Wir werden nicht zulassen, dass die Mauer nach Osten verschoben wird

Antwort auf Adam Michniks "Fragen an die Deutschen"

In der Tat - "wir durchleben eine seltsame Zeit, ganz Europa hat sich auf einen Weg ungewöhnlicher Veränderungen begeben", zitiere ich zustimmend Ihre "Fragen an die Deutschen". In die Prozesse des Übergangs von totalitär-stalinistischen Diktaturen zu Demokratien hat sich nun auch die kleine DDR eingeschaltet. Für euch war es sicher überraschend, dass dieses verschlafene Land jemals aufwacht, für uns lange erhofft und in dieser Vehemenz nicht vorhersehbar. Zu den für uns lebenswichtigen Elementen des Wandels gehörte das Ende der jahrzehntelangen Isolierung, der Fall der Mauer, des Symbols der Teilung nicht nur unserer Stadt und unseres Landes, sondern auch des ganzen Kontinents.

Es ist wahr, dass es in unseren Medien zu einer unwürdigen Kampagne gegen den "Ausverkauf der DDR" kam, die geschickt noch oder wieder bestehende antipolnische Ressentiments nutzte, um vom real existierenden Ausverkauf der vergangenen Jahrzehnte abzulenken. Ein Teil der Bevölkerung hat diese Kampagne passiv geduldet oder sich sogar dazu hergegeben, aktiv daran mitzuwirken. Es handelt sich dabei um das altbekannte Spiel - für den eigenen Bankrott muss ein Sündenbock gefunden werden.

Nicht wahr ist dagegen, dass die demokratische Opposition zu den "gegen Polen gerichteten Hassbekundungen" geschwiegen hätte. Wir haben noch keine eigene Presse, doch weiß ich von vielen Kolleginnen und Kollegen aus den am runden Tisch vertretenen Oppositionsgruppen, dass sie sich deutlich in der Öffentlichkeit distanzierten und gleichzeitig auf die wahren Ursachen der Wirtschaftskrise verwiesen. Ich tue es hier nochmals ausdrücklich für die Leser der 'Gazeta Wyborcza' und der taz. In Berlin und anderen Städten gab es auch Demonstrationen unter der Losung "Gegen Ausländerfeindlichkeit".

Wir sollten diese jüngste Zuspitzung in den polnisch-deutschen Beziehungen zum Anlass nehmen, bald in einen substantiellen Dialog einzutreten. dass er in den vergangenen Jahren vernachlässigt wurde, ist unser gemeinsames Versäumnis. Über die Oder-Neiße-Grenze brauchen wir in diesem Dialog nicht zu sprechen. Sie wird von uns anerkannt, und zwar nicht nur zu 99,9 Prozent wie vom Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, sondern als endgültig und dauerhaft.

Viel größer ist die Gefahr, dass die in Berlin gefallene Mauer 100 Kilometer weiter östlich an dieser Grenze aufgerichtet wird. Nicht materiell, aber psychologisch, wirtschaftlich und damit letztlich auch politisch. Ich bin sicher, dass es in unserem gemeinsamen Interesse liegt, dieses um der Zukunft des ganzen Europa willen zu verhindern. Wir brauchen in dieser Frage Solidarität, ohne die Freiheit nicht ist.

Ludwig Mehlhorn, Ost-Berlin

Diese Antwort an Adam Michnik wird von Initiativen und Personen in beiden deutschen Staaten unterstützt, die sich für Verständigung und Zusammenarbeit mit dem polnischen Volk einsetzen: Anna-Morawska-Seminar (Polen-Seminar in Ost-Berlin), Ost-West-Forum West-Berlin, Michael Bartuszek, Stephan Bickhardt, Dieter Esche, Christian Heinrich, Ruth Ursel Henning, Gundolf Herzberg, Manuela Lerch, Marieluise Lindemann, Gerd Poppe, Bettina Rathenow, Edelbert Richter, Wolfgang Schenck, Christian Semler, Reinhard Weißhuhn, Konrad Weiß

taz, 09.12.1989

Fragen an die Deutschen

Über antipolnische Ressentiments

Wir durchleben eine seltsame Zeit. Ganz Europa hat sich auf einen Weg ungewöhnlicher Veränderungen begeben. Die Frage der deutschen Wiedervereinigung ist wieder belebt worden. Die 'Gazeta Wyborcza' war die erste polnische Zeitung, die offen über das Recht der Deutschen, in einem eigenen Staat zu leben, geschrieben hat. Darüber, dass die deutsche Wiedervereinigung vor allem eine Sache der Deutschen selbst ist. In unseren Spalten wurde von Anfang an das Honeckerregime kritisiert und die deutschen Aspirationen für ein Leben in Freiheit und Wahrheit unterstützt, die die Mitglieder der demokratischen Opposition der DDR artikulierten. Wir waren der Ansicht - wie die polnischen Bischöfe in dem berühmten Brief von 1965 -, dass die Erinnerung an den Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen und die nationalsozialistischen Grausamkeiten nicht bedeuten dürfen, dass man die Deutschen auf ewige Zeiten an den Pranger stellen darf.

Das gibt uns heute das moralische Recht, an die demokratischen Kräfte der DDR einige öffentlichen Fragen zu richten.

Warum schweigt Ihr und distanziert Euch nicht von den in der Presse, dem Fernsehen und im Alltag gegen Polen gerichteten Hassbekundungen? Jeder in Polen erwartet, dass Ihr Eure Überzeugung von der Dauerhaftigkeit und Unantastbarkeit der polnisch-deutschen Grenze an Oder und Neiße erklärt. Ihr habt ein Recht auf Euren demokratischen Staat und wir ein Recht auf sichere Grenzen. Wie sollen wir uns da Euer Zögern erklären? Die polnisch-deutschen Beziehungen haben für die Zukunft Europas eine Schlüsselbedeutung, daher schadet die derzeitige Explosion antipolnischer Phobien unter den Deutschen nicht nur Polen. Sie schaden auch der demokratischen Ordnung und - so glauben wir - dem richtig verstandenen deutschen nationalen Interesse. Wir sprechen heute davon, weil es jetzt noch nicht zu spät ist: Feindschaft schafft Feindschaft. Der deutsche Nationalismus erzeugt in Polen Reaktionen und Emotionen, die ebenfalls zu nichts Gutem führen werden. Schließlich hängt es jetzt von uns selbst ab, ob Feindschaft oder Versöhnung unsere Zukunft bestimmt.

Adam Michnik aus 'Gazeta Wyborcza'

taz, 07.12.1989


Am 23.11.1989 beschließt der Ministerrat, dass bestimmte Waren nur an DDR-Bürger und an Ausländer, die in der DDR leben, verkauft werden dürfen.


Polnische Ängste

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