Offener Brief der Goßner-Mission

Das Kuratorium der Goßner-Mission in der DDR hat sich auf seiner Sitzung am 6. November 1989 mit der krisenhaften Lage in unserem Land auseinandergesetzt und den Vorsitzenden des Kuratoriums, Generalsuperintendent Dr. Günter Krusche, beauftragt, einen Offenen Brief an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Egon Krenz, zu richten. In ihm heißt es: "Wir halten nach wie vor an der sozialistischen Option fest und unterstützen die Suche nach Gerechtigkeit für alle Menschen, besonders für die Armen dieser Erde, für die der Sozialismus die Hoffnung auf eine bessere Welt des Friedens und der Gerechtigkeit beinhaltet.

Wir können jedoch nicht die Tatsache übersehen, dass durch eine verfehlte Politik in den hinter uns liegenden Jahren die sozialistische Idee weltweit in Misskredit gebracht worden ist und plädieren daher mit Nachdruck für eine totale Erneuerung der Gesellschaft.

Wir müssen aber auch feststellen, dass viele Bürger der DDR bis zur Stunde noch kein Vertrauen in die angesagte 'Wende' aufbringen und von der Unwiderruflichkeit der Erneuerung so wenig überzeugt sind, dass sie der DDR den Rücken kehren.

Wir fordern daher nach dem bereits erfolgten Rücktritt der Regierung und des Politbüros die sofortige Ankündigung von Neuwahlen auf der Grundlage eines Wahlgesetzes, das den Bürgern unseres Landes die Möglichkeit gibt, mit ihrer Stimme direkt Einfluss auf die weitere Gestaltung des Sozialismus zu nehmen. Geschieht dies nicht, wird die historische Chance, einen Sozialismus mit einem menschlichen Gesicht zu schaffen, vertan."

Berlin, 8.11.89

aus: Neue Zeit, Jahrgang 45, Ausgabe 266, 11.11.1989, Zentralorgan der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands