"Es hat sich eine tiefe politisch ökonomische und moralische Krise entwickelt"
Eine Aufforderung zur Reform der SED
Wir erwarten von den Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees,
dass sie die Gedanken und Impulse der demokratischen Volksbewegung in unserem Lande in sich aufnehmen, jener Volksbewegung, der wir uns zutiefst verpflichtet fühlen. Die ersten Schritte in der Richtung eines von Kopf bis Fuß erneuerten Sozialismus wurden unter dem Druck des Volkes eingeleitet. Ausgelöst von dem Fortgehen der vielen, die unser Land in der kurzen Zeit verlassen haben, wurden sie getragen und durchgesetzt von denen, die auf Straßen, in Kirchen und Sälen, überhaupt nicht organisiert, in neuen Bewegungen, in unserer Partei und in anderen schon existierenden Organisationen um einen anderen, besseren Sozialismus streiten.
Solidarität neuer Art hat dieses Land - DDR - ergriffen. Aufbruchstimmung herrscht, Widersprüche werden offenbar. Solidarität von Millionen miteinander in dem elementaren Gefühl, dass sie selbst eine gravierende Umwälzung der Gesellschaft vollziehen müssen, dass sie für ein reinigendes Gewitter die Verantwortung tragen und das große Reinemachen in der Gesellschaft - so ein Bild von Johannes R. Becher - nicht Reinigungskommissionen hinter verschlossenen Türen überlassen können. Dieser Aufbruch, allzu lange von dem vom Politbüro zu verantwortenden Druck gegen kritische Stimmen in der eigenen Partei, von falsch verstandener Parteidisziplin und Mangel an Zivilcourage zurückgehalten, kommt mit großer Wucht auch aus der eigenen Parteibasis. Das, was der tiefste Inhalt der Entwicklung in der Sowjetunion seit der Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU ist, der Übergang zu einem weiteren großen Abschnitt des sozialistischen Revolutionszyklus, zur grundlegenden Erneuerung des Sozialismus, zur Befreiung von allen Zügen seiner Verkrustung, zu einem zweiten Atem der Revolution, zur Einheit von Revolution und Individuum, nimmt unter anderen Bedingungen und ihr gemäß nun auch in der DDR Gestalt an. Aber er ist, anders als in der Sowjetunion, nicht von der Führung des Landes ausgegangen.
Deshalb, und tiefer noch wurzelnd, sind Gräben zwischen großen Teilen des Volkes und der SED, zwischen Volk und Regierung, innerhalb unserer Partei und in anderen Parteien und Organisationen entstanden. Mehr noch: Es hat sich eine tiefe politische, ökonomische und moralische Krise entwickelt. Dafür trägt die Partei, insbesondere die bisherige Parteiführung, voll und ganz die Verantwortung. Wir können nur durch die eigene Leistung für die ganze Gesellschaft zur Überwindung dieser Entfremdung beitragen.
Wir erwarten von den Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees,
erste Schritte einzuleiten, um eine grundsätzlich neue und höhere Entwicklungsstufe des Sozialismus auf deutschem Boden zu erreichen. Dies verlangt den Übergang von den zentralistisch-administrativen Grundstrukturen, der Realisierung sozialistischen Eigentums und sozialistischer Macht, zu demokratischen Formen der Verwirklichung der Macht der Werktätigen auf allen Gebieten. Wir streben die freie Entwicklung eines jeden als der grundlegenden Bedingung der solidarischen Entwicklung aller an.
