Was wird aus Ihren Kundschaftern, Herr General?
ND fragte MARKUS WOLF, einst mal Chef der Hauptverwaltung Aufklärung im MfS:
Herr Wolf, jahrzehntelang hatte so mancher große Summen für das kleinste Bild von Ihnen geboten. Seit einigen Monaten suchen Sie die Öffentlichkeit, setzen sich gewissermaßen in Wort und Bild einem Medienmarathon aus! Ist diese Öffentlichkeit für Sie eine Art Schutz in dieser Zeit?
Ich sehe das nicht so. Nicht ich suche die Öffentlichkeit, sondern die Medien suchen mich. Ich saß ja bis in diese Tage an meinem Buchmanuskript. Das hat mich so beansprucht, dass diese Medienaktivitäten nicht so sehr auf mich zurückgehen. Allerdings, in den letzten Wochen, als mein Name im Westen, aber auch in den Medien der DDR, im Zusammenhang mit drei Festnahme von ehemaligen RAF-Angehörigen auf dem Gebiet der DDR genannt wurde, sah ich mich schon veranlasst, zu dieser Frage etwas zu sagen.
Na, die Sachlage scheint ja klar. Nun wissen ja nicht nur BRD-Verfassungsschützer, dass Sie zur Fahndung ausgeschrieben sind. Seite 1 542 des BRD-Fahndungsbuches ist Markus Wolf gewidmet. Wissen sie mehr?
Ich habe mich bisher darum wenig bemüht, weil ich von der Auffassung ausgehe, dass diese westdeutsche Gesetzgebung ja nicht nur mich, sondern jeden ehemaligen Mitarbeiter des Apparates der Aufklärung betrifft. Wollte die BRD-Seite an ihrer Ansicht festhalten, würde das bedeuten, dass westdeutsche Gesetze rückwirkend gegenüber DDR-Bürgern angewandt werden. Die jedoch haben auf der Grundlage der Verfassung und der Gesetze ihres Landes, im Auftrage ihres Staates eine Tätigkeit ausgeübt, die in allen mir bekannten größeren Ländern von Geheimdiensten ausgeübt wird. Eine solche Auslegung des Grundgesetzes der BRD schien mir immer schon absurd.
Neulich hatte ich ein Gespräch mit einem früheren CIA-Chef, dem Chef des französischen und auch dem des israelischen Geheimdienstes. Nach ähnlich interpretiertem Recht müssten alle diese Herren oder deren Mitarbeiter ebenfalls belangt werden.
Die westdeutsche Rechtsauffassung geht zurück auf die Alleinvertretung für alle Deutschen, Ich bin der Meinung, dass im Zuge der weiteren Vereinigungsverhandlungen, das heißt auch der Rechtsangleichung, diese Frage so gelöst werden muss, dass eine rückwirkende Strafverfolgung von DDR-Bürgern nicht möglich wird. Aber da das Tempo der Vereinigung enorm ist, bin ich natürlich interessiert, die mich betreffende Frage zu klären. Und so habe ich meinen Anwalt beauftragt, Akteneinsicht zu nehmen. Dabei bin ich sicher, dass anderes, als diese allgemeine Auslegung westdeutscher Gesetze, mir nicht auf die Füße fällt.
Unseres Wissens nach hat die BRD keinen Auslieferungs- oder wie sie sagen - Zulieferungsantrag an die Generalstaatsanwaltschaft der DDR gestellt. Umgekehrt, so ist Bonner Regierungsstellen zu entnehmen, scheint die DDR kein großes Interesse zu haben, für sie interessante Persönlichkeiten zu stellen. Wir denken da an Schalck-Golodkowski. Sehen Sie da irgendeinen Zusammenhang?
Da sehe ich keinen Zusammenhang. Aber nochmals: Ich halte die Rechtsangleichung für ein ganz wichtiges Thema, das zwischen den kompetenten Stellen, also Regierungsstellen der BRD und auch der DDR, geklärt werden muss. Diese Fragen dürfen kein Dauerproblem bleiben. Kein Herd von Misstrauen.
. . . ein Thema für den Staatsvertrag Nummer zwei?
Ich denke, ja. Da werden noch sehr viele Rechtsfragen geklärt werden müssen.
Nun haben Sie Kollegen vom "Spiegel" gesagt, dass Sie sich bei Vereinigung beider deutscher Staaten den juristischen Behörden stellen wurden.
Ich habe nicht die Absicht, mich aus Deutschland zurückzuziehen, gleich wohin.
Auch nicht in eine sibirische Blockhütte?
Ich würde mich nicht unbedingt am ersten Tag der Vereinigung zur - ich weiß gar nicht, wer zuständig sein wird - also zu der jeweiligen Staatsanwaltschaft begeben, sondern ich würde dann der Dinge harren, die auf mich zukommen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht dazu kommen wird.
Wichtig ist in dem Zusammenhang das andere Thema, das Schicksal der Menschen, die mit diesem Dienst im Westen zusammengearbeitet haben. Äußerungen westdeutscher Politiker und anderer kompetenter Leute entnehme ich, dass auch für diese von Strafverfolgung bedrohten Personen im Interesse des künftigen inneren Friedens nach einer Losung gesucht wird. Sei es im Sinne einer Generalamnestie oder verkündeten Straffreiheit unter bestimmten Bedingungen.
Diese Menschen haben in dem Glauben gehandelt, das für eine gute Sache zu tun. Und sie sind nicht dafür verantwortlich zu machen, was in der DDR an schlechter Politik oder auch an inneren Repressionen geschah. Das gehört nicht unbedingt zur Rechtsangleichung, muss aber rechtlich von westdeutscher Seite gelöst werden. Mit den Auflösern des ehemaligen MfS wäre zu klären, welche Sicherheit der anderer Seite gegeben werden kann, dass die geheimdienstliche Tätigkeit eingestellt ist und keine Fortsetzung mehr erfolgt, d. h. die legitimen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik und später auch des vereinigten Deutschlands gewahrt werden.
Generalbundesanwalt Rebmann ist zwar in Ruhestand gegangen, aber auch sein Nachfolger scheint Interesse zu haben, Sie auf die Anklagebank zu bringen . . .
Nachdem diese RAF-Sache so geklärt ist, dass weder ich noch der Dienst, für den ich verantwortlich war, damit zu tun hatte, habe ich Äußerungen des neuen Generalbundesanwaltes solche Absichten nicht mehr entnehmen können.
Gesetzt nun den Fall, es gibt trotzdem eine Verhandlung. Was erwarten Sie denn dann, Freispruch?
Also, ich lehne es ab, darüber überhaupt nachzudenken. Ich würde einen guten Anwalt haben. Und ich glaube, dass die Vernunft der Politiker und auch die der Juristen es nicht zu einer Verurteilung kommen lässt. Anderenfalls wäre ich bereit, für meine einstigen Mitarbeiter auch eine solche Untersuchung über mich ergehen zu lassen und die Konsequenzen dafür zu tragen. Das wäre ein Präzedenzfall. Bei negativem Ausgang wären einige tausend DDR-Bürger oder ehemalige DDR-Bürger betroffen, die rückwirkend für etwas belangt würden, was sie auf der Grundlage der Verfassung und der Gesetze ihres Landes getan haben.
Haben Sie keine Angst im Falle des Falles, Kronzeugen, also ehemaligen Mitarbeitern, gegenübergestellt zu werden, die also ihr Mäntelchen gewendet haben?
Damit müsste ich natürlich rechnen. Aber das wären anfechtbare Zeugen.
Nun gibt es Überläufer in Hülle und Fülle . . .
Ich möchte das so für den Nachrichtendienst nicht bestätigen, habe allerdings auch keinen Überblick, kann nur indirekt Schlüsse aus Veröffentlichungen über Festnahmen ziehen. Ich bin mir da doch ziemlich sicher, dass die übergroße Mehrheit der ehemaligen HVA-Mitarbeiter nicht den Weg gehen werden, den einzelne Verräter gegangen sind. Auch nicht in der schlimmen Lage, in die sie geraten sind. Sie hängt mit der undifferenzierten Einordnung in die Gesamttätigkeit des Ministeriums, den Folgen des verständlichen großen Zorns vieler Menschen in unserem Lande gegen das geschehene Unrecht, den Repressionen des alten Regimes zusammen.
Nun haben Sie durchblicken lassen, dass Sie natürlich weit mehr wissen als andere Ehemalige. Was meinen Sie damit?
Das Wesentliche ist sicher das Wissen um Personen, die mit der HVA konspirativ zusammengearbeitet haben. Und man glaubt, von mir nun dazu eine Offenlegung erwarten zu können. Es widerspricht allen Normen dieser Arbeit, auch meinen moralischen Vorstellungen. Menschen, die ihre Sicherheit, ihr Wohlergehen einem solchen Apparat anvertraut haben, nun ans Messer zu liefern.
Könnte denn die Bundesrepublik überhaupt daran interessiert sein?
Ich glaube, nein. Aus solcher Offenbarung würden auf Dauer Misstrauen, Unsicherheit und auch Gefahren, nicht nur für die, die diese Tätigkeit ausgeübt haben, erwachsen. Sicher gibt es ein legitimes Interesse der westdeutschen Seite, dass eine solche Tätigkeit nicht fortgesetzt wird, und dass Personen nicht an besonders sensiblen Stellen verbleiben und schon gar nicht weiter geheimdienstlich tätig sind. Es werden Phantasiezahlen genannt, bis zu 10 000 Agenten. Wollte man solchen Zahlen reale gegenüberstellen, wurde man nicht weiterkommen. Damit würde kein Vertrauen geschaffen und dieses Problem nicht gelöst. Also muss man andere Wege suchen.
Nun gelten Sie als Aussteiger seit dem 5. Februar 1987 . . .
Defacto war es der September 88.
ADN schrieb damals "aus gesundheitlichen Gründen". Warum haben Sie wirklich das Generalskoppel abgeschnallt?
Ich konnte es mir einfach machen und sagen, es war die gesamte Politik, das gesamte System, das mir nicht mehr passte. Aber das wäre zu einfach. Es war eine Summe von Beweggründen, die mich veranlassten, gleich nach meinem 60. Geburtstag, das war im Januar '83, meine Berentung zu beantragen. Es dauerte dann noch etwas länger.
Es ist schwer, das kurz zu beschreiben, weil einfach der schwere Weg der Erkenntnis nicht so verläuft, dass man sagen kann, das war der Punkt. Ich bin bei Lesungen zur "Troika" oft gefragt worden, wann ich mit dem Stalinismus gebrochen hätte. Ich habe bis in den Herbst des vorigen Jahres den Begriff Stalinismus selbst nicht gebraucht, weil er mir zu unklar erschien und jeder darunter auch etwas, anderes verstanden hat.
Aber es ist schon so gewesen, dass, sagen wir mal vom XX. Parteitag der KPdSU an, also seit 1956, ein Nachdenken begonnen hat, warum eigentlich alle Versuche scheiterten, einen anderen Kurs als den der Demokratisierung einzuschlagen. Auch innerhalb der eigenen Partei, freie Meinungsäußerung, Kritik zu entfalten, die ja, so haben wir es doch immer gelernt und verkündet, ein Wesenselement jeden Fortschritts ist.
