Zur derzeitigen politischen Situation in der DDR | September 89 |
Wir erleben in diesen Tagen mit tiefer Anteilnahme den täglichen Massenexodus von DDR-Bürgern über die ungarische Grenze in die BRD. Wir hören und sehen mit Befremden die Frontberichterstattung der Medien. Wir nehmen mit Gänsehaut die Statements Geflohener zur Kenntnis die "endlich in Freiheit" sind. Wir erleben in der DDR im Moment so etwas wie eine revolutionäre Situation: Zehntausende Mitbürger sind bereit, für ihren Traum von einem anderen Deutschland ihren sozialen Zusammenhang und ihre Existenz zu verlassen. Wir sind traurig darüber, dass sie diesen Traum nicht im eigenen Land verwirklichen wollen und an den Realitäten des Nachbarstaats BRD ernüchtert werden, die beben gar nichts mit ihrem Traum zu tun haben.
Wir klagen die DDR-Behörden an, durch jahrzehntelange Bevormundung von der Wiege bis zur Bahre, durch ihre rigide Informationspolitik diese Realitätsfremdheit verschuldet zu haben.
Kein Zweifel, der Traum vom Freiheits-Wirtschaftswunderland BRD ist geprägt von der Propaganda der Westmedien. Über Jahrzehnte haben sie es verstanden, den DDR-Bürgern die Überlegenheit des westdeutschen Lebensmodells zu suggerieren. Aber diese Suggestion konnte nur so durchschlagend [sein], weil die DDR-Behörden nie in der Lage gewesen sind, ihren Bürgern bis in den Alltag fassbares Gegenmodell zu geben. Soziale Sicherheit war immer verbunden mit Entmündigung. DDR-Bürger zu sein bedeutete als ökonomisches Zahnrad Untertan und Eigentum der Behörden zu sein und im Austausch "großmütige" Almosen ausgezahlt zu bekommen. Sozialer Aufstieg bedeutete nicht, durch Erwerb von Wissen und schöpferischen Fähigkeiten der Subalternität und Unwissenheit zu entrinnen, sondern war unentrinnbar verbunden mit einem Treueid auf die offizielle Staatsreligion und der Aufgabe von verbliebenen eigenständigen Positionen und Freiheitsspielräumen. Die SED hat zustande gebracht, was kapitalistische[n] Ideologen nie gelungen ist. Indem sie behauptete, ihre Behördendiktatur sei der einzige Weg zum Sozialismus, wurde die Idee des Sozialismus bei der Bevölkerung der DDR völlig diskreditiert.
Diese Art von Politik steht jetzt vor ihrem politischen und wirtschaftlichen Bankrott. Es zeigt sich, dass die Versprechen, mit denen die Behörden den Untertanengeist belohnen wollten, ständig wachsender Konsum, nicht eingelöst werden können. Im konkurrierenden feindlichen Nachbarstaat BRD wird Hörigkeit viel besser bezahlt und lässt das Repressionssystem beneidenswert große Freiheitsspielräume offen. Nicht nur das, nur ganz Blauäugige können noch an eine Zukunft der in der DDR praktizierten Politik und Wirtschaft glauben. Längst werden von den Herrschenden die Standards nur noch durch den Ausverkauf des Landes gehalten: Billiglohnarbeit für kapitalistische Firmen oder zum Dumping auf dem kapitalistischen Weltmarkt, Giftmüllimport im großen Maßstab aus ganz Westeuropa, Export des Kulturerbes von Gaslaternen bis antiken Möbeln, Verseuchung des ganzen Landes mit umweltzerstörenden Industriezweigen für den kapitalistischen Weltmarkt, von ODT bis zur Schweinefleischproduktion. Diejenigen, die das wissen verlassen jetzt das sinkende Schiff.
Wir haben in der Vergangenheit die Behörden oft genug zu einer Umkehr zu einem echten, freiheitlichen Sozialismus aufgerufen. Wir teilen die Auffassung von Stefan Heym, dass die Regierung der DDR durch glaubwürdige Maßnahmen zur Demokratisierung des Systems und zur Rechtsicherheit über Nacht den Flüchtlingsstrom eindämmen könnte. Wir lesen, hören und sehen aber täglich in den DDR-Medien, dass die Herrschenden unbelehrbar darauf beharren, dass ihr Kurs der Richtige ist und das Land weiter in die Sackgasse führen.
Wir sehen, dass die zweite große Bevölkerungsbewegung im Land neben der Ausreisebewegung nicht eine ist, die auf Emanzipation drängt. Latent und manifest fassen in immer weiteren Teilen der Bevölkerung rechte Ideen Fuß. Staat sich vom Staat zu befreien, ersehnen sie einen anderen starken Staat und starke Männer, mit denen sie sich identifizieren können. Statt Gesellschaft als soziale Verbindung und Freiheit wiederherzustellen, grenzen sich Deutsche von Ausländern ab und rekultivieren den Hass auf Fremdgruppen. Wir wissen, dass auch diese andere Bewegung Ergebnis der jahrzehntelangen Erziehung zur Unmündigkeit ist.
Wir fürchten uns davor, dass infolge der Katastrophenpolitik der herrschenden in unserem Land in naher Zukunft erneut die Lichter ausgehen, dass entweder die Herrschenden die Zuflucht zum Terror nehmen müssen oder ein rechtes Terrorregime die Nachfolge der SED antritt. Beides muss sich nicht einmal ausschließen, denn unserer Beobachtung nach sind auch bereits große teile der Sicherheitsorgane mit rechten Ideen verseucht.
Wir fordern alle Menschen des Landes auf, sich zu einer Kraft zu sammeln, die solche Entwicklungen aufhalten kann. Wir fordern alle emanzipatorischen Kräfte auf, die Situation neu zu durchdenken und zu versuchen, authentische demokratische und linke Konzepte vermittelbar und populär zu machen. Dabei wird es darum gehen, konsensfähig und kompromissfähig zu sein, auf doktrinäre Mittel der Auseinandersetzung zu verzichten und mit allen Demokraten ein breites Bündnis zu schaffen.
Umwelt-Bibliothek Berlin