Appell

In den letzten Wochen ist es mehrfach und in verschiedenen Städten der DDR zu Demonstrationen gekommen, die in Gewalt mündeten: Pflastersteinwürfe, zerschlagene Scheiben, ausgebrannte Autos, Gummiknüppel- und Wasserwerfereinsatz. Es gab eine unbekannte Zahl Verletzter, von Toten ist die Rede.

Auch der letzte Montag in Leipzig endete mit Gewalt.
Wir haben Angst. Angst um uns selbst, Angst um unsere Freunde, um den Menschen neben uns und Angst um den, der uns da in Uniform gegenübersteht. Wir haben Angst um die Zukunft unseres Landes. Gewalt schafft immer nur Gewalt. Gewalt löst keine Probleme. Gewalt ist unmenschlich. Gewalt kann nicht das Zeichen einer neuen besseren Gesellschaft sein.

Wir bitten alle:

- Enthaltet Euch jeder Gewalt!

- Durchbrecht keine Polizeiketten, haltet Abstand zu Absperrungen!

- Greift keine Personen oder Fahrzeuge an!

- Entwendet keine Kleidungs- oder Ausrüstungsgegenstände der Einsatzkräfte!

- Werft keine Gegenstände und enthaltet Euch gewalttätiger Parolen!

- Seid solidarisch und unterbindet Provokationen!

- Greift zu friedlichen und phantasievollen Formen des Protestes!

An die Einsatzkräfte appellieren wir:

- Enthaltet Euch der Gewalt!

- Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt!

Wir sind ein Volk!
Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden!

Partei und Regierung müssen vor allem für die entstandene ernste Situation verantwortlich gemacht werden. Aber heute ist es an uns, eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern. Davon hängt unsere Zukunft ab!

Leipzig, den 9. Oktober 1989 Arbeitskreis Gerechtigkeit
Arbeitsgruppe Menschenrechte
Arbeitsgruppe Umweltschutz

Innerkirchlich ! LVo 10/89/3/3


Das Flugblatt, Auflage 30 000, für den 09.10.1989 wurde von Christoph Wonneberger vorformuliert. Der Satz, Wir sind ein Volk!, stammt nach seiner Aussage von ihm.

Laut Werner Schulz stammt die Demonstrationsparole "Wir sind das Volk" aus dem Gedicht von Ferdinand Freiligrath "Trotz Alledem". "Wir sind ein Volk" sei von den DemonstrantInnen gerufen worden, um Außenstehende zum Mitmachen zu bewegen, so Schulz.

Ehrhart Neubert leitet die Parole "Wir sind das Volk" aus der zuerst gerufenen Parole in Leipzig "Wir sind keine Rowdies!" ab. In der Leipziger Volkszeitung wurden die Demonstranten als Rowdies bezeichnet.

In einem Interview in der Berliner Morgenpost am 09.10.2019 antwortet Martin Jankowski auf die Frage: "Sie sagen in dieser Zeit entstand auch der Ruf 'Wir sind das Volk'?"

"Ja, es war ursprünglich eine ironische Antwort auf die Lautsprecherdurchsagen vom 2. Oktober: 'Hier spricht die deutsche Volkspolizei!' Unsere Antwort war: 'Und wir sind das Volk!'"

Auf die Frage: "Dann wandelte sich der Ruf zu 'Wir sind ein Volk'." Antwortete er: "Das war nachweislich das Ergebnis einer Kampagne der westdeutschen CDU, die ihren Wiedervereinigungswunsch ab November 1989 geschickt unters Leipziger Demo-Volk trug. Der Spruch der Einheitsfans Ost lautet damals ja eher 'Deutschland einig Vaterland'."

In dem Flugblatt zielte aber der Satz "Wir sind ein Volk!" auf die staatlichen Organe und die Demonstraten, um sie von Gewalt abzuhalten. Der Mitverfasser des Flugblattes Uwe Schwabe wurde vor dem 09.10.1989 festgenommen.

Da die SED das "Volk" für sich gepachtet hatte (Volksarmee, Volkspolizei, Volksstimme) wurde mit dem Ruf "Wir sind das Volk" die führende Rolle der SED direkt angegriffen. Der Montag als Demonstrationstag in der DDR wurde wegen der an diesem Tag stattfindenden SED-Parteiversammlungen gewählt.

Im Konrad-Adenauer-Haus in Bonn stellt am 27.11.1989 der CDU-Generalsekretär Volker Rühe der Presse die Aktion der CDU-Bundesgeschäftsstelle "Wir sind ein Volk!" vor. Die CDU verwendete "Wir sind ein Volk" als Aufkleber und Plakate während des Wahlkampfes. Zunächst wurden runde Buttons ohne Urheberschaft unters Volk gebracht. Erst nach und nach wurde der Urheber CDU erkennbar.

Später wurde von den Medien verbreitet, aus der Parole "Wir sind das Volk" sei die Parole "Wir sind ein Volk" geworden. Als Parolen der Friedlichen Revolution, die auf der auf der in Berlin geplanten "Einheitswippe" angebracht werden sollen wurde "Wir sind das Volk" und "Wir sind ein Volk" ausgewählt. Nicht "Deutschland einig Vaterland".

2002 wurde die Parole "Wir sind das Volk" beim Patentamt als Wortmarke von Christian Führer, Uwe Schwabe und Wolfgang Tiefensee (für die Stadt Leipzig) geschützt. Grund war, Nazis sollten die Parole nicht benutzen dürfen. Auf Antrag wurde 2013 der Patentschutz aufgehoben. Im April 2013 sicherte sich die Partei "WIR SIND DAS VOLK WSDV Deutsche Volkspartei" aus Norderstedt in Schleswig-Holstein die Wortmarke. Im November 2013 wurde dem Antrag der Stadt Leipzig vom Deutschen Patent- und Markenamt in München stattgegeben, die Wortmarke zu löschen. Markenrechte an "Wir sind das Volk" zu erwerben sind nicht möglich.

Die Parole "Wir sind das Volk" wurde bei vielen Demonstrationen nach 1990 verwendet. So bei den Demos gegen Hartz IV (SGB II), bis zur Pegida-Demo in Dresden. Die Parole "Wir sind das Volk" war eine DDR-spezifische Parole. Später eine lausige Farce.

Bereits im Oktober 1989 wurde in den Grenznahen Kreisen die Problematik der Sperrgebiete auf Diskussionsveranstaltungen aufs Tapet gebracht. Eine Unterschriftensammlung zum "Wegfall des Grenzgebietes" wurde in Linden (Kreis Hildburghausen, Thüringen) gestartet.

Die letzte Strophe des Gedichts von Ferdinand Freiligrath "Trotz Alledem", von Anfang Juni 1848 lautet:

Nur, was zerfällt, vertretet ihr!
Seid Kasten nur, trotz alledem!
Wir sind das Volk, die Menschheit wir
sind ewig drum, trotz alledem!
So kommt denn an, trotz alledem!
Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht!
Unser die Welt, trotz alledem!

Der Text der DDR-Nationalhymne lautet:

Auferstanden aus Ruinen
Und der Zukunft zugewandt,
Lass uns Dir zum Guten dienen,
Deutschland einig Vaterland.
Alte Not gilt es zu zwingen,
Und wir zwingen sie vereint,
Denn es muss uns doch gelingen,
Dass die Sonne schön wie nie
Über Deutschland scheint.


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