Interview mit Dr. Wolfgang Brück, Kriminalsoziologe, Zentralinstitut für Jugendforschung
Die Stunde der Rechten in der DDR?
Herr Dr. Brück, haben wir in der DDR eine rechtsextreme Szene?
Als Wissenschaftler muss Ich zunächst feststellen: Es gibt zu diesem Thema in der gegenwärtigen Situation keine komplexen empirischen Recherchen. Dieser Mangel an Untersuchungen ist sehr zu bedauern. Seit dem Jahre 1987 haben wir allerdings dem Neofaschismusproblem in unserer Jugend großes Interesse entgegengebracht. Unser Institut organisierte wichtige Untersuchungen. Insofern und unter dem Eindruck der sich immer mehr artikulierenden Rechtskräfte, etwa hier bei - den Montagsdemonstrationen in Leipzig, würde ich schon zu sagen wagen, dass es Anhaltspunkte für eine sich formierende rechtsradikale Szene gibt. Tendenzen einer möglichen Ausweitung sind ebenfalls zu erkennen.
Aber noch keine straff organisierten Kräfte?
Es sind zahlreiche Organisationsbestrebungen zu beobachten. Aber es gibt noch kein Randale- und Ereignispotential. Die Formierungsprozesse scheinen im Anfang zu stecken.
Muss man nicht den Eindruck haben, dass neue demokratische Organisationen angesichts, sagen wir mal, rechtsradikaler Aktivitäten, ins Hintertreffen geraten könnten?
Zweifelsohne gibt es beunruhigende Anzeichen dafür, dass neue Organisationen, allesamt von den Rechtsextremisten als 'linke Mafia' abqualifiziert, bedrängt werden. Ich muss aber auch hier wieder zur präzisen Beobachtung raten. Das aktuelle Aufquellen rechtsradikalen Gedankengutes begreife ich zunächst als Reaktion auf die abgelaufenen politischen Enthüllungen, als eine Art Antwort auf Korruption, Misswirtschaft. Jede diesbezügliche Nachricht in unseren Medien setzt bei extremen Denkern Gefühle frei, sagen wir mal, mitzuhelfen, den Augias-Stall auszumisten. So haben wir es nicht immer mit Neofaschisten zu tun, so radikal auch das Bild erscheint.
Aber hier könnte, ich vermute es, der neonazistische Drahtzieher, wenn es ihn gibt, ansetzen.
Meine Untersuchungen, Interviews oder auch Teilumfragen bei diesen vermeintlichen Trägern neofaschistischer Ideen bestätigen rechtsradikales Denken und auch eine gewisse Bereitschaft zur Aktion. Wir finden Sprüche aus dem postfaschistischen Arsenal. Ich nenne nur eine ansteigende Ausländerfeindlichkeit. Beispielsweise gegen Vietnamesen, auch Formen des Antisemitismus sind vorhanden, primitiver Antikommunismus. Aber - und das möchte ich ausdrücklich betonen es kommt nicht in Form althergebrachter Naziideologie. Neonazis träumen nicht mehr von der Neuausrichtung der BRD oder der DDR im alten Sinne, nein, sie wollen ein neues Reich, ein großdeutsches natürlich. In den alten Grenzen.
Wir sprechen vom Neofaschismus und nicht von Wiedervereinigungsträumen. Wer die Wiedervereinigung will, muss kein Neonazi sein.
So will ich das auch verstanden wissen.
Es hat, mir fällt im Moment nicht ein, wer es gewesen ist, ein maßgeblicher Mann in Berlin gesagt, es gäbe keine ernsthaften Hinweise auf die Organisation des Rechtsextremismus in der DDR.
Es ist verständlich, dass es in der augenblicklichen Krisensituation Beruhigungsversuche oder Beschwichtigungen gibt. Aber ich glaube, sie sind fehl am Platze. Der Kampf gegen Neonazis darf nicht wie bisher ausschließlich von Spezialisten in einer nicht einsehbaren Grauzone organisiert werden. Alles muss an die Öffentlichkeit. Nur so kann der antifaschistische Geist der Republik zur Anwendung, zur Aktion kommen.
Herr Schönhuber hat in Paris und München vom Vorhandensein seiner Partei in der DDR gesprochen. Muss man ihn ernst nahmen?