Wir erwarten von den Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees,
dass sie eine radikale demokratische Erneuerung unserer Partei, als wichtigen Teil unseres sozialistischen Umgestaltungsprozesses der DDR, einleiten. Die Wende kann nur unumkehrbar gemacht werden, wenn alle Mitglieder unter erneuerter Führung unserer Partei ihre politische Erfahrung, ihr demokratisches Potential und ihre sozialistischen Ideale in diesen Prozess einbringen. Die nahezu 2,3 Millionen Mitglieder und Kandidaten unserer Partei haben in ihrer großen Mehrheit die bisherige Entwicklung durch fleißige Arbeit und viele zusätzliche Leistungen mit getragen. Sie sind mitten im Volk, teilen die Sorgen und die Fragen der Bevölkerung, sie wollen mehr und einen besseren Sozialismus, deswegen erwarten sie eine klare Antwort des Zentralkomitees der Partei. Sie brauchen eine Basis, um aufrecht und wiederum mit ganzer Kraft an der Erneuerung unserer Gesellschaft mitzuwirken.
Der führende Einfluss der Politik der Partei wird von uns selbst als erforderlich für den Sozialismus in der DDR angesehen, er kann aber nicht aus festgeschriebenen Formeln abgeleitet werden. Er ist ein Anspruch an die Partei, der politisch immer wieder neu bestätigt werden muss - durch unsere Fähigkeit, tragfähige Konzepte zur Lösung der brennenden gesellschaftlichen Probleme vorzuschlagen, durch die Arbeit, das kluge und moralisch integre Handeln der Mitglieder der SED. Wir müssen uns künftig im Wettstreit mit anderen politischen Kräften der Gesellschaft demokratischen Wahlen stellen. Mitgliedschaft in der Partei darf keine Vorbedingung für die Ausübung beruflicher Tätigkeit sein. Der Volkskammer sollte vorgeschlagen werden, entsprechende Gesetzesgrundlagen für die Korrektur der staatlichen Kaderpolitik zur Diskussion zu stellen und zu beschließen.
Das Zentralkomitee sollte beschließen, alle Sonderregelungen und Vergünstigungen, die nicht durch Leistungen gerechtfertigt werden, sofort außer Kraft zu setzen. Es sollte der Regierung vorschlagen, in gleicher Weise zu verfahren.
Wir brauchen vor allem auch auf diesem Gebiet Augenmaß und Transparenz. Die einzig akzeptable Basis für Vergünstigungen kann nur die persönliche Leistung für die Gesellschaft sein. In diesem Sinne brauchen wir keine gedemütigten, sondern vom Volke oder von allen Mitgliedern der Partei gewählte Führungskräfte, die das Vertrauen durch große Leistungen und eine volksverbundene Arbeitsweise rechtfertigen.
Die Wege und Mittel einer Erweiterung der innerparteilichen Demokratie müssen durch die gesamte Partei, alle ihre Mitglieder erarbeitet werden. Auch die Meinung anderer politischer Kräfte ist gefragt. Schon jetzt sind Garantien für die Verwirklichung der Rechte der Mitglieder und aller Grundorganisationen im Verhältnis zu den gewählten Leitungen zu schaffen. Das Zentralkomitee sollte sich auf folgende Veränderungen in der Praxis der Parteiarbeit orientieren, die dann auf einem außerordentlichen Parteitag bzw. auf einer Parteikonferenz bestätigt, korrigiert oder erweitert werden können:
- Sicherung geheimer Wahlen, Alternativvorschläge für Funktionsbesetzungen, direkte Wahl eines Teiles der Delegierten zum Parteitag durch die Grundorganisationen.
- Begrenzung der Zeitdauer für die Ausübung von Wahlfunktionen auf zwei Perioden. Festlegung einer Altersgrenze für die Ausübung leitender Funktionen. Schaffung eines geregelten Verfahrens zur vorzeitigen Abberufung.
- Herstellung einer Öffentlichkeit über die Tätigkeit der Partei, Offenlegung der Verwendung der Finanzen des Bestandes des Parteiapparates.
Der Marxismus, einschließlich der durch Lenin vorgenommenen Entwicklung, bleibt die Weltanschauung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und die theoretische Grundlage ihres Handelns. Die SED sollte sich zukünftig nicht nur ihrer kommunistischen, sondern auch ihrer sozialistischen Traditionen bewusst werden. Die marxistisch-leninistische Theorie darf nicht länger der aktuellen Politik untergeordnet werden. Sie ist vor allem Handlungsorientierung und muss sich angesichts neuer Bedürfnisse der Menschen, neuer Probleme der menschlichen Zivilisation, neuer Erkenntnisse der Wissenschaften unablässig weiterentwickeln.
