ICH BIN ZU FRÜH GEKOMMEN
Die Jahre 1956 und 1957 waren für die Entwicklung des Aufbau-Verlages und der Redaktion "Sonntag", waren für die Deutsche Demokratische Republik richtungbestimmende und gleichzeitig disziplinierende Jahre. Walter Janka hat das in seinem Buch "Schwierigkeiten mit der Wahrheit" beschrieben, Gustav Just in einem Gespräch "Sonntag" 49/89) zu Protokoll gegeben, (seine ausführlichen Schilderungen werden demnächst in dem Band "Zeuge in eigener Sache" im Buchverlag Der Morgen erscheinen). In beiden Erinnerungen spielen die Aussagen Wolfgang Harichs eine entscheidende Rolle. Er ist bislang in den Printmedien nicht zu Wort gekommen. Wir holen das mit diesem Gespräch nach.
Herr Dr. Harich! Seit Wochen wird in der DDR anhand des Buches von Walter Janka "Schwierigkeiten mit der Wahrheit" über den Umgang mit Andersdenkenden unter Walter Ulbricht diskutiert. Als Philosoph und Lektor im Aufbau-Verlag gehörten Sie damals, Mitte der fünfziger Jahre, zu dieser innerparteilichen Opposition. Welche Zustände in Partei und Staat waren es, gegen die Sie besonders rebellierten?
Gegen den Mangel an Demokratie in allen Institutionen, gegen Verzerrungen der historischen Wahrheit, gegen die Verlogenheit der Medien, die 1956 namentlich in der Berichterstattung über den XX. Parteitag der KPdSU und die späteren Ereignisse in Polen und Ungarn zutage trat. Die Stalinismuskritik von Georg Lukács hatte mir über den inneren Zusammenhang dieser negativen Erscheinungen die Augen geöffnet.
Galt das auch für die stalinistischen Strukturen der SED?
Ja. Mir schwebte eine Entstalinisierung der Partei vor. Gleichzeitig hatte ich - aber das schon seit 1952 - Sympathien für das jugoslawische Modell. Besonders beeindruckte mich jedoch, dass Lukács und Ernst Bloch, an sich philosophische Antipoden, plötzlich völlig einig waren - in ihrer Kritik am Stalinismus. Und mein Vorgesetzter Walter Janka, ein gestandener kommunistischer Funktionär, zog am gleichen Strang.
Worauf ziehen ihre Reformpläne ab?
Eine entstalinisierte SED sollte bündnisfähig werden für die SPD, eine reformierte DDR liebenswert und attraktiv für die Mehrheit aller Deutschen.
Also eine Konzeption mit Blick auf die Einheit Deutschlands?
Das war die Hauptsache. Das sollten SED und SPD gemeinsam erreichen, und zwar schon im Zusammenhang mit der damals bevorstehenden Bundestagswahl 1957. Noch bekannte die SED sich ja zur Wiedervereinigung, und Erich Ollenhauer hatte in Bonn beteuert: "Es bleibt beim Nein der Sozialdemokratie zu den Pariser Verträgen." Was in der DDR dem Bündnis im Wege stand, schien durch den XX. Parteitag schnell und gründlich überwindbar geworden zu sein. Und in Westdeutschland sollten die Amerikaner und Adenauer durch die Idee der Wiedervereinigung in die Isolierung gedrängt werden.
Könnten Sie mir das an einem konkreten Beispiel genauer verdeutlichen?
Nehmen wir die NVA. Ich war dafür, sie aufzulösen, um bei den Jugendlichen in Westdeutschland, die Adenauer in die Remilitarisierung gezwungen hatte, die Wehrdienstverweigerung zu stimulieren. In der DDR sollten sie Zuflucht und friedliche Arbeit finden können, ohne eine Armeepflicht befürchten zu müssen. Andererseits sah ich in diesem Schritt auch eine Möglichkeit, die mit den Pariser Verträgen verbundene westdeutsche Aufrüstung rückgängig zu machen. Oder denken Sie an die LPG. Durch die verloren wir die westdeutschen Bauern als Verbündete im nationalen Kampf. Kollektivierung der Landwirtschaft sollte erst, vorsichtig übrigens, nicht überstürzt, dabei absolut freiwillig, im gesamtdeutschen Rahmen stattfinden. Jeder Punkt der Konzeption war in dieser Weise stets auf ein ganzes Deutschland orientiert.
