Ungebrochener Mut zum Träumen
Gespräch mit dem Schriftsteller Stefan Heym
Kaum ein Schriftsteller dieses Jahrhunderts hat das Thema Deutschland und die Deutschen dergestalt umfassend und mit ähnlichem Facettenreichtum geschildert wie Stefan Heym. Kaum ein anderer ist so eng mit allem verbunden gewesen, was sich nach 1945 auf deutschem Boden abspielte. Wer ist öfter zu politischen Fragen einvernommen worden, die das Schicksal dieses germanischen Volkes betrafen? Über Jahre und Jahrzehnte hinweg - wenngleich unter verschiedenen Vorzeichen verfolgt, beargwöhnt, bespitzelt und angefeindet, blieb Stefan Heym bis heute für viele eine Institution, ein Künstler und Ratgeber, den noch immer Briefe erreichen mit der ewigen Frage: Was sollen wir tun? Schon sein erster Roman "Der Fall Glasenapp" (Hostages) setzte sich mit dem Widerstand gegen die deutschen Besatzer in der Tschechoslowakei auseinander, "Kreuzfahrer von heute" (The Crusaders) gehört zu den großen Epen über den zweiten Weltkrieg, zu den wenigen, die das Geschehen von amerikanischer Seite her beschreiben. "Fünf Tage im Juni" behandelt den Aufstand 1953, "Der König David Bericht" verbirgt hinter historischem Gewand eine spannende Abhandlung über Geschichtsfälschung, "Die Königin gegen Defoe" beschreibt die Rolle des Künstlers in einer Atmosphäre der Zensur, sein aus dem übrigen Werk herausragender Roman "Ahasver" ist eine schlimme Prophezeiung für jene, die glauben, die Realität nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Der Traum, was hätte aus Deutschland werden können: der Roman "Schwarzenberg". "Collin" - Anatomie einer schleichenden Krankheit im Innern des sogenannten Sozialismus, und die ersten Wurzeln deutscher Befreiung finden sich in den "Papieren des Andreas Lenz" und der Biographie "Lassalle". Das Oeuvre eines Mannes, der wohl nie zum Schlafen kam, dachte er an Deutschland in der Nacht. NEUE ZEIT befragte Stefan Heym zu Schaffen und Gegenwart.
Im Spiegel Nr. 49/1989 schrieben Sie: "Aus dem Volk, das nach Jahrzehnten Unterwürfigkeit und Flucht sich aufgerafft und sein Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte und das soeben noch edlen Blicks, einer verheißungsvollen Zukunft zuzustreben schien, wurde eine Horde von Wütigen, die Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef, wenig später: Die Schuld läge dort, wo "Mangel an Logik zu Mangel an Gütern" geführt habe. Der Artikel steht unter dem Titel "Aschermittwoch in der DDR".
Ihre Äußerungen nach der Wahl könnten darauf schließen lassen, dass Sie diese wiederum als einen Aschermittwoch erlebten. Gehören Sie zu denen, die nun das Volk ob seines Votums ausschimpfen?
Man kann das Volk überhaupt nicht ausschimpfen. Auch jener Artikel im Spiegel war ja keine Schimpfe, sondern die Darstellung eines Zustandes. Dazu sind Schriftsteller und Künstler überhaupt verpflichtet. Ebenso könnte man über Brueghel schimpfen, dessen Bauern sehen auch nicht sehr hübsch aus, oder über Dürer und das Bildnis seiner Mutter. Wir stellen einfach dar, was ist, und versuchen zu sagen, woher es kommt. Genauso muss man sehen: Das Volk hat so entschieden und gewählt, und dann muss man versuchen, die Gründe dafür zu finden.
Im gleichen Artikel heißt es weiter unten: "Und die Menschen, ob Genossen oder nicht, so lange auf die einzig richtige Linie getrimmt, sind unsicher geworden nach der Abschaffung des leitenden Fadens. Um so offeneren Herzens sind sie, und so wird jeder Scharlatan, west- oder östlicher Herkunft, seine Gauklersprüche ihnen eintrichtern können." Ein Volk von Unzurechnungsfähigen? Trotteln, die einer Banane hinterherlaufen?
Das ist nicht eine Frage von moralischer Wertung, also bei mir wenigstens nicht. Wie ich eben erklärt habe, bin ich verpflichtet zu sagen, was ist. Und ich hoffe, wenn die Menschen das lesen, werden sie sich überlegen, ob es vielleicht stimmt. Das Volk ist ja kein Klumpen, es besteht aus einzelnen, die sich hoffentlich fragen, ob der Spiegel, den man ihnen vorhält, das richtige Bild zeigt oder nicht und dann die richtigen Konsequenzen daraus ziehen. Aber ich glaube, ich habe recht, dass es ein Zustand war und ist, in dem jeder Scharlatan kommen und ihnen seine Sprüche vorreden kann. Ob sie darauf hereinfallen oder nicht, ist eine andere Frage.
Bei aller kritischen Distanz, die Sie zu dem früheren Regime hier und zur offiziellen Doktrin gehalten haben, kam nicht nach den Enthüllungen der jüngsten Vergangenheit auch für Sie einiges überraschend? Ahnten Sie, dass der korrupte Sumpf so tief war?