Wir erwarten von den Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees,
die Wege für die Erreichung einer vollen Souveränität des Volkes und einer grundlegenden Demokratisierung zu weisen. Die SED sollte sich für eine tiefgreifende Reform des politischen Systems und des Staates einsetzen. Wir brauchen Machtausübung durch das Volk. Der mündige Bürger, sein Anspruch auf freie Entfaltung und auf demokratische Teilnahme an allen Angelegenheiten von Gesellschaft und Staat gehören in den Mittelpunkt unserer Politik.
Die Volksvertretungen müssen von nun an ihre Funktion als souveräne Machtorgane, die dem Volk verantwortlich sind, uneingeschränkt ausüben. Niemand darf Autorität und Entscheidungsrecht der Abgeordneten einschränken.
Eine demokratische Gestaltung der Entscheidungsprozesse verlangt öffentliche Diskussion von Projekten, Einsicht in Entscheidungsunterlagen und umfassende demokratische Kontrolle.
Die SED sollte alle Bestrebungen für die Entwicklung eines Parteienpluralismus in unserem Lande unterstützen und den demokratischen Konsens anstreben. Dazu gehört auch die Zulassung neuer politischer Organisationen, die den Willen nicht kleiner Teile zur Erneuerung des Sozialismus ausdrücken.
Eine Grundlage der Erneuerung sollte ein vielfältiges System von Parteien, Organisationen und Verbänden sein. Gewerkschaft und Jugendverband sollten sich als freie und demokratische Organisationen entwickeln, die die Interessen der Werktätigen bzw. der Jugend vertreten. Wir sollten das Wirken aller Bürgerinitiativen auf dem Boden unserer Verfassung unterstützen.
Wir sollten für ein Wahlrecht eintreten, das eine wirklich freie, allgemeine, demokratische und geheime Wahl gewährleistet und in jedem Stadium der Wahl die öffentliche Kontrolle garantiert.
Wir brauchen eine kommunale Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden, die sich auf kommunales Eigentum und das garantierte Verfügungsrecht über eigene Einnahmen und materielle Fonds stützt.
Unser Anliegen sollte eine reiche politische Kultur der sozialistischen Gesellschaft sein. Das heißt wahrheitsgemäße Information, Meinungsvielfalt und Meinungsstreit, Toleranz mit Andersdenkenden und ehrliches Ringen um gemeinsame Lösungen. Entschieden sollten wir uns mit jenen auseinandersetzen, die die Beseitigung des Sozialismus anstreben.
Die SED sollte sich für die Entwicklung eines sozialistischen Rechtsstaates einsetzen, der von den Grund- und Menschenrechten ausgeht und die Gesellschaft durchgehend auf der Grundlage des Rechts organisiert. Dazu gehören ein durchschaubares Verwaltungsrecht, die strikte Wahrung der Unabhängigkeit des Richters, eine funktionierende Gesetzlichkeitsaufsicht des Staatsanwaltes und eine erweiterte Vertretung der Bürger durch die Rechtsanwälte.
Wir erwarten von den Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees,
dass sie auf der Grundlage einer nüchternen, ehrlichen und offenen Analyse der ökonomischen Situation auf die Ausarbeitung einer notwendigen Wirtschaftsreform Einfluss nehmen.
Die gesellschaftlichen Ziele für die kommenden Jahre müssen den wirtschaftlichen Erfordernissen und Möglichkeiten entsprechen Diese sind durch die derzeitigen Potenzen begrenzt und müssen durch ein tragfähigeres Wirtschaftssystem erweitert werden. Dafür die Spielräume zu schaffen muss untrennbar mit der Neugestaltung des Wirtschaftsmechanismus verbunden sein.
Es sollen hier einige Gedanken in die Diskussion eingebracht werden:
- In erster Linie sollte es um eine höhere Lebensqualität als dem eigentlichen Wachstumsziel und um den langfristigen Übergang zum intensiven Reproduktionstyp gehen.
Wir haben das Verhältnis von Leistungsprinzip und Sozialpolitik, sozialer Sicherheit und ökologischen Bedürfnissen neu zu bedenken. Unsere Partei muss ein neues Verhältnis zu den weitreichenden Aufgaben gewinnen, die auch eine reale Gleichstellung der Geschlechter ergeben.
- Für die Entwicklung der Lebensqualität der Bevölkerung in den neunziger Jahren sollten die sich international langfristig vollziehenden Wandlungen der Bedürfnisstrukturen der Bevölkerung bei insgesamt wachsendem Verbrauchsniveau an Konsumgütern und Leistungen in Richtung auf die Wiederherstellung und Erhaltung der natürlichen und von Menschen gestalteten Umwelt, ein höheres Niveau der Gesunderhaltung der Menschen bis ins hohe Alter und ein kulturvolleres Arbeiten und Leben gerichtet werden.
- Für die weitere Entwicklung der Wohnkultur treten Erhaltung und Instandsetzung der vorhandenen Bausubstanz in den Vordergrund. Besondere Aufmerksamkeit sollte den Klein- und Mittelstädten sowie dem innerstädtischen Altbau in unseren Großstädten mit ihrer beträchtlich verschlissenen Bausubstanz gewidmet werden.
- Wissenschaftlich-technischer Fortschritt muss beschleunigt und volkswirtschaftlich breitenwirksam gemacht werden. Letzten Endes können nur Produktivität, Kosten und Exporteffektivität für das Niveau wissenschaftlich-technischer Leistungen maßgeblich sein. Es sollte verantwortungsbewusst und gründlich untersucht werden, auf welchen Gebieten die DDR an der Hochtechnologie-Entwicklung teilnimmt und mit welchen spezifischen Stärken sie sich an dem internationalen arbeitsteiligen Prozess beteiligt.
- Es ist über Strukturveränderungen in der Produktion, im Außenhandel und im gesellschaftlichen Arbeitsvermögen nachzudenken, um die materiellen Voraussetzungen für eine hohe Effektivitätsdynamik, die ständige Sicherung der volkswirtschaftlichen Proportionalität und die Befriedigung sich verändernder Bedürfnisse zu gewährleisten. Dabei ist unser Wissenschaftspotential voll zur Geltung zu bringen.
- Es sind die langfristigen Entwicklungsrichtungen zur Sicherung der Rohstoff- und Energieversorgung der Volkswirtschaft der DDR zu bestimmen unter Beachtung der Aufwendungen, der ökologischen Folgen der Eigenproduktion und der zu erschließenden Möglichkeiten für den rationellsten Energieeinsatz.
- Für die Eingliederung der Wirtschaft der DDR in die internationale Arbeitsteilung, insbesondere innerhalb des RGW und mit dem EG-Markt, müssen die eigenen Möglichkeiten, Erfahrungen und Schwerpunkte exakt bestimmt werden.
Alles das - und viele weitere Fragen - müssten für eine durchdachte, tragfähige Wirtschaftsstrategie unseres Landes gemeinsam mit vielen Wissenschaftlern und Praktikern ausgearbeitet und mit der Bevölkerung demokratisch diskutiert und entschieden werden. Das "Jonglieren" mit Zahlen von vier und fünf Prozent Wachstum an Nationaleinkommen ist keine Entscheidungsbasis für die wirtschaftliche Entwicklung der kommenden Jahre.
Eine kritische Analyse der Lage zeigt, dass die Funktionsfähigkeit des Systems der Leitung und Planung in der DDR durch einen zu hohen Grad der Zentralisierung von Entscheidungen, durch das Vorherrschen administrativer Methoden sowie durch Bürokratie beeinträchtigt wird. Verstöße gegen objektive ökonomische Gesetze, insbesondere die Gesetze der sozialistischen Warenproduktion und das sozialistische Prinzip der Verteilung nach der Leistung haben dazu geführt, dass sich die inneren Triebkräfte des Sozialismus nicht voll entfalten konnten. Dieses Wirtschaftssystem ist vom Leben überholt. Mit ihm wird der demokratische Charakter unserer Gesellschaftsordnung unvollkommen und in starkem Maße nur formal durchgesetzt.
Wir werden einen völlig neuen Wirtschaftsmechanismus brauchen. Die Werktätigen müssen sich darin als politischer Souverän und als gesellschaftlicher Eigentümer mit ihren Interessen verwirklichen und erkennen.
Der springende Punkt für einen neuen Wirtschaftsmechanismus besteht darin, die Vorzüge der sozialistischen Planung mit den stimulierenden Wirkungen des Marktes in Einklang zu bringen. Das erfordert eine neue Stellung der Betriebe und Kombinate im Wirtschaftssystem als sozialistische Warenproduzenten mit eigener Verantwortung auf dem Markt. Damit wird es zu einem grundlegenden Erfordernis, den Wirtschaftsmechanismus von unten nach oben, d. h. ausgehend von den Wirtschaftseinheiten und Territorien, neu zu gestalten.
Die wirtschaftliche Rechnungsführung ist vollständig durchzusetzen und das darin eingeschlossene Prinzip der Eigenerwirtschaftung der Mittel durch die Betriebe und Kombinate zu verwirklichen. Damit muss das ökonomische Ergebnis des Betriebes mit den Interessen und Arbeitshaltungen der Werktätigen sowie mit sozialen Leistungen des Betriebes für die Belegschaftsangehörigen verbunden werden. Damit würden auch die Gewerkschaften ein erweitertes Feld demokratischer Mitbestimmung im Arbeitsprozess bis hin zur Tarifpolitik erhalten.
Demokratisierung der Planung stellt uns vor die Aufgabe, die Konzipierung der Pläne tatsächlich in den Betrieben, in den Arbeitskollektiven zu beginnen. Sie müssen von den gesellschaftlichen Bedürfnissen ausgehen, die sowohl in volkswirtschaftlichen Orientierungsgrößen und staatlichen Aufträgen bestehen, aber vor allem in den Wirtschafts- und Handelsverträgen mit dem Abnehmer und Verbraucher zum Ausdruck kommen.
Die zentrale staatliche Leitung und Planung sollte künftig auf die Gewährleistung ausgeglichener volkswirtschaftlicher Proportionen und Bilanzen, eine effektive volkswirtschaftliche Struktur der Produktion bei zunehmender Arbeitsteilung, die Ausarbeitung langfristiger Strategiekonzepte für die ökonomische und soziale Entwicklung, wie z. B. für die Versorgung mit Rohstoffen und Energieträgern sowie auf stabile Staatsfinanzen auf der Grundlage ausgeglichener Proportionen von Kauffonds und Warenfonds, gerichtet sein.
Die Bilanzierung sollte ihrer administrativen Zuteilungsfunktion entkleidet und auf ihre eigentliche Rolle zurückgeführt werden, nämlich proportionale und effektive Lösungen für das vertragliche Zusammenwirken der Wirtschaftseinheiten aufzufinden, vorzubereiten und zu unterstützen.
Mit einem neuen Verständnis des Verhältnisses eigenverantwortlicher Wirtschaftseinheiten und einer an Grundprozessen orientierten zentralen Leitung und Planung sollte auch eine Neubestimmung der Geld-, Finanz- und Kreditbeziehungen sowie der Preisbildung erfolgen. Die Anerkennung der Gleichrangigkeit von materiellen und finanziellen Kennziffern und Prozessen sowie die Zuerkennung eines selbständigen Entscheidungsfeldes für Kombinate, Betriebe und Territorien stellt sozusagen die Nagelprobe für die faktische Anerkennung der sozialistischen Produktion als planmäßige Warenproduktion dar.
Ein Element der zu erarbeitenden Wirtschaftsreform sollte die Konzeption zur Entwicklung vielfältiger Formen des staatlichen und genossenschaftlichen sozialistischen Eigentums an Produktionsmitteln sein, die auf eine Stärkung der Eigentümerfunktion der Werktätigen gerichtet und mit dem Leistungsprinzip verbunden ist. Dabei sollten vor allem auch der privaten Wirtschaft wieder größere Spielräume und Entfaltungsmöglichkeiten gegeben werden.
Die Verantwortung der örtlichen Volksvertretungen und ihrer Räte für die komplexe ökonomische und soziale Entwicklung in den Territorien ist zu erhöhen. Dabei muss sich die wirtschaftliche im Zusammenhang mit der sozialen Entwicklung der Territorien vollziehen.
Mit gleicher Verantwortung sind die nächsten Maßnahmen und Schritte zur Stabilisierung der Volkswirtschaft einzuleiten. Illusionen sollten von niemandem genährt und demagogische Versprechungen nicht zugelassen werden. Es ist ein dringendes Erfordernis, an bestehenden, wenn auch kritikwürdigen Regelungen festzuhalten, solange es keine besseren Methoden und Mechanismen gibt. In allen Betrieben und Einrichtungen sollten die Planziele und vor allem die Verträge ernst genommen und alle Bemühungen um eine bestmögliche Ausnutzung der vorhandenen Arbeitszeit gefördert werden. Zu den Sofortmaßnahmen gehört auch die Vorbereitung auf einen eventuell sehr strengen Winter, bei dem es trotz der angespannten Lage an keiner Stelle zu Einbrüchen kommen darf. Mit größter Sorgfalt sollten die Aufgaben in Produktion, Handel und Transport für die Versorgung der Bevölkerung verwirklicht werden. Für jeden ist es jetzt eine besonders ernste Pflicht, vom Bedarf des Partners ausgehend, die Verträge zu realisieren.
Für das Jahr 1990 wird es notwendig sein, im Zusammenhang mit dem Plan zunächst ein wirtschaftliches Stabilisierungsprogramm auszuarbeiten. Es sind Bedingungen zu schaffen, dass die fleißige und schöpferische Arbeit Millionen Werktätiger zu einer höheren Steigerung des im Inland verfügbaren Nationaleinkommens zur Stärkung der produktiven Akkumulation und einer leistungsbezogenen Konsumtion führt. Dafür müssten Maßnahmen durchdacht werden, die darauf abzielen, eine weitere unkontrollierte Einkommensentwicklung abzubremsen, insbesondere solche, hinter der keine Leistungen stehen. Es sollte überlegt werden, wie weit die Spielräume für die bessere Verwirklichung des Leistungsprinzips im Rahmen der geplanten Lohnfonds verwirklicht werden. Damit im Zusammenhang sind erste spürbare Schritte zur Verringerung des Leitungs- und Verwaltungsaufwandes zugunsten produktiver Leistungen und der Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich zu realisieren.
Die Regierung der DDR sollte weitreichende Möglichkeiten für die enge Zusammenarbeit, Verflechtung und langfristige Kooperation zwischen Kombinaten der DDR und Konzernen der BRD sowie zwischen volkseigenen Betrieben und mittelständischen Betrieben untersuchen und den kompetenten Vertretern der BRD zur Verhandlung unterbreiten.
Wir erwarten von den Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees,
dass sie auf die Wechselwirkungen zwischen Außen- und Innenpolitik im Erneuerungsprozess Einfluss nehmen. Es sind neue Anstrengungen, Überlegungen und Taten notwendig, um die Rolle der DDR als Faktor des Friedens, der Sicherheit, des internationalen Dialogs und der Zusammenarbeit in einer sich wandelnden Welt zu konsolidieren und erneut zu stärken - mit dem Ziel, die grundlegenden Interessen unseres Landes auch in Zukunft zu wahren und bei der Gestaltung einer friedlichen Welt aktiv mitzuwirken.
