Ohne Hoffnung könnte ich nicht leben . . .
Junge Welt Exklusivinterview mit Walter Janka
• Wie ist der Sozialismus zu retten? • Wann begann der "kalte Stalinismus"? • Was ist stärker als die Verzweiflung? • Welche Gründe gab es, das Schweigen zu brechen? • Warum sollten Journalisten unbedingt einen bisherigen Tabu-Bereich betreten?
Noch vor zwei Monaten führte er ein zurückgezogenes Leben in Kleinmachnow. Nun erreichen ihn Hunderte Briefe und Telegramme, das Telefon läute unaufhörlich, und die Besucher geben sich die klinke in die Hand. Der Grund: Walter Janka (Jahrgang 1911) hat ein Buch geschrieben, das erschütterte Reaktionen hervorrief. "Schwierigkeiten mit der Wahrheit" heißt es, und nachdem es bei Rowohlt (BRD) erschien ist, wird es demnächst auch unser Aufbau-Verlag herausbringen. Jener Verlag, dessen Direktor er einst war und in dem er Anfang Dezember 1956 verhaftet wurde. Die Anklage lautete: konterrevolutionäre Verschwörung gegen die Regierung Ulbricht. Während eines inszenierten Schauprozesses wurde der aufrechte Kommunist, an dessen Gesinnung und Lauterkeit es weder als Jungfunktionär im heimatlichen Chemnitz noch als Kommandant der 27. Division in Spanien, weder als Häftling im französischen Internierungslagern noch als Verleger im mexikanischen Exil Zweifel gab, zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Weil er sich in internen Diskussionen für die Erneuerung von SED und Staat aussprach. Weiter nichts. - Widersprüchliche Gefühle begleiten mich auf dem Weg zu unserem vor Wochen verabredeten Interview. Doch die Scheu verfliegt, als mich Charlotte und Walter Janka so warmherzig empfangen, als währen wir alte Bekannte . . .
Seit den beiden Lesungen im Berliner Deutscheren Theater können Sie sich vor Interviewwünschen kaum noch retten. Gibt es etwas, was meine Beilegen bisher nicht erfragten, Ihnen aber auf der Seele liegt?
Eigentlich nicht, denn Journalisten wollen gemeinhin alles wissen. Aber was mich augenblicklich am meisten interessiert, ist die Situation in unserem Land. Wie retten wir, was zu retten ist: den Sozialismus. Bisher jedenfalls habe ich noch keine andere Alternative zum Kapitalismus entdecken können. Diesen Sozialismus möchte ich aber nicht als Stalinismus verstanden wissen. Der hat den Sozialismus und Marxismus kompromittiert, und mit diesem furchtbaren Übel müssen wir fertig werden. Es muss aus der Welt geschafft werden, sonst haben wir keine Chance.
Was ist Ihrer Meinung nach, dazu konkret nötigt?
Also zunächst einmal muss man jene Leute aus ihren Ämtern schmeißen, die unser Ansehen zerstört hoben. In allen Funktionen - von der Gemeinde über die Regierung bis hin zu sämtlichen Parteien - brauchen wir intelligente, aufrichtige, unbelastete Menschen. Mit Leuten, die in der Vergangenheit eben nur gestützt auf die Methoden und Machtstrukturen einer sogenannten proletarischen Diktatur regiert, kommandiert und uns betrogen hoben, können wir nichts bewirken. Das wird für den Übergang schwierig sein, weil man kein Vakuum entstehen lassen darf, wo niemand die Erbschaft übernehmen will, und so einfach ist das ja auch nicht. Wir müssen noch mal beinahe bei Null anfangen, obwohl wir, verglichen mit Polen und der Sowjetunion, günstigere Ausgangspositionen haben. Als ich jetzt von einer Lesung in Bautzen auf Umwegen über die Dörfer noch Hause fuhr, habe ich befriedigt festgestellt - trotz großer Enttäuschungen trotz der Unzufriedenheit trotz aller Kritik: Auf unseren Feldern wird gearbeitet. Und das ist unser wichtigstes Kapital. Wäre dem nicht so, könnten wir nur noch aufgeben.
Stalinistische Deformationen, sagten Sie, haben Sozialismus und Marxismus diskreditiert. Worin unterschied sich der Stalinismus in der Sowjetunion von dem in anderen Staaten?