An den Einzelheiten war einiges überraschend, aber im allgemeinen war doch bekannt, dass es sich um ein Regime handelte, wo man einander die guten Pöstchen zugespielt hat. So, wie es heute auch wieder geschieht und geschehen wird. Sobald das neue Regime etabliert ist, wird der gleiche Tanz kommen.
Dass eine kleine Führungs-Clique in solchem Maße Milliarden von erarbeitetem Volksvermögen zu verschleudern in der Lage ist, hätte ich nicht angenommen.
Zu großen Teilen ist das ja gar nicht in deren Tasche geflossen, sondern war einfach Misswirtschaft. Sie haben schlecht gewirtschaftet und schlecht regiert. Wenn man ihnen schon einen Prozess machen will, dann glaube ich nicht, dass man viel Erfolg haben wird, wenn man auf "persönliche Bereicherung" klagt. Man kann sie höchstens dafür anklagen, dass sie schlecht regiert haben. Es gibt allerdings kein Gesetz, in dem das bestraft würde, in keinem Lande. Die Strafe besteht darin, dass sie abgesetzt wurden, und das ist in Gang gesetzt worden.
Wie stellt sich denn für Sie das Drama um die Familie Honecker dar, das derzeit ständig in den Schlagzeilen ist?
Dazu möchte ich mich nicht äußern. Das ist ein Thema für einen Roman.
Werden Sie den schreiben?
Das weiß ich nicht. Vielleicht kann man das in einen Roman einbauen, der das dann alles in einem größeren Rahmen sieht.
In dem Spiegel-Essay klingt auch die Angst vor einem starken, wirtschaftlich und politisch geeinten Deutschland an. Aus welchem Grunde halten viele eine größere Ansammlung von Deutschen immer wieder für ein Monster? Liegt das m einem nationalen Temperament begründet?
Nein. Das sehen Sie falsch. Es geht ja nicht so sehr um Deutsche als vielmehr um den Kapitalismus. Ein solcher mächtiger Kapitalismus in der Mitte von Europa drängt auf Expansion, das ist völlig klar. Das liegt in der Natur der Ökonomie. Und darin liegt natürlich eine Gefahr. Früher hätte das über kurz oder lang, meist über kurz, zu einem Kriege geführt. Ich hoffe, dass dies jetzt nicht wieder passiert, das wäre das Ende des ganzen Globus.
Ich möchte versuchen, zur Literatur überzuleiten. In Ihren "Fünf Tagen im Juni" geht es im ganzen darum, 1953 den Streik gewissermaßen als Schönheitsfehler, der durch Unfähigkeit verschuldet wurde, abzuwehren. Die Idee, dass möglicherweise das ganze System nicht funktionieren könnte, kommt nicht zur Sprache, wenngleich die Arbeiter offensichtlich die Nase voll haben vom sogenannten Sozialismus und deshalb auch weiter der Arbeit fernbleiben. Auch in "Wege und Umwege" taucht die Formulierung auf, wir seien "der Bundesrepublik um eine Revolution voraus", der "Trend in der Welt geht zum Sozialismus". Erstens sieht es mit dem Trend heute etwas anders aus, und zweitens scheint mir, ist hier ein großer Traum zerstört worden.
Der Streik war nicht nur ein Schönheitsfehler. Ein Streik ist ein politisches Geschehen. Sie müssen die Situation von damals sehen. Die ganze DDR-Ordnung war geschaffen worden durch eine Besatzungsmacht. Die Leute in der DDR hatten diesen, ich betone diesen, Sozialismus, den real existierenden, ja nicht herbei gewünscht. Er kam über sie. So war es natürlich, dass sie Ressentiments dagegen entwickeln würden. Das bedeutet aber nicht, dass das System des Sozialismus, und hier meine ich den wirklichen Sozialismus, sich bereits als untauglich erwiesen hätte.
In einer solchen Situation, wo es auch in der Sowjetunion nicht mehr funktioniert, überlegt man sich natürlich: Wo stimmt etwas nicht, und warum stimmt etwas nicht? Aber ich meine doch, dass alles davon abhängt, was man unter Sozialismus versteht. Ich glaube, dass in der Zukunft Sozialismus eher aufgefasst werden wird als eine Sache, die mit dem lateinischen Ursprung des Wortes "Socius" zu tun hat. Socius ist ein Gesellschafter, ein Freund, ein Mitarbeiter. Der Sozialismus ist ein System von Freunden, von Mitarbeitern, Sozien, für ein bestimmtes Ziel. Ich glaube, dass diese Idee nicht nur Bestand haben wird, sondern auch Bestand haben muss, wenn die Welt nicht zugrunde gehen soll. Bedenken Sie nur die großen globalen Probleme der Ökologie, Klimaschwankungen, Ozonloch usw. - all dies kann nicht individuell oder von einer Nation gelöst werden, und sei sie noch so mächtig. Diese Probleme können nur zusammen, planmäßig, und ich möchte sagen sozialistisch, gelöst werden, anders geht es nicht.