Es entspricht zutiefst den Empfindungen der übergroßen Mehrheit unserer Parteimitglieder, dass die Freundschaft und enge Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, das feste Bündnis zwischen unseren Parteien, auf neuer Grundlage wieder uneingeschränkt wirksam wird. Das ist eine der entscheidenden Bedingungen für den Erfolg des Erneuerungsprozesses in der DDR. Auch in der Zusammenarbeit mit allen sozialistischen Staaten, im schöpferischen Erfahrungsaustausch mit den Bruderparteien dieser Länder sollten wir eine wesentliche Gewähr für den Erfolg der Erneuerung in der DDR sehen.
Der sozialistische deutsche Staat sollte in den Bau eines gemeinsamen europäischen Hauses seine eigenen, konstruktiven Vorstellungen einbringen und Konzepten entgegenwirken, die den Sozialismus in Europa hinwegtransportieren wollen.
- Politisch geht es auch um neue Formen und Inhalte systemübergreifender Zusammenarbeit und des Dialogs, einschließlich der Schaffung übergreifender politischer Strukturen. Die DDR muss uneingeschränkt für die Verwirklichung der Schlussakte von Helsinki nach außen und innen wirken. Im Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten ist bei Realitätssinn und Vernunft auf beiden Seiten, bei wechselseitiger Respektierung von Existenzberechtigung und Souveränität, eine Entwicklung denkbar, dass noch in diesem Jahrhundert Beziehungen wie zwischen anderen deutschsprachigen Staaten in Europa hergestellt werden können.
Bei einer vernünftigen Zusammenarbeit, die auf Konsens und Stabilität gerichtet ist, werden die Menschen in beiden deutschen Staaten gewinnen. Es ist auch denkbar, dass schon in absehbarer Zeit die "Mauer" ein Relikt der Vergangenheit ist, wenn durch geeignete Maßnahmen, mitgetragen von der Regierung der BRD und vertraglich mit ihr geregelt, eine Schädigung der Wirtschaft der DDR zum Nachteil der Bürger unseres Landes verhindert wird.
In diesem Sinne sind wir für die Überwindung der Spaltung Europas, nicht aber als Überwindung der unterschiedlichen sozialen Ordnungen.
Wir erwarten von den Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees,
dass überschaubare Schritte zur Entwicklung unserer Partei eingeleitet werden. Die auf diesem Plenum des Zentralkomitees zu bestimmenden Konturen sollten den Weg bis zu einem außerordentlichen Parteitag fixieren, auf dem weitergehende konzeptionelle Vorstellungen beraten und die notwendigen Kaderentscheidungen getroffen werden. Es müssen qualifizierte, dynamische und parteiverbundene Kader sein, die sich mit Leidenschaft und ganzer Kraft dem Erneuerungsprozess widmen.
Heinz Albrecht, Sekretär für Wirtschaftspolitik der Bezirksleitung Berlin der SED; Prof. Dr. Dieter Klein, Humboldt-Universität; Prof. Dr. Knop, Hochschule für Ökonomie "Bruno Leuschner"; Prof. Dr. Klaus Kolloch, Humboldt-Universität; Prof. Dr. Alfred Kosing, Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee; Prof. Dr. Rolf Reißig, Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED; Wolfram Krause, Abteilungsleiter Bezirksleitung Berlin der SED; Prof. Dr. Max Schmidt, Institut für Internationale Politik und Wirtschaft; Prof. Dr. Klaus Steinitz, Akademie der Wissenschaften; Prof. Dr. Will, Humboldt-Universität; Prof. Dr. Gerhard Wittich, Hochschule für Ökonomie; Prof. Dr. Dieter Segert, Humboldt-Universität; Dr. Michael Brie, Humboldt-Universität; Dr. Rainer Land, Humboldt-Universität; Prof. Dr. Klaus Viertel, Akademie der Wissenschaften.
[November 1989]