Waren alle Mitglieder Ihrer Gruppe im Aufbau-Verlag mit Ihnen einer Meinung?
Ja, mit Ausnahme Heinz Zögers. Auch der war konsequent antistalinistisch eingestellt und hielt die DDR für radikal reformbedürftig, glaubte aber nicht mehr, dass die gesamtdeutsche Perspektive noch reale Chancen habe.
Für eine solche Erneuerung der Partei und des Landes war Walter Ulbricht doch nicht der richtige Mann.
Das kann man wohl behaupten. Außerdem schien er uns als der Haupteinpeitscher des Stalinismus in der DDR für Erneuerung nicht mehr handlungsfähig zu sein. Deshalb strebten wir seinen Sturz an ...
... mit welchen personellen Alternativen?
Wir setzten auf Franz Dahlem und Paul Merker und entschieden uns dann für Merker, unter anderem deswegen, weil der nicht nur ein Opfer Stalins war, sondern schon vorher mit Ulbricht Differenzen gehabt hatte, zum Beispiel in der Frage der Verstaatlichung "arisierten" jüdischen Eigentums. Merker war für dessen Rückgabe an die Eigentümer eingetreten oder, mindestens, für deren Entschädigung.
Was erstrebten Sie für die eigene Person?
Gar nichts. Es war indes im Gespräch, dass ich für die Leitung des Zentralorgans der Partei oder für eine führende Position in der Parteihochschule geeignet sei. Ich hatte derartige Ambitionen nie. Mir kam es lediglich darauf an, meine konzeptionellen Vorstellungen an den Mann zu bringen.
Haben Sie aus diesem Grunde versucht, mit der sowjetischen Seite in Kontakt zu kommen?
Ich habe mich zuerst an das Politbüromitglied Fred Oelßner gewandt und von ihm keine Antwort erhalten. Dann drängte ich eine Denkschrift zur deutschen Frage einem jungen sowjetischen Diplomaten auf, der meine Vorlesungen besuchte. Das geschah gegen Ende des Studienjahres 1955/56. Auch darauf erfolgte zunächst nichts. Aber zum 25. Oktober erhielt ich eine Einladung zu einem Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter Puschkin. Hierüber informierte ich Janka, Zöger und Gustav Just. Vor dem Hintergrund der polnischen und ungarischen Ereignisse missverstanden wir die Einladung als Anzeichen dafür, dass für eine Neuorientierung der sowjetischen Deutschlandpolitik mein Rat erwünscht sei.
Sie sind sozusagen als Außenminister der Gruppe zu Puschkin gegangen. Glaubten Sie wirklich, an Ulbricht vorbei Diplomatie betreiben zu können?
Die Gruppe setzte große Hoffnung auf dieses Gespräch. Gemeinsam beschlossen wir, es zu nutzen, um den Botschafter für unsere konzeptionellen und personellen Ziele zu gewinnen. Es wurde eine sehr ausführliche Unterredung, von annähernd drei bis vier Stunden, in deren Verlauf der Botschafter alle ihm vorgetragenen Gedanken teils als illusorisch, teils als grundsätzlich falsch zurückwies. Darüber habe ich gleich danach Janka, Zöger und Just berichtet. Wir fanden uns mit dem Ergebnis nicht ab. Und auch als Walter Ulbricht mich 14 Tage später zu sich bestellte und warnte, blieben wir von unserer Aufgabe überzeugt.
Welche Warnung sprach der Parteichef der SED aus?
Er warnte indirekt, indem er Lukács, Julius Hay, Tibor Dery und andere als Verräter beschimpfte und erklärte, dass so etwas wie ein Petöfi-Club in der DDR "im Keim erstickt" werden würde. Im Gegensatz zu dem Puschkingespräch verhielt ich mich zu Ulbricht einsilbig, ausweichend.
Haben Sie nicht Ulbricht aufgefordert, zurückzutreten?
Um Himmels willen, nein. Mich beschlich zunehmend Angst. Doch aufgeben wollte ich deswegen noch längst nicht. Und auch die anderen dachten nicht daran. So versuchten wir am 21. November in Kleinmachnow, Paul Merker für unsere Sache zu gewinnen, der dann unserem Vorhaben aufgeschlossen gegenüberstand.