Es gab auch eine kurze Phase, in der einige Schlussfolgerungen auch in der DDR durch die SED gezogen wurden, aber davon blieb nicht viel übrig. Das erlebte ich in vielfältiger Form, in der ganzen Breite der Politik, der Wirtschaft, der Kultur. Das zweite war, dass ich in dem Ministerium, in dem ich eingebunden war mit dem Aufklärungsapparat, Negatives stärker empfand, als früher. Im Apparat waren Kompromisse notwendig, um überhaupt die HVA weiter so wirken lassen zu können, wie mir das vorschwebte. Hinzu kam, dass ich in meinem Bereich Mitarbeiter sah, die das rein Professionelle ebenso beherrschten, wie ich. Mein Interesse zu gehen traf sich mit dem bei Mielke schon lange vorhandenen Interesse, mich loszuwerden. Mitte, Ende der 70er Jahre kam die Phase der Repressionen gegenüber Andersdenkenden, die ich im Epilog zur "Troika" beschreibe, bezogen auf den Bruder. Da tauchte bei mir das früher nie vorhandene Bedürfnis auf etwas dazulassen von unserem Nachdenken, den Zweifeln, den eigenen Erfahrungen in Form von Büchern. Mit Gorbatschow und Perestroika gab es plötzlich einen unwahrscheinlichen Rückenwind und auch die große Hoffnung.
Sie hatten also gehofft, dass sich die Partei und dieses Land von innen heraus erneuern . . .
Ich war wie viele andere in unseren Denkstrukturen verhaftet und natürlich auch dem Wissen um das Funktionieren des Systems. Ich sah einfach keine andere Möglichkeit. Michail Gorbatschow ist ja auch nicht von einer Revolution von unten nach oben getragen worden. Ich befrage mich natürlich heute, warum ich - oder wir - keine Brücken gefunden haben zu den anderen Kräften, die Träger dieser Revolution, der "sanften Revolution" im Oktober. November waren. Ob sich dann etwas anderes abgespielt hätte, bleibt heute spekulativ.
Was Ihren Spielraum anging - Sie hatten gute Bekannte im KGB - hielten die Ihnen den Rücken frei?
Nein, das ist nicht so. Damit es keine Missverständnisse gibt, ich bin nie direkt in irgendeiner Weise ermutigt worden, als Gorbatschow-Mann eine innere Opposition zu bilden.
Haben Sie je ein Parteiverfahren gehabt? Wer so dachte wie Sie . . . und die alte SED . . .
Nein, keines. Am Tag meiner Buchpremiere im März 89 habe ich ein Interview gegeben, in dem ich mich gegen das Sputnik-Verbot ausgesprochen und sehr warm für Michail Gorbatschow und seinen Kurs eingesetzt habe. In der darauffolgenden Politbürositzung muss es eine große Aufregung darüber gegeben haben,- es wurde ein Verdikt verhängt. Ich sollte keinerlei Interviews mehr geben und im Ministerium für Staatssicherheit gab es eine Kreisleitungssitzung, in der mein Verhalten verurteilt wurde und ähnliches mehr. Ich konnte mir das aber leisten, anderen Parteimitgliedern ist es viel schlimmer ergangen.
Sie sprachen vom Interesse Mielkes, Sie loszuwerden. Was ist Mielke eigentlich für ein Mensch?
Es ist schwierig, das kurz zu beschreiben. Auch auf Grund seiner und meiner jetzigen Lage. Er war auf jeden Fall der überzeugte Träger dieser völlig falschen und schädlichen Sicherheitsdoktrin, der allgemeinen Überwachung, auch der Repressionen gegenüber Andersdenkenden.
Man sagt, Sie hatten Ihre Hauptverwaltung mit. der Präzision eines Schachspielers geleitet. Was waren Ihre Aufgaben?
Diesen Staat, die Deutsche Demokratische Republik, und das Bündnis des Warschauer Vertrages vor jeglicher Überraschung zu bewahren. Ich glaube, dass unsere Arbeit ein friedenserhaltendes des Element war. In den 45 Jahren Frieden in Europa steckt vielleicht auch ein Quentchen Arbeit dieses Apparates.
Also, ein bisschen Balance der Kräfte wurde damit erreicht?
Ja, das, wofür es heute in Ansätzen Vereinbarungen gibt - offener Himmel, Kontrollinspektionen im militärischen Bereich verband sich mit unserem Auftrag. Bloß, es gibt natürlich einen Unterschied. Durch solche Inspektionen, durch offenen Himmel und Satelliten kann man feststellen, was ist, aber nicht, was geplant ist. Insofern haben Nachrichtendienste immer noch ihre Aufgaben.
Ist denn nun Spionage oder Kundschafterarbeit unmoralisch?
Es führt zu nichts, wenn man eine solche Frage mit ja oder nein zu beantworten versucht. Es gibt dabei zu viele Klischees. Natürlich kann ich nicht behaupten die nachrichtendienstliche Tätigkeit unserer Seite würde allen gut bürgerlichen Vorstellungen von Moral entsprechen. Es gibt viele Möglichkeiten. Menschen für eine Zusammenarbeit zu gewinnen.
Stichwort verdeckt weiterarbeitende Leute, was ist da nun dran?
Ich habe auch im ND einen Beitrag über diesen Begriff OibE, darum geht es wohl in Ihrer Frage, gelesen. Ihr Autor ist auf jeden Fall einer Mystifikation zum Opfer gefallen, damit kann Schaden angerichtet werden. Ich glaube nicht, dass das eine Hinterlassenschaft des Ministeriums mit der geschilderten Zielsetzung ist. Vielleicht finden sich ehemalige Mitarbeiter als Folge dieses In-die-Ecke-Drängens und auch dieses lns-soziale-Abseits-Geraten zusammen. So etwas kann auch, politisch gesehen, in extreme Richtungen führen.
Aber das hat mit dem Begriff des OibE nichts zu tun. Wenn ich mich recht erinnere, geht dessen Entstehung in sehr weite Jahre zurück. Er ist im Nachrichtendienst, in der Aufklärung aus der Absicht heraus entstanden, Menschen, die im Apparat keinen gesicherten Status als Offiziere haben mit entsprechender sozialer Absicherung, einen solchen garantierten Status zu schaffen. Damit keiner nach dem Motto handeln kann, der Mohr hat seine Schuldigkeit getan.
Zu irgendeinem späteren, auch weit zurückliegendem Zeitpunkt haben Verantwortliche der Abwehrbereiche gesagt, wieso haben nur die Aufklärer eine solche Möglichkeit? Dass die dann auch für diese Bereiche geschaffenen OibE im Zuge der falschen Sicherheitsdoktrin - für die Durchdringung von Ministerien, Organisationen, Apparaten, Wirtschaftsbereichen - eingesetzt wurden, das hat mit einer Werwolf-Absicht überhaupt nichts zu tun. Mielke hat doch niemals damit gerechnet, dass das Ministerium ein solches Ende nimmt.
Um mal wegzukommen von der Spionage. Nach dem Ausscheiden haben Sie sich oft für politische Moral ausgesprochen, Anleihen genommen bei Perestroika, Glasnost usw. Gelten diese Begriffe noch etwas in dieser deutschen Situation?
Ich glaube, dass sich im Ursprungsland dieser Begriffe Glasnost in stärkerem Maße durchgesetzt hat, man muss nun über Perestroika reden. Dahinter werden heute auch in der Sowjetunion viele Fragezeichen gesetzt ob der Möglichkeiten und des Weges ihrer Realisierung. In der DDR ist Perestroika erledigt, das wird von vielen mit einiger nostalgischer Wehmut bedauert. Denn die unterschiedlichen Kräfte, die gegen die ehemalige Führung und ihre Politik angetreten sind, hatten mehrheitlich die Vorstellung, eine bessere DDR, eine sozialistische DDR zu erhalten. Nun müssen wir völlig umdenken, wie wir unsere sozialistischen Ideale, für die wir gelebt haben, in das vereinigte Deutschland und in das später vielleicht vereinigte Europa einbringen können. Ich glaube schon, dass etwas bleibt von den 40 Jahren DDR und von dem besseren Teil dieser DDR.
