Offener Brief von Bürgerrechtsorganisationen beider deutscher Staaten an die Fraktionen des Deutschen Bundestages

Nach den Plänen der Regierungsfraktionen des Deutschen Bundestages soll am Donnerstag dieser Woche in zweiter und dritter Lesung eine Novelle zum Bundes-"Verfassungsschutz"-Gesetz verabschiedet werden. Wir, bürgerrechtlich aktive Organisationen aus beiden Teilen Deutschlands, halten es für unerträglich, dass im Windschatten des Vereinigungsprozesses einer Behörde neue Befugnisse und Legitimität gegeben werden soll, die - wie der Staatssicherheitsdienst der DDR Produkt des Kalten Krieges und der deutsch-deutschen Konfrontation ist. Es gilt, dem Beispiel der DDR zu folgen. Die "Ämter für Verfassungsschutz" sind - wie die Stasi ersatzlos aufzulösen.

Wir, die Bürgerbewegungen der DDR, haben nicht 40 Jahre unter den Praktiken der Stasi gelitten, führen nicht den aktuellen Streit um die endgültige und restlose Auflösung des Staatssicherheits-Apparates, um demnächst - nach der Vereinigung und Rechtsangleichung - erneut Gefahr zu laufen, in unserem politischen Denken und Handeln durch "Ämter für Verfassungsschutz" überwacht und bespitzelt zu werden. Dass diese Novelle zum Bundes-"Verfassungsschutz"-Gesetz nun die Mitarbeiter aller Behörden zur Spontan-Denunziation gegenüber den "Ämtern für Verfassungsschutz" animiert, ist ein Schritt zur "bundesdeutschen Rechtsangleichung" an Praktiken des von uns inzwischen hinweggekämpften Stasi-Regimes, der für uns nicht hinnehmbar ist.

Wir, Bürgerrechtsorganisationen der Bundesrepublik, wissen um die erheblichen Differenzen zwischen den Befugnissen und Praktiken der "Ämter für Verfassungsschutz" und der Stasi. Wir wissen aber auch um die Gemeinsamkeiten beider Behörden, das heißt jene Praktiken der Überwachung, Registrierung und offiziellen wie verdeckten Denunziation politischer Gesinnungen. Auch in der Bundesrepublik haben die "Ämter für Verfassungsschutz" kritische Bürger und Bürgerinnen das politische Frösteln gelehrt, wurden auf Grundlage der Verfassungsschutz-Dossiers offizielle und inoffizielle Berufsverbote ausgesprochen, sind Prämien für politische Denunziationen und die Ausnutzung besonderer Zwangslagen (etwa die Anwerbung überführter Straftäter) probate Mittel, mit denen diese Ämter ihre "inoffiziellen Mitarbeiter" ködern. Die Ämter haben von den ersten Jahren ihrer Tätigkeit an den Rechtsbruch zum System gemacht - von der Beschäftigung des Vorsitzenden der vom Bundesverfassungsgericht 1952 verbotenen nazistischen "Sozialistischen Reichspartei", Dr. Dorls, als "inoffiziellem Mitarbeiter" in den 50er Jahren bis zum "Celler Loch", von der Bespitzelung gewählter Abgeordneter bis zur verdeckten Steuerung von Gerichtsverfahren (Schmücker-Mordprozess).

Es ist an der Zeit, sich dieser Ämter zu entledigen.

Wie die nahezu 40jährige Geschichte der "Ämter für Verfassungsschutz" zeigt, sind verdeckt operierende Nachrichtendienste auch im Rechtsstaat weder rechtlich begrenzbar noch parlamentarisch kontrollierbar. Ihre Rechtsbrüche und Skandale sind systembedingt. Politische Geheimdienste zur Überwachung der Bevölkerung in einer auf Demokratie, auf Grundrechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit verpflichteten Verfassungsordnung machen nicht nur Fehler sie sind der Fehler.

Wir, bürgerrechtlich engagierte Organisationen aus beiden Teilen Deutschlands, fordern die Fraktionen des Deutschen Bundestages auf, die zweite und dritte Lesung des "Verfassungsschutz"-Gesetzes von der Tagesordnung ab- und statt dessen die Auflösung dieser Ämter auf die Tagesordnung zu setzen. Es ist untragbar, dass der Wiedervereinigungs-Prozess unter der Drohung eines politischen Überwachungsapparates steht, der nun auch die Bürger der DDR erneut demokratiefeindlichen Praktiken unterwerfen soll.

Die Organisationen aus der Deutschen Demokratischen Republik: Demokratie Jetzt; Grüne Partei; Initiative für Frieden und Menschenrechte; Neues Forum; Unabhängiger Frauenverband; Vereinigte Linke.

Die Organisationen aus der Bundesrepublik: Deutsche Vereinigung für Datenschutz; Humanistische Union; Internationale Liga für Menschenrechte Berlin (West); Komitee für Grundrechte und Demokratie; Republikanischer Anwältinnen- und Anwälte-Verein

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