Entschließung von 28 Mitgliedern des Schriftstellerverbandes
Bekundungen aller Art demonstrieren den Willen, an unserem Land festzuhalten, um es zu verändern. Es gilt, Strukturen zu schaffen, die die Beteiligung der Bürger an der Leitung des Staates nicht nur ermöglichen, sondern sicherstellen. Dazu bedarf es der Durchsetzung des Prinzips der Gewaltenteilung. Sie ist die Voraussetzung einer unabhängigen Gesetzgebung und einer wirksamen Kontrolle der politischen und administrativen Führung.
Änderungen aller Art stehen an; sie müssen sich zu einer eingreifenden Reform von Staat, Wirtschaft, Bildungswesen verbinden. Es geht um die volle Durchsetzung, die wirkliche In-Kraft-Setzung der Verfassung unter Behebung der ihr innewohnenden Inkongruenzen. Wir verweisen besonders auf die folgenden Punkte und bekräftigen damit auch die Vorschläge der Kollegien der Rechtsanwälte der DDR.
1. Einrichtung einer allen Bürgern offen stehenden unabhängigen und bevollmächtigten Rechtsinstanz zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, Erlassen, Verordnungen, Verfügungen, Praktiken; insbesondere: Aufhebung von Gesetzen und Verordnungen, die im Widerspruch zu Art. 27-29 der Verfassung auf die Kriminalisierung normaler gesellschaftlicher und politischer Aktivitäten hinauslaufen;
2. ein Wahlgesetz, das gemäß Art. 21/2 der Verfassung bei den Wahlen von Volksvertretern auf allen Ebenen eine wirkliche Wahl zwischen Kandidaten verschiedener Orientierung innerhalb der verfassungsmäßigen Grundübereinkunft sichert; diese muss frei, geheim und direkt sein und die Benutzung der Wahlkabine zur Pflicht machen;
3. Unterstellung aller Haftanstalten und Einrichtungen des Strafvollzugs unter das Ministerium der Justiz;
4. innere Abrüstung durch Reduzierung übermäßig expandierter Sicherheitskräfte;
5. ein Mediengesetz, das durch den garantierten Verzicht auf Weisungsbefugnisse von Partei- bzw. Staatsorganen Informationsfreiheit im Sinne der ungeschmälerten Geltung von Art. 27 der Verfassung herstellt;
6. eine Wirtschaftsreform mit dem Ziel der stufenweisen Einführung einer in allen Bereichen zahlungskräftigen konvertierbaren Währung durch Dezentralisation und Entbürokratisierung der Wirtschaftsorganisation; ökonomische Selbstregulierung sollte sichergestellt, kontraproduktive Mammutkonzerne aufgelöst werden;
7. Reform des Bildungswesens auf allen Ebenen mit dem Ziel der Demokratisierung von Lehrinhalten und Lehrmethoden;
8. gleichberechtigter Zugang aller nach dem Maß ihrer Leistung zu höheren Bildungswegen ebenso wie zu leitenden Ämtern und Funktionen im Sinn der vollen Geltung von Art. 20 und 25 der Verfassung;
9. wirksame Maßnahmen zur Minderung von Luft-, Wasser- und Erdverschmutzung, gegen Energievergeudung, zur Entwicklung solch schwer beeinträchtigter Zweige wie des Gesundheitswesens, des Verkehrswesens und der Infrastruktur, nicht zuletzt des völlig vernachlässigten wissenschaftlichen Bibliothekswesens. Die dazu benötigten Mittel und Kräfte können aus nichtproduktiven Bereichen des Staatshaushalts gewonnen werden. Auch die überproportionale Förderung des Medaillensports ist zu überprüfen.
Die Bürger unseres Landes bekunden in diesen Tagen und Wochen durch das Engagement und die Disziplin ihres politischen Auftretens, was jeder seit langem wissen konnte: Staatssicherheit ist nicht eine Frage der Überwachung der Bürger, sondern der Kontrolle des Staates; sie ist eine Frage funktionierender demokratischer und Ökonomischer Institutionen. Diese gilt es schleunigst zu schaffen. Die Schwierigkeit der augenblicklichen Lage besteht darin, dass der erforderliche Wandel schnell genug eintreten muss. um die Behebung des alten, abgewirtschafteten Monopol- und Kommandosystems dauerhaft sicherzustellen, und bedacht genug, um wirklich zu greifen. In diesem Sinn ist die Formel "Kontinuität und Veränderung" die Forderung des Tages. Ein Maß an Kontinuität muss die Veränderung tragfähig machen; zugleich bilden Kontinuität und Veränderung einen Widerspruch, den es zu sehen, auszuhalten und fruchtbar zu machen gilt. Dazu bedarf es in der Führung des Staates und der Sozialistischen Einheitspartei politischer Autoritäten, die in ihrem Veränderungswillen glaubhaft und in ihrer Beziehung zur Kontinuität nicht verschlissen oder kompromittiert sind. Wir wissen aus der Geschichte von verheerenden Folgen, die eintreten können, wenn in gespannter Situation Politiker, die fähig wären, zwischen dein Alten und dem Neuen wirksam zu vermitteln, durch die Eigensucht der Beharrenden nicht zum Zuge kommen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es um ein neues Deutschland. Heute geht es um eine neue Deutsche Demokratische Republik.
Berlin den 2. November 1989
Volker Braun/André Brie/Sigrid Damm/Friedrich Dieckmann/Jürgen Engler/Petra Falkenberg/Christel Gersch/Henry Günther/Wolfgang Herzberg/Wolfram Kempe/Rainer Kirsch/Helga Königsdorf/F. Kratochwil/Wolfgang Kröber/Klaus Laabs/Anna Mudry/Roswitha Matwin-Buschmann/Joachim Meinert/Steffen Mensching/Paul Kanut Schäfer/Kathrin Schmidt/K. P. Schwarz/Jens Sparschuh/ Karlheinz Steinmüller/Rudi Strahl/Jürgen Walther/Hans-Eckardt Wenzel/Günter Wünsche.