Sie hatten den Mut, sich auf dem Alex im November auspfeifen zu lassen. Schorlemmer, Christa Wolf, Heym, Hein standen mit Ihnen auf der Tribüne. Sind Sie mit Ihren Ideen beiseite gefegt?
Ich bedauere, dass die Mahnung, die Gräben im Volk nicht tiefer werden zu lassen, nicht gehört wurde. Auf dem Alex habe ich mich vor die vielen Mitarbeiter des ehemaligen MfS gestellt, die nicht an den inneren Repressionen beteiligt waren und keine persönliche Schuld an begangenem Unrecht haben. Nun werden praktisch alle mit einer kollektiven Schuld belastet und bestraft, zuletzt konkret durch den Volkskammerbeschluss über die Auflösung ihrer Versorgungskasse, in die jeder während seiner Dienstzeit seinen persönlichen Beitrag eingezahlt hat. Ob Koch oder Kraftfahrer eines Ferienheimes, Funker an einem Nachrichtengerät, Mitarbeiter der Auslandsaufklärung, wird er gegenüber Angehörigen der NVA, des MdI oder der Zollorgane ohne jede Begründung sozial diskriminierenden Bestimmungen unterworfen. Eine Sonderlex Stasi, etwas für mich fast Undenkbares, wurde beschlossen im Widerspruch auch zu Auffassungen, die Ministerpräsident de Maiziére wiederholt vertreten hat. Weder das Recht der DDR. noch das der BRD kennt eine Kollektivschuld, nur ein Individualrecht. Bei der Rentenentscheidung ist praktisch ein kollektiver Schuldspruch pauschal über alle verhängt worden. Nicht Rechtsstaatlichkeit, sondern "Volksempfinden" motivierte die Abgeordneten bei ihrem Beschluss, der begangenes Unrecht durch neues Unrecht sühnen soll.
Sie sind Mitglied der PDS, auch im Ältestenrat. Die Partei hat sich auf den Weg gemacht, sich zu erneuern. Wieweit ist sie denn gekommen?
Ich kann das schlecht beurteilen. Bei meiner Entscheidung, mich beim außerordentlichen Parteitag im Dezember nicht in den Parteivorstand wählen zu lassen, ging ich, abgesehen von meiner Verantwortung für die Vergangenheit, von der Überzeugung aus, dass die Jüngeren, nicht belastet durch Denkweisen der Vergangenheit, die Geschichte der Partei in die Hand nehmen müssen. Die Jungen werden, glaube ich, dieser Erwartung gerecht, das macht Mut.
Ihr neues Buch soll im Bertelsmann Verlag erscheinen. Gab es keinen DDR-Verlag, der sich darum beworben hätte?
Direkt nicht. Zwei getrennte Editionen in deutscher Sprache sind auch nicht mehr denkbar.
Unter demselben Gedanken wie Krenz?
Das glaube ich nicht. Ich hatte ja einen westdeutschen Verlag, schon bei der "Troika", der sich auch für mein neues Buch interessierte. Bertelsmann hat einen günstigeren Vertrag angeboten, ohne eine Zeile des Manuskriptes zu kennen. Ich habe meine völlige Unabhängigkeit gewahrt.
Vielleicht lässt sich kurz zusammenfassen, worum es im Buch gebt, welche Personen handeln?
Im Grunde genommen ist es ein Nachdenken über all die Fragen, über die wir hier gesprochen haben, eingebettet in mein Erleben des vergangenen Jahres, aber natürlich mit Reflexionen, die weit zurückgehen, auch über Personen, mit denen ich in dieser Zeit zu tun hatte. Auch ein Nachdenken, was uns bleibt, es ist ein ganz subjektives Buch.
Personen möchten Sie nicht nennen?
Nicht alle, aber Honecker kommt vor, ein Gespräch, das ich mit ihm im Januar vorigen Jahres unter vier Augen hatte. Der Leser wird vielleicht ein paar neue und interessante Dinge erfahren.
Worum ging es In dem Gespräch mit Honecker?
Auslöser war der Dokumentarfilm über den Vater, der zuerst gar nicht gesendet wurde und dann ohne Zustimmung der Autoren und meine Zustimmung in sehr beschnittener Form. Das Ergebnis war, dass er dann doch in vollständiger Fassung lief vielleicht eine Folge meiner Sonderstellung. Das war aber nur der kleinere Teil des Gesprächs. Allgemein gesagt, ging es um meine Sorge, dass unsere Partei, die Parteiführung, auf Gegenkurs zur Perestroika gegangen war.
Und was war die Antwort?
Das möchte ich jetzt nicht vorwegnehmen, sonst verletze ich meinen Vertrag.
Sie haben viele Freunde in der Sowjetunion. Das kalkulierend, die Frage nach der Zusammenarbeit zwischen den Sowjets, den Deutschen und den Amerikanern. Eine Anspielung auf die drei Freunde in der "Troika" ist nicht beabsichtigt.
Es war für mich etwas überraschend, dass viele Leser in der "Troika" eine Projektion auf die große Politik gesehen haben. Ich glaube schon, dass in den Veränderungen der letzten Jahre große Möglichkeiten liegen, vielleicht gerade deshalb, weil Annäherung, Entspannung, Verständigung, Abrüstung nicht nur von den Politikern bewerkstelligt, sondern von den Völkern mitgetragen werden müssen.
In unserem Land sind vielfältige menschliche Beziehungen entstanden durch Studium, Besuche, Stationierung der Sowjettruppen hier, leider weniger zu den Soldaten, die in ihren Kasernen meistens eingeschlossen sind, also mehr zwischen den Offizieren, aber immerhin. Wirtschaftsbeziehungen, Parteibeziehungen, gesellschaftliche Beziehungen das waren ja nicht nur die administrativ geplanten und geförderten Beziehungen, sondern da steckten ja immer Menschen dahinter. Diese Beziehungen, ja eine nicht verordnete, sondern echte Freundschaft können wir einbringen in das künftige vereinigte Deutschland.
Ähnliche Beziehungen gibt es ja auch zwischen den anderen Deutschen und Franzosen, Briten, Amerikanern. Können die "Gesamtdeutschen" eine Mittlerfunktion ausüben?
Wenn es die Deutschen gäbe . . . Es gibt, glaube ich, in beiden Teilen des künftigen Deutschland Menschen, die wirklich so denken und die diese Beziehungen, gleich, wo und wie sie tätig sind, einbringen können im Sinne der Verständigung und des Friedens. Es gibt aber auch Befürchtungen gegenüber den Deutschen. Solche Ängste werden zwar von den Politikern immer sehr gedämpft und moderat behandelt, doch wer wollte bei manchen unserer Landsleute das zufriedene "Wir sind jetzt wieder was" und "Wir sind auch wieder wer" übersehen? Es wird ja tatsächlich ein starkes Deutschland sein, wirtschaftlich, territorial, politisch. Es wird für die Zukunft des Kontinents ganz wichtig sein, ob unsere Nachbarn darin etwas gefährlich Bedrohliches sehen oder nicht.
Ihr Buch ist so gut wie abgeschlossen, was hören wir dann von Markus Wolf?
Ich habe einen Dreibuchvertrag, habe mich also in die Sklaverei der Marktwirtschaft begeben. Als Rentner wollte ich eigentlich in Beschaulichkeit über Erfahrungen des Lebens nachdenken, was mir einfällt, aufschreiben, wo nötig, zurückgreifend auch auf Archive. Nun muss ich unter völlig veränderten Bedingungen das nächste Buchmanuskript angehen.
Thema?
Den Titel muss ich mir noch einfallen lassen.
Das Gespräch führten
RENE HEILIG und
RAINER FUNKE
Neues Deutschland, Di. 10.07.1990, Jahrgang 45, Ausgabe 158