Darauf antworte ich eindeutig mit Ja. Setze aber wiederum hinzu, dass sich der Rechtsradikalismus in einer verdeckten Aufbauphase befindet. Ich vermute, dass wir recht bald mit einem organisierten Heraustreten einer rechtsextremistischen Organisation aus dem Dunkel zu rechnen haben. Es gibt in der DDR auch beträchtliche rechtsextreme Stimmungen. Es hat örtliche Aktionen gegeben. Flugblätter der Republikaner sind in Berlin und Leipzig aufgetaucht. Eine andere Frage aber ist, ob die Republikaner oder die anderen neonazistischen Gruppierungen Oberhand in unserer gegenwärtigen Situation gewinnen können. Eine solche aktuelle Gefahr ist, so glaube ich jedenfalls, nicht unbedingt vorhanden. Die DDR ist in ihrer übergroßen Gesamtheit antifaschistisch. Sie muss sich aber in aller Offenheit, ich wiederhole, in bedingungsloser Offenheit, diesem Kampf stellen. Ansonsten wird es ein böses Erwachen geben.
Könnte man unsere Situation etwa mit der Endphase der Weimarer Republik vergleichen, als die Demokraten im Streit lagen und keinen tragfähigen Konsens gegen die faschistische Gefahr fanden?
Die rechte Szene selbst zeigt sich über das Tempo der Entwicklung in der DDR überrascht. Das heißt, ihr fehlt es noch an Aktionsfähigkeit. Das ist beispielsweise ein Unterschied zu Weimar. Damals war beginnend in den 20er Jahren eine lange Formierungsphase für den Aufbau der faschistischen Organisationsstruktur nötig, die ja bis in die unteren Etagen reichen musste. Ausnahme bilden vielleicht die Skinheads in der DDR, die bereits seit Jahren Kommandostrukturen erkennen lassen. Sie sind illegal organisiert und haben ihre Organisationen gegen V-Leute usw. abgeschottet. Es gibt auch eine mehr oder weniger erkannte Personengruppe des rechten Spektrums. Aber diese sind noch nicht in der Lage, mit den Massen zu kommunizieren.
Der Versuch wird aber offensichtlich unternommen: Herr Schönhuber will umgehend mit Diplomatenpass in die DDR einreisen, um beim Aufbau "republikanischer Orts-, Kreis- und Landesverbände in Berlin, Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt mitzuhelfen".
In diesem Fall würde ich sagen, dass dies nach unserer Gesetzlichkeit, nach unserer antifaschistischen Verfassung nicht möglich ist. Das trifft sowohl auf die beabsichtigte Einreise als auch auf die Gründung neofaschistischer, rechtsradikaler Organisationen zu. So würde ich es jedenfalls persönlich sehen.
Gesetzt nun einmal den Fall, es wäre doch möglich, dass eine rechtsradikale Partei sich in der DDR zu etablieren vermag. Welche Chancen würden Sie ihr geben?
Diese Frage kann ich nur hypothetisch beantworten. Im Moment beginnen an unserem Institut neue Meinungsumfragen, die uns möglicherweise bald genaue Auskunft über ihre Frage geben werden. Aber wenn wir schon voraussehen wollen, dann wäre ich nur bereit, dies für den Sektor der Jugendlichen zu versuchen. Das ist mein Spezialgebiet seit vielen Jahren. Nach repräsentativen Meinungsumfragen, die wir durchgeführt haben, würden nach dem Stand von etwa vor zwei Monaten zwei Prozent der DDR-Jugendlichen nach rechtsaußen tendieren.
Zwei Prozent im Republikdurchschnitt?
Ja, jetzt bestimmt auch darüber.
Und örtliche Schwerpunkte?
Berlin. Hier ergaben unsere Umfragen sechs Prozent. Leipzig knapp darunter. Erfurt taucht als neuer Schwerpunkt auf.
Also doch eine gewisse Chance für Rechte in der DDR?
Diese Frage muss unsere Gesellschaft beantworten. Sie muss es. Sie ist, wie noch nie seit Gründung der DDR, herausgefordert.
Das Gespräch führte Dieter Wolf
aus: Neues Deutschland, Jahrgang 44, Ausgabe 296, 16.12.1989, Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.