Zur Lage in der DDR

Presseerklärung vom 9.2.90 von Vertretern politischer Vereinigungen der DDR und der BRD

Vertrauen in die eigene Kraft

Die unterzeichnenden Gruppen und Organisationen aus der DDR und Berlin (West) warnen angesichts der sich überschlagenden Wiedervereinigungsspläne und Euphorie mit allem Nachdruck davor, die nationalen Empfindungen weiterhin hochzuputschen und die Illusion zu Schüren, dass mit der deutschen Einheit die tief greifenden Probleme in der DDR zu lösen sein werden. Im Gegenteil: Ein schneller Anschluss an die Bundesrepublik über eine Währungs- und Wirtschaftsunion und die Angleichung an das Rechtssystem der Bundesrepublik bedeutet das Ende des revolutionären Prozesses in der DDR. Bemühungen um eigenständige Lösungen hätten keine Chance mehr. Angesichts des ökonomischen Übergewichts des Westens droht nichts in der DDR Bestand zu haben.

Wen die Ergebnisse von 40 Jahren Arbeit in der DDR ausschließlich als "Schrott" und "marode" bezeichnet werden, wächst die Resignation und westliche Versprechen erscheinen als einziger Ausweg.

Eine Wirtschafts- und Währungsunion ist mit der BRD im Rahmen einer Vertragsgemeinschaft kurzfristig nicht machbar, ohne sofort zwei Drittel der Betriebe zu ruinieren. Selbst Westeuropa hat, trotz des viel geringeren Produktivitätsgefälles nach 40 Jahren noch keine Währungsunion erreicht. Zum verstärkt diese wirtschaftsstrategisch unverantwortliche Position des Regierungschefs Modrow und der Bundesregierung die Illusion von Millionen Bürgerinnen und Bürgern, dass ein Direktanschluss an die BRD und die D-Mark als Binnenwährung bundesdeutschen Lebensstandard sichern könnten.

Wir sagen NEIN dazu und rufen die Verantwortlichen in Ost und West auf, diese abenteuerliche Politik zu stoppen.

Die deutsche Zweistaatlichkeit muss nicht das letzte Wort der Geschichte gewesen sein.

ABER:

Annäherung und Kooperation zwischen beiden deutschen Staaten verlangen Gleichberechtigung und Souveränität beider Partner, soll sich nicht in einer bloßen Einverleibung der DDR durch die BRD enden.

Die DDR braucht Zeit und die Möglichkeit einer selbstbestimmten demokratisch kontrollierten Reform. Finanzielle und wirtschaftliche Hilfe durch die BRD muss eine solche Entwicklung unterstützen, statt der DDR das politische und wirtschaftliche System der BRD aufzupfropfen. Dagegen vertreten wir gemeinschaftlich-europäische getragene Veränderungen.

Denn:

Es gab Gründe, den Staatssicherheitsdienst aufzulösen. Warum sollen die DDR-Bürgerinnen und -Bürger jetzt dem Verfassungsschutz ausgeliefert werden? Sind die Republikaner durch die Volkskammer verboten worden, um sie auf den Weg einer Rechtsangleichung wieder zu legalisieren?

Soll die Verkürzung des Wehrdienstes wieder aufgegeben werden?

Frauen in der DDR haben das Recht auf eine ökonomisch unabhängige Existenz und selbstentschiedene Schwangerschaft. Sollen sie es wieder verlieren?

Eine deutsche Einheit bedarf daher auch grundlegender Reformen in der BRD. Die BRD ist gegenüber ihrem Nachbarstaat in der Schuld, nachdem die DDR die Hauptlast der Reparationen getragen und dar jahrelange Aderlass an ausgebildeten Fachkräften der BRD-Wirtschaft Milliardenvorteile verschafft hat.

Wir fordern die Regierungen beider Länder auf, ihre Militärhaushalte drastisch abzubauen bis hin zur vollständigen Entmilitarisierung beider Staaten, um die finanziellen Mittel freizumachen für sofortige und umfassende Hilfsprogramme.

Nicht Versprechungen zum Wiedererrichten des (Groß)Deutschen Reiches helfen den Menschen, sondern das Vertrauen in die eigene Kraft und schnelle Maßnahmen zum Wiederaufbau.

Vereinigte Linke; die GRÜNE Partei; Mitgliederinnen, Mitglieder NEUES FORUM; die NELKEN; der Linke Jugendring; IG Alternative Jugendvertretung; Alternative Liste, Die GRÜNEN

aus: telegraph, Nr. 4, 22.02.1990, unabhängig und behörden-unfreundlich, Herausgeber: Umweltbibliothek Berlin

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