Was bedeutet Ihnen die Rehabilitierung im Schriftstellerverband?
Ich habe unter dem Ausschluss nicht sehr gelitten, daher ist meine emotionale Reaktion auf die Rehabilitierung auch nicht sonderlich stark gewesen. Es hat mich in der Tiefe meines Herzens nicht so sehr berührt, aber wenn man sich sagt, dass sich einige Kollegen jetzt überlegen müssen, ob sie damals nicht einen Fehler gemacht haben, dann ist das doch gut zu wissen. Oder etwa nicht?
Wie stehen Sie heute zu den Betreibern Ihres Ausschlusses?
Ich bin nicht persönlich rachsüchtig.
Sicher kennen Sie den vernichtenden Verriss von Marcel Reich-Ranicki über "Fünf Tage im Juni" aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Wie stark berühren Sie solche Kritiken?
Ich habe über die Frage der Kritik während des Krieges ein Gespräch gehabt mit meinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem Schriftsteller Hans Habe. Er hat eine Menge Bücher geschrieben, auch sehr gute darunter. Habe sagte mir: Kritiken kann man nur von einem Standpunkte her betrachten: erstens, wie lang sind sie, und zweitens: ist der Name richtig buchstabiert? Und ich glaube, er hat recht.
Was ist für Sie ein Kommunist? Und welchen Titel würden Sie sich selbst geben?
Viele Leute, die versuchten, mich einzuordnen und mich in irgendwelchen Schubladen unterzubringen, haben immer Schwierigkeiten damit gehabt. Und auch ich habe Schwierigkeiten damit. Überlassen wir das der Nachwelt.
Was ist ein Kommunist, gibt es solche Leute überhaupt?
O ja, ich habe welche kennengelernt. Sie waren, zumindest einen Teil ihres Lebens, sehr edle Menschen, die eine Vision hatten vom Leben und wie es sein sollte. Manche sind gescheitert, andere gestorben, aber für mich waren sie zumindest immer interessant und zum Teil auch gute Freunde. Wenngleich es auch immer welche gegeben hat, die sich diesen Titel fälschlich zugelegt haben.
In einer Kritik zu "Schwarzenberg" hieß es: "Der alte Mann träumt immer noch". Im "Nachruf" schreiben Sie: Sie hätten "noch heute höchst unangebrachte Fälle von Gutgläubigkeit". Lässt sich das eventuell mit dem Glauben an eine bessere Gesellschaft in Verbindung bringen?
Wenn ich es selber geschrieben habe, wird es wohl stimmen. Ich meinte das in dem Sinne, dass ich immer mal wieder auf Leute hereinfalle, die zu mir kommen und mir schmeicheln. Das lässt sich auch gar nicht vermeiden. Wenn man mir erzählt, was für ein großartiges Kerlchen ich bin, neige ich dazu, diese Leute nicht immer gleich für absolute Schurken zu halten.
Auf einigen Plakaten der PDS, aber auch bei Günter Grass finden sich Sätze, dass man Mut zum Träumen haben müsse. Geht das auch in diese Richtung?
Ich schäme mich keineswegs, Ideale zu haben.
Glauben Sie nicht, dass Ihr Erzählband "Schatten und Licht" mit einigen Geschichten das damalige Regime ziemlich stark gestützt hat?
Na und? Zufällig hat er das getan. Ich habe den Kapitalismus dargestellt, das hat natürlich die Haltung des hiesigen Regimes gestützt. Kapitalismus ist keine Versammlung von Engeln. Wenn er jetzt in die DDR zurückkehrt, und er tut das ja mit sehr großen Schritten, werden Sie das selbst feststellen.
Meine letzte Frage kehrt noch einmal zu "Schatten und Licht" zurück. Der Band ist ja 1955 erschienen. Die letzte Erzählung handelt von einigen Freunden, die sich am Silvesterabend der Jahrtausendwende zusammenfinden, es gibt dann nur noch ein großes, freies Weltreich, einer kommt aus dem sich gut entwickelnden Afrika, aus Asien und Amerika kommen andere. Sie alle blicken einer lebenswerten und hoffnungsvollen Epoche entgegen ... Welche Zwischenbilanz würden Sie heute, zehn Jahre vor dem Termin, hinsichtlich der Chancen für ein solches glückliches Treffen ziehen?
Es scheint sich zu beweisen, dass ich in großen Zügen zumindest recht gehabt habe. Die letzte afrikanische Kolonie, Namibia, ist gerade ein unabhängiger Staat geworden, Länder, die damals, als ich diese Sache schrieb, noch ganz arm und fast barbarisch waren, entwickeln sich heute, manche sind inzwischen Industrienationen geworden. Es hat sich also doch einiges verändert. Dass es in den Details nicht so sein konnte, wie ich es geschrieben habe, ist ja klar.
Das Gespräch führte Ralf Schuler
aus: Neue Zeit, 46. Jahrgang, Ausgabe 83, 07.04.1990, Tageszeitung für Deutschland - Christlich, Demokratisch, Sozial
[Mit Hertie und Bilka sind Kaufhäuser in Westdeutschland und Westberlin gemeint, die es heute aber nicht mehr gibt.]