial progressive Lösung mit langfristig positiver Tendenz angestrebt werden. Im Sozialbereich sind zunächst vor allem Verschwendungspotentiale abzubauen und das Einkommenswachstum leicht abzubremsen, ohne dass eine Verschlechterung der sozialen Lage auftritt. Die Substanz der bisherigen Sozialpolitik sollte noch nicht umgebaut werden. Bis 1992 wäre ein neues Konzept der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik zu erarbeiten und eine dazu passende Wirtschaftsreform mit stufenweisem Übergang. Bis dahin sollte eine breite öffentliche Debatte geführt werden, um die ideellen Prozesse der Neuorientierung von Interessen und Bedürfnissen in Gang zu bringen.

Etwa 1992 sollte nach einer Parteikonferenz und einer Volksaussprache von der Volkskammer oder einem Volkskongress ein Reformpaket zur Wirtschafts- und Sozialpolitik angenommen werden. Zu diesem Problemkreis werden wir noch einen detailliert ausgearbeiteten Standpunkt vorlegen.

Die Reform des politischen Systems, des Staates und des Rechts sowie der Partei muss schon früher beginnen, schon vor dem XII. Parteitag, vor allem aber mit und nach dem Parteitag. Die Erfahrungen der anderen sozialistischen Länder zeigen, dass eine gewisse Konsolidierung des politischen Systems Voraussetzung einer erfolgreichen Wirtschaftsreform ist. Die DDR hat gute Chancen, die Wirtschaftsreform ohne allzu tiefe Krisen zu überstehen, wenn die mit der Reform des politischen Systems einhergehenden Interessenkonflikte bis dahin schon in produktive Bahnen gelangt sind.

Dabei ist entscheidend, dass der Prozess der Integration der neuen politischen Kräfte in die praktische Realisierung von Reformen verbunden sein muss mit Reformen innerhalb der SED, durch die sie ihre führende Rolle auf konzeptionellem und strategischem Gebiet im politischen Diskurs zurückgewinnt. Diese führende Rolle kann nur darin bestehen, strategisch begründete und überzeugende Positionen in die öffentliche Diskussion einzubringen.

In dem Maße, wie dies gelingt, müssen Formen des direkten administrativen Eingriffs in staatliche oder wirtschaftliche Entscheidungsprozesse abgebaut und schließlich beseitigt werden, weil sie der führenden Rolle der Partei im gesellschaftlichen Kommunikations- und Willensbildungsprozess schaden, diese behindern und nur Ausdruck des Verlustes der wirklichen Führung sind. Darüber hinaus wird ein demokratischer staatlicher Willensbildungsprozess und Entscheidungsprozess, der andere politische Kräfte verantwortlich und gleichberechtigt einbindet, nicht möglich oder nur begrenzt möglich, solange staatliche Entscheidungen durch direkte Eingriffe der Parteiorgane außerhalb der gesetzlichen Verfahrenswege erfolgen.

Daher ist ein Prozess der Entstaatlichung der Partei, der Trennung der Partei von der direkten Kopplung an den Staatsapparat erforderlich, damit einerseits die Partei ihrer wirklichen Funktion in der Gesellschaft - der Führung im Dialog um Strategien für die Entwicklung des Sozialismus - wieder nachkommen kann und damit andererseits eine demokratische Neugestaltung staatlicher Entscheidungs- und Exekutionsprozesse möglich wird, durch die andere politische Kräfte integriert werden können.

6. Die Reform des politischen Systems, des Staates und des Rechts sowie auch der Wirtschaft ist nur zu einem Teil möglich, bevor das System der Volksvertretungen und damit verbunden der Wahlen reorganisiert ist. Daher stellt dies einen ersten Höhe- und Zielpunkt dar. Durch intensive und gründliche Vorbereitung bis dahin muss gesichert werden, dass das Parlament und die Volksvertretungen zum wirklichen Souverän gegenüber allen Organen des Staatsapparates werden. Zugleich muss verhindert werden, dass Wahlen und Neukonstituierung des Parlaments zu erdrutschartigen Veränderungen der Kräftekonstellationen zugunsten antisozialistischer Kräfte führen. U. E. gelingt das nur, wenn die SED sich schnell und zielstrebig an die Spitze der Bewegung zur Erneuerung des Sozialismus stellt und ihre konzeptionelle Kompetenz sowie ihren Apparat nutzt, um im positiven Sinne Einfluss im Spektrum der Reformbewegungen zu bekommen. Wenn sich dies genauso langsam und umständlich vollzieht wie in anderen sozialistischen Ländern, besteht die Gefahr erheblicher Verluste an konzeptionellem Einfluss, an entsprechendem Gewinn möglicherweise antisozialistischer Bewegungen. Ganz deutlich muss aber auch gesagt werden, dass ein weiteres Hinausschieben grundlegender Reformen oder bloße Scheinmanöver nicht nur den völligen Machtverlust der SED nach sich ziehen werden, sondern die DDR, wenn auch erst nach einem Zerfallsprozess über einige Jahre (oder nur Monate) in die Hände derjenigen Kräfte spielt, die kein Interesse an Sozialismus und sozial progressiven Wegen der Lösung der globalen Menschheitsprobleme und der Gestaltung Mitteleuropas haben werden. Wenn die DDR als Potential für einen progressiven Weg in Mitteleuropa und für die Entwicklung des Sozialismus erhalten werden soll, dann muss die SED schnellstens den Weg zu politischen Reformen gehen.

Nach der Rede des Generalsekretärs der SED Egon Krenz kann man davon ausgehen, dass die SED-Führung den turnusmäßigen Wahltermin im Frühjahr 1991 nicht verändern will. Wir teilen diesen Standpunkt. In Vorbereitung der Wahlen muss ein breiter Dialog mit allen politischen Kräften, den in der Volkskammer vertretenen und den neu entstandenen, auf der Grundlage der Verfassung der DDR erfolgen, der neben den in 4. genannten Themen auch die Neugestaltung der Wahlen umfasst. Die dabei zu vereinbarenden und von der Volkskammer in einem neuen Wahlgesetz zu verabschiedenden Wahlmodalitäten sollten nach unserer Empfehlung folgende Positionen festhalten:

- Voraussetzung für die Teilnahme an Wahlen ist die Verfassungsmäßigkeit und die Zulassung als politische Organisation. Es wäre aber neu zu bestimmen, welche Organisationen als politische in Wahlen einzubeziehen sind und welche nicht als politische gelten.

- Voraussetzung für das Recht, an Wahlen teilzunehmen, ist ein Übereinkommen, Medien anderer Staaten, insbesondere der BRD, nicht für die eigene Wahlpropaganda zu nutzen und keine ausländischen Gelder einzusetzen. Dafür sollten Kontrollverfahren vereinbart werden. Zugleich wäre aber zu regeln, wie und in welchem Maße politische Organisationen Finanzhilfen aus dem Staatshaushalt erlangen können.

- BRD-Medien sollten für die Zeit des Wahlkampfes nur eine Zulassung erhalten, wenn sie Neutralität wahren.

- Die BRD wäre aufzufordern, von der Praxis der Obhutspflicht für alle Deutschen, insbesondere Bürger der DDR, abzugehen und sich in den Prozess der Selbstbestimmung und Selbstfindung des Volkes der DDR nicht einzumischen. Dazu sollten Abkommen mit den Parteien und der Regierung der BRD angestrebt werden.

- Für die Wahlen empfehlen wir eine Neuordnung der Nationalen Front als Vereinigung aller sich an Wahlen beteiligenden Organisationen auf einem Minimalkonsens - Akzeptanz der gemeinsam vereinbarten Wahlregeln. Für die Wahlregeln schlagen wir ein Verhältniswahlrecht mit Mindestsatz von 5 Prozent vor. Bei der ersten Wahl kann man versuchen, noch Sicherheiten zu vereinbaren, um erdrutschartige und Destabilisierungsgefahren nach sich ziehende Veränderungen der Kräfteverhältnisse zu verhindern.

- Für alle strittigen Fragen, z. B. BRD-Medien, Einmischung, Finanzierung und gegenseitige Kontrolle, sollte eine Kommission der Nationalen Front zuständig sein, in der alle beteiligten Parteien und Organisationen und unabhängige Personen mitarbeiten.

Eine Beibehaltung unseres jetzigen Wahlsystems dagegen ist für die neuen Kräfte nicht akzeptabel, auch nicht, wenn sie in die Einheitsliste aufgenommen würden. Eine Wahl unter diesem Modus würde die SED nicht wirklich stärken oder sichern, sondern dazu führen, dass das gesamte Wahlsystem noch weniger akzeptiert würde und der gesamte Reformprozess sich diskreditiert. Die SED muss sich daher einer Wahl stellen und sich darauf einstellen, zwar als starke politische Kraft aus den Wahlen hervorzugehen, aber auch erhebliche Verluste hinzunehmen. Es bestehen aber echte Chancen, durch eine offensive Politik Akzeptanz zurückzugewinnen, zwar nicht die absolute Mehrheit, aber doch eine starke oder die stärkste Fraktion in einem Parlament zu gewinnen.

Nach Wahlen muss dann das Parlament zum Zentrum der praktischen Reform von Wirtschaft, politischem System, Staat und Recht werden, dem eine vielfältige öffentliche Kommunikationsstruktur mit Parteien, Organisationen und informellen Initiativen als Öffentlichkeit gegenübersteht und in dem sich die SED um eine führende Position bemüht und darum kämpft.

7. Wir halten die baldige Installation eines Verfassungsgerichts für eine sehr sinnvolle und wirksame Maßnahme. Erstens kann so schon ein erheblicher Teil von Reformen unterstützt werden, indem durch eine Interpretation und Rechtsprechung auf der Basis der gegebenen Verfassung dazu beigetragen wird, Gesetze und praktische Arbeit der Staatsorgane umzugestalten, so dass der Widerspruch zwischen der progressiven Verfassung der DDR und der ihr in weiten Teilen widersprechenden Verfassungswirklichkeit in der praktischen Rechtsgestaltung und der Arbeit der Staatsorgane schrittweise abgebaut wird. Ein solches Gericht sollte durch einen Gesetzgebungsakt der Volkskammer mit verfassungsändernder Wirkung wenn möglich schon vor den Wahlen installiert werden, sei es auch nur übergangsweise.

Das hätte den Vorteil, dass es bei Konflikten in Vorbereitung und Durchführung der Wahlen und bei der Konstituierung des Parlaments ein Organ gibt, das ein letztes Wort zur Regelung dieser Konflikte sprechen kann. Konflikte werden somit erst einmal an das Gericht und auf den Rechtsweg verwiesen, bevor sie auf der Straße ausgetragen werden. Mit der Konstituierung der neu gewählten Volkskammer sollte das Verfassungsgericht dauerhaft arbeiten. Als übergangsweise Lösung sollten wir versuchen, einen integren, vertrauenswürdigen Obersten Richter z.B. aus den Kreisen der LDPD vorzuschlagen.

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