Erklärung der Besetzerinnen und Besetzer des Stasi-Archivs
Die letzten Tage der DDR erleben wir im Seitentrakt des Zentralarchivs der Staatssicherheit in Berlin, wo wir seit dem 4. September einige Räume besetzt halten. Seit wenigen Tagen befinden wir uns in einem Hungerstreik, den wir antraten, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Es geht, das ist bekannt, um den zukünftigen Umgang mit den Stasi-Akten. Es geht um die historische Aufarbeitung einer dunklen Vergangenheit, es geht um die Rolle ehemaliger MfS-Mitarbeiter im zukünftigen Deutschland. Und es geht um die Rehabilitierung der Stasi-Opfer.
Am 20.9. 1990 fand die letzte Lesung des Einigungsvertrages in der Volkskammer statt. Es läge in der Logik unseres Anliegens, dass damit unsere Aktion beendet wird, denn ein Einfluss auf Entscheidungen in diesem stasiversifften Parlament können wir nun überhaupt nicht mehr ausüben.
Wir sind keine todessüchtigen Fanatiker und haben uns überlegt, wann und unter welchen Bedingungen wir diese Aktion beenden. Wenn wir nun Erfolg und Misserfolg ohne alles Wunschdenken betrachten, müssen wir feststellen:
1. Die Regierung de Maizière wurde gezwungen, das Paket des Einigungsvertrages noch einmal aufzuschnüren und in Verhandlungen mit der westlichen Seite eine neue Regelung für die Stasi-Akten zu suchen. Das ist ein Erfolg. Dabei wurde festgelegt, dass die mehr als 6 Millionen Stasi-Akten nun doch nicht nach Koblenz geraten. Die Akten bleiben, wie wir es verlangt haben, wo sie sind.
2. Es wurde auch festgelegt, dass ein Sonderbeauftragter der (noch)DDR mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet, den zukünftigen Umgang mit den Stasi-Akten regelt und er dabei unterstützt wird von entsprechenden Vertretern der fünf ostdeutschen Länder. Aber es stinkt nach Betrug, dass selbst diese positiven Aussagen nur empfehlenden Charakter tragen. Trotzdem sehen wir noch Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Deswegen sind fachkundige Mitglieder unserer Gruppe bereit, an der Ausarbeitung der vorgesehenen Benutzerordnung mitzuarbeiten.
3. Völlig unbefriedigend ist für uns die Festlegung, dass die Opfer des Stasi-Terrors kaum Möglichkeiten haben werden, an ihre Akte heranzukommen. Wir sind der Meinung, dass jedes Opfer des Regimes das Recht haben sollte, sein Personendossier in die Hand zu bekommen, es zu vernichten oder auch nicht. Darüber hinaus vermissen wir eine Festlegung über den undifferenzierten Umgang mit den drei grundverschiedenen Arten von Akten.
4. Alle Stasi-Akten wurden mit kriminellen Mitteln und zu kriminellen Zwecken hergestellt. Wenn von nun an das Bundesamt für Verfassungsschutz Zugriff zu solchen Akten haben soll, ist das in unseren Augen selbst verfassungsfeindlich. Insbesondere die Personenakten über bespitzelte Opfer enthalten privateste Informationen, die über keinen Bürger eines freien Landes gesammelt und missbraucht werden dürfen.
5. Wir hatten gefordert, dass die Volkskammer endlich offen über das Problem spricht, dass etliche Abgeordnete eine Stasi-Vergangenheit haben. Wir freuen uns, dass wenigstens ein Abgeordneter, ermutigt auch durch Gespräche mit uns, die Kraft gefunden hat, sich öffentlich zu seinen Stasi-Verbindungen zu bekennen.
6. Uns selbst ermutigt, dass die Aktion in der Normannenstraße von vielen Menschen unterstützt wurde. Über 50 000 Menschen haben unsere Forderungen mit ihrer Unterschrift bekräftigt. In vielen Städten der DDR wurden Mahnwachen errichtet. Mancherorts wachen die Menschen Tag und Nacht unter freiem Himmel oder in durchnässten Zelten. Viele Bürgerinnen und Bürger haben sich in Gruppen oder einzeln dem Hungerstreik angeschlossen. Auf diese Weise wurde genau in der Zeitenwende ein Zeichen von außerparlamentarischer Demokratie gesetzt. Am 28. September soll vor der Volkskammer Rechenschaft abgelegt werden über den Stand der Auflösung des MfS. Da die Bilanz mehr als traurig ausfallen wird, haben wir beschlossen, den Hungerstreik und die Besetzung erst an diesem Tage zu beenden.
Wir hatten verlangt, dass den 80 ehemaligen Stasi-Mitarbeitern der Zugang zum Archiv verboten wird. Es sind noch zwei Wochen Zeit. Wenn unserer Forderung nun entsprochen werden sollte, kennen wir geeignete Menschen genug, die dieser verantwortungsvollen Arbeit gewachsen sind.
Wir wollen außerdem darauf hinwirken, dass ein Hilfsfonds oder eine Stiftung zur Unterstützung der Opfer des Stalinismus in der DDR ins Leben gerufen wird. Egal, ob sie eingesperrt wurden oder "nur" Opfer von Berufsverboten oder Lernverboten wurden, die Betroffenen sollen im geeinigten Deutschland die Möglichkeit haben, ihr abstraktes Recht auch praktisch durchzusetzen. Dazu brauchen sie vor allem Hilfe von Rechtsanwälten, die sie beraten und auch vor Gericht vertreten. Die Mittel für diesen Rechtsschutz sollten aus dem riesigen Diebesgut kommen, dass die Blockparteien und die SED in 40 Jahren angehäuft haben.
Wir wissen, dass wir keine Macht haben, dies durchzusetzen. Aber wir haben die friedliche Macht einer Moral, die immerhin die Allmacht des alten Regimes überwunden hat.
Ihr lieben Hungerkünstler, Mahnwächter, Besetzer, Frauenmännerkinder, macht selber was los! Am 28. September fliegt über Mielkes Castle eine bunte Kuh. Musik, Lieder, Tanzerei und . . . endlich wieder was zu essen. Und ihr lieben Spitzel vom großdeutschen Verfassungsschutz: Kommt doch!
Eure Besetzerinnen und Besetzer in der Normannenstraße Berlin (DDR) am 20.9.1990
aus: Die Andere, Nr. 36, Mi. 26.09.1990, Der Anzeiger für Politik, Kultur und Kunst, Unabhängige Wochenzeitung, Herausgeber: Klaus Wolfram