Für mich bleibt unklar, wie diese kleine Gruppe den Machtwechsel vollziehen wollte.
Als Modell schwebte uns die Wahl Gomulkas zum Parteichef vor, die in Polen eine ungarische Katastrophe hatte abwenden helfen. Wir glaubten, diese Lehre genüge, um einem Mann wie Merker in der SED-Führung große Chancen zu eröffnen. Gomulka war auch Stalinopfer gewesen, wie Merker bei uns.
Worauf führen Sie Ihre Verhaftung am 29. November 1956 zurück? Hatten Sie irgendwann einmal das Gefühl observiert zu werden?
Von Beobachtung habe ich nichts gemerkt. Wir glaubten ja, etwas Vernünftiges zu tun, zum Besten der Partei, der DDR und der deutschen Sache. Klar ist für mich, dass seit dem Puschkingespräch dem Kreis um Ulbricht sowieso alles bekannt war. "Im Keim ersticken" konnte der Apparat uns daher zu jedem beliebigen Zeitpunkt. Im Falle Steinbergers, Hertwigs und Harichs geschah es wohl aus Anlass des jugoslawischen Nationalfeiertags. Nachdem auch Janka verhaftet war, blieb Merker nichts anderes mehr übrig, als sich dem ZK der SED zu stellen. Er wäre andernfalls selber festgenommen worden.
Sie, Bernhard Steinberger und Manfred Hertwig wurden im März 1957 verurteilt, Janka, Just, Zöger und Richard Wolf erst im Juli. Eine sonderbare Prozessaufteilung.
Allerdings. Zumal Janka und ich völlig entgegengesetzt ausgesagt haben, aber in der Voruntersuchung einander nie gegenübergestellt worden sind.
Sie haben zugegeben, Janka hat abgestritten.
So war es. Dabei gab es nichts, was hätte verschwiegen werden können, seit dem Puschkingespräch, auf das freilich kein einziger Angeklagter und auch kein Zeuge sich hat beziehen dürfen.
Daran haben sich alle gehalten?
Ja.
Der Prozess war also schon aus diesem Grunde manipuliert.
Ja, und in meinem Fall unter ungeheurem Druck seitens des Generalstaatsanwalts Ernst Melsheimer, ein Sachverhalt, den ich bei den anderen auch vermute.
Auch bei Anna Seghers, Johannes R. Becher und Paul Merker?
Davon bin ich fest überzeugt. Nur werden die von der Partei unter Druck gesetzt worden sein. Bei Seghers und Becher ging es aber vor allem darum, dass deren Verehrung für Lukács, ihre Sorge um ihn verborgen bleiben sollte. Sonst wäre es völlig unverständlich gewesen, dass Lukács "geistiges Haupt der Konterrevolution", seit je "Feind der Partei" gewesen sei.
Wäre es nicht um so mehr die Pflicht dieser Schriftsteller gewesen, ihre Freundschaft zu Lukács öffentlich zu bekunden?
Vielleicht. Sie, Herr Grimm, sind freilich zu jung, um die damalige Zeit, um deren Atmosphäre noch beurteilen zu können. Mir wurde in der Zelle von einem Spitzel zugesetzt, mich auf der ganzen Linie von Lukács loszusagen, sogar auch wissenschaftlich. Dem habe ich immer widerstanden. Für die Haltung von Becher und noch mehr für die von Anna Seghers habe ich, nebenbei bemerkt, Verständnis. Eine Aussage von ihnen hatte ja weder einem der Angeklagten noch Lukács im mindesten geholfen.
Das mag prozesstechnisch logisch seine. Moralisch war es nicht.
Sie unterschätzen die Machtmechanismen des stalinistischen Apparats. Um sich zu Lukács zu bekennen, hätten Becher und die Seghers erst in den Westen fliehen müssen. Im übrigen ist zwischen beiden zu differenzieren: Becher ist zu Lukács öffentlich auf Distanz gegangen. Anne Seghers hat bloß geschwiegen.
Hatten Sie im Prozess Gelegenheit Ihre gesellschaftspolitische Konzeption darzulegen? Nein. Ich durfte auf ein paar ausgewählte Suggestivfragen mit Ja oder Nein antworten. Streng untersagt war jede Bezugnahme auf die gesamtdeutschen Intentionen, die mit der Konzeption verknüpft gewesen sind. So blieb auch der eigentliche Sinn meines Kontakts mit der SPD unerklärlich und konnte, sehr zu Unrecht, als bloße Agententätigkeit abqualifiziert werden. Eines möchte ich allerdings betonen: In dieser Frage habe ich nichts ausgesagt, was andere belastet hätte.
Ihr Verhalten während des Prozesse war gekennzeichnet durch Geständigkeit und Reue. Kam das in einem dermaßen gelenkten Prozess nicht dem Apparat entgegen?
Alles, wes ich zugegeben habe, war ohnehin bekannt. Reue zu zeigen, wurde mir durch Melsheimer unter Druck "dringend geraten". Nur so kam ich glimpflich davon. Die "Glimpflichkeit" bestand in einer Verurteilung zu zehn Jahren Zuchthaus, von denen ich acht Jahre und drei Wochen abgesessen habe, fast ausschließlich in Einzelhaft und trotz eines Herzinfarkts 1960. Was verlangen Sie sonst noch von mir? Dem Apparat zupass kam die Divergenz zwischen den Aussagen Jankas und denjenigen von Merker und mir. Erstens entstand so der Eindruck von "Rechtsstaatlichkeit". Denn Janka demonstrierte die Möglichkeit, sich global zu verteidigen. Zweitens waren fortan Merker, als der von uns erhoffte Nachfolger Ulbrichts, und ich, als geistiger Urheber der Konzeption der Gruppe, moralisch erledigt.
Daraus könnte ich die Schlussfolgerung ziehen: Die Aktivitäten der Gruppe waren benutzt worden, als eine Art Testballon, inwieweit die SED sich in Fragen der Deutschlandpolitik von der Sowjetunion damals unabhängige Schritte leisten konnte. Das ihre doch denkbar. Oder nicht?
Ich sehe die Dinge anders. Es gab, ohne dass wir etwas davon ahnten, eine gleichzeitige Fronde gegen Ulbricht im Politbüro selbst: Die Gruppen Schirdewan, Wollweber, Oelßner und andere. Ihr wurde durch die abschreckende Wirkung unserer Aburteilung auf die Intelligenz der potentielle Resonanzboden in der Öffentlichkeit genommen. Erst nachdem dies geschehen war, schlug 1958 Ulbricht, mit Hilfe Erich Honeckers, gegen jene ihm viel gefährlicheren Gegner los.
Ich möchte das Gespräch nicht abschließen, ohne Sie direkt nach Ihrer Meinung zu Walter Jankes Buch zu fragen. Was ist Ihnen an dem Buch wichtig, und wo glauben Sie widersprechen zu müssen?
Verdienstvoll ist, dass Janka den ganzen Komplex überhaupt aus der Tabuzone herausgeholt hat. Aber es ist dem Buch wenig über den historischen Hintergrund und nichts über die Konzeption der Gruppe zu entnehmen. Viele Unklarheiten, Irrtümer und Halbwahrheiten lassen sich vermutlich auf Missverständnisse und lückenhafte Erinnerung zurückführen, wohl auch darauf, dass die noch Überlebenden es nie vermocht haben, sich ein gemeinsames Bild der so schwierigen Wahrheit zu erarbeiten. Ein dahingehender Versuch von meiner Seite führte 1978 zu keinem Erfolg.
Können Sie verstehen, dass ich Jankas Verhalten im Prozess eher nachvollziehen kann als das Ihre?
Nein.
Für mich sind Sie im Prozess Opfer und Täter zugleich, eine tragische Figur.
Laut Gorbatschow straft das Leben den, der zu spät kommt. Die zu früh kommen, werden mitunter vom Leben noch härter bestraft. 77jährig kam manch anderer neulich zu spät. Ich bin mit 32 Jahren zu früh gekommen.
(Du Gespräch wurde am 12. Dezember 1989 geführt.)
Mit Wolfgang Harich sprach Thomas Grimm
Sonntag, Die kulturpolitische Wochenzeitung Herausgegeben vom Kulturbund der DDR, Nr. 3, So. 21.01.1990