Nicht mehr alles den Parteien überlassen
"Der Zug der deutschen Einheit rollt, und die Gefahr, dass viele sehr viele unter seine Räder kommen, wird immer größer - Richtung und Tempo des Zuges werden zunehmend allein von den politisch und wirtschaftlich Mächtigen in der Bundesrepublik bestimmt. Für ihre Interessen und zu ihren Bedingungen ... Es geht darum, unsere Chance wahrzunehmen, hörbar und sichtbar zu machen, dass es noch Menschen gibt, die sich das alles ganz anders vorstellen. Es geht darum, dass die Bewegungen für demokratische, soziale und ökologische Erneuerungen in beiden deutschen Staaten nicht im Schwall einer übermächtig werdenden nationalen Idee mit all ihren Irrationalismen gänzlich untergehen . . .
Wenn es nach der Volkskammerwahl allein den in den Parlamenten dominierenden Parteien überlassen bleibt, sich über einen unmittelbaren Anschluss der DDR an die BRD oder über die Umarbeitung des Grundgesetzes zu einer gesamtdeutschen Verfassung zu verständigen, und hierüber allenfalls noch ein Ja oder Nein von der Bevölkerung einzuholen, dann haben alle anderen schon verloren. Es muss zuerst darum gehen, die Bevölkerung in beiden deutschen Staaten zur Frage der deutschen Einheit konkret entscheiden zulassen, was sie will und wie sie das will. Wenn das nicht geschieht, wenn eine unmittelbare Willensbildung der Bevölkerung in dieser Frage nicht zugelassen oder nur noch auf eine Verfassungsabstimmung abgebogen wird, dann werden diejenigen, die den Zug der deutschen Einheit steuern, mit der nie zu widerlegenden Behauptung aufwarten, dass 95 % einem neuen Großdeutschland zustimmen, dann wird außerparlamentarisch die Resignation regieren; dann wird die Basis äußerst schmal, auf der den Folgen dieses Prozesses überhaupt noch etwas entgegengesetzt werden kann ..."
Der Aufruf und der Vorschlag für eine solche Volksabstimmung, die in die Volkskammer und in den Bundestag einzubringen sind, wurde am Freitag, dem 16. März, auf einer Pressekonferenz in Berlin/Ost vorgestellt. Zu den Initiatoren zählen Ina Deter, Sängerin - BRD, Jürgen Reents, Bundesvorstand der Grünen - BRD, Ina Merkel, Unabhängiger Frauenverband - DDR, Marion Seelig, Vereinigte Linke - DDR, und Reinhard Schult, Neues Forum - DDR.
Marion Seelig
aus: Die Andere, Nr. 9, 22.03.1990, Zeitung für basisdemokratische Initiativen, herausgegeben von Klaus Wolfram