Aus meiner Sicht verlief der Stalinismus in drei Phasen. Der "blutige Stalinismus" wurde durch die Schauprozesse in der Sowjetunion während der 30er Jahre geprägt. Ihnen fielen wertvolle sowjetische Genossen, aber auch Mitglieder der Komintern und der KPD zum Opfer. Seine "heiße Phase" erfasste, ausgehend von, Slansky-Prozess, noch dem zweiten Weltkrieg auch die volksdemokratischen Länder. Deshalb standen Franz Dahlem und Paul Merker bei uns vor Gericht, stürzten sich Genossen wie Lex Ende in den Selbstmord - ein tragisches Kapitel, über das ich in meiner Autobiographie berichten werde. Der "kalte Stalinismus" begann nach dem XX. Parteitag der KPdSU und wirkt, bei uns bis vor wenigen Wochen. Ämter auf Lebenszeit, das bot nichts mit Kommunismus oder Marxismus zu tun, höchstens mit Feudalismus. Erneuerung kann jetzt nur heißen, dass wir uns auf die humanen Werte des Sozialismus besinnen ohne jemals wieder jemand auszugrenzen. Welche gebildeten Leute vereint zum Beispiel das Neue Forum. Ich kenne viele von ihnen und weiß, dass sie mindestens genauso für den Sozialismus sind wie ich. Ebenso die Kirche, mit der uns mehr verbindet, als mancher heute noch wahrhaben will. Sie kann etwas, was wir nicht genügend vermochten. Ohne sie geht's nicht mehr und gegen sie schon gar nicht.
Sie selber haben erfahren, was es bedeutet, verdächtigt, verleumdet, ausgeschlossen zu sein. Was gab Ihnen die Kraft, der Verzweiflung zu widerstehen? Weshalb kehrten Sie der SED nicht den Rücken?
Das ist mein Leben. Ich stamme aus einer Chemnitzer Arbeiterfamilie. Mein Bruder Albert war kommunistischer Reichstagsabgeordneter und wurde von den Faschisten ermordet. Mein Vater war wie ich während der Hitlerzeit verhaftet worden. Wir alle haben einen hohen Preis bezahlt, und wir wussten wofür. Ich habe nie aufgehört, an eine gerechte, menschliche Gesellschaft für alle zu glauben und mich dafür einzusetzen.
Aber nun werden Tag für Tag entsetzliche Beispiele für Machtmissbrauch enthüllt. Mancher bezeichnet das sozialistische "System" als ein verbrecherisches. Was würden Sie diesen Menschen entgegnen?
Der Sozialismus wurde von Minderheiten missbraucht, die nur zu verurteilen sind. Aber unsere voll Marx, Engels und Lenin inspirierte Bewegung setzt sich aus ganz normalen, ehrlichen Leuten zusammen, die gewarnt sind für alle Zeiten. Wir müssen die Verfassung ändern und besonders die Arbeiter gewinnen und überzeugen - ohne Diktatur, ohne einen sich verselbständigenden Apparat, vor aller Augen. Öffentliche Kontrolle wird künftig unverzichtbar sein. Und: Wir müssen unsere Geschichte wirklich aufarbeiten.
Ihr Buch leistet einen wichtigen Beitrag dafür. Warum haben Sie Ihr Schweigen nach Jahrzehnten gebrochen?
Eigentlich wollten wir es unseren beiden Kindern übergeben. Aber dann spitzten sich die Ereignisse im letzten Jahr zu, und nach dem Gemetzel auf dem Platz des Himmlischen Friedens fürchtete ich Wiederholungen. Deshalb habe ich Rowohlt drei Kapitel meiner viel umfangreicheren Erinnerungen übergeben. Lieber wäre mir unsere Zeitschrift "Sinn und Form" gewesen.
Reicht Ihre Autobiographie, die "Aufbau" auch komplett herausbringen will, bis in die Gegenwart?
Bisher nicht, sie endet nach meiner Entlassung aus dem Zuchthaus Bautzen. Aber ich werde mich noch Weihnachten zurückziehen, um sie zu überarbeiten und zu ergänzen. Derzeitige Eindrücke kann ich einfach nicht ausklammern. Viele Menschen vertrauen mir ihre Schicksale an. Es geht soweit, dass mache uns nachts anonym Blumen vor die Haustür legen. Wir schämen uns schon dafür, dass es soweit kommen musste . . .
Aber Ihre Familie hat unbeschreibliches erlitten, auch nach der Haft noch, als Sie erst durch Vermittlung von Freunden Arbeit als DEFA-Dramaturg finden konnten. Und vielleicht empfinden viele so wie ich, welche Ermutigung von Ihnen ausgeht. Gerade weil Sie es sich auch nicht leicht machen, vorschnell urteilen oder verurteilen . . .
Wissen Sie, als ich während der Heft im Lazarett lag, brachte mir eine Frau heimlich warmes Wasser, und ein Mann beobachtete einmal, wie ich bei meinem Rundgang im winzigen Karree vom "Gelben Elend" in Bautzen schwankte. Er stellte mir einen Stuhl hin. Diese Geste hat mich erschüttert. Beide sah ich nicht wieder, aber ich erzähle Ihnen das, weil ich selbst dort Güte und Anstand erfuhr.
Wie ich hörte hatte Sie der Leiter der Haftanstalt in Bautzen jetzt eingeladen. Was empfanden Sie bei diesem "Wiedersehen"?
Niemals hätten meine Frau und ich diese Räume wieder betreten, wenn wir nicht in langen Telegrammen so eindringlich darum gebeten worden wären. Mir wurde alles gezeigt, und ich erkannte das "Gelbe Elend" nicht mehr wieder. Statt anthrazitfarbener Zellen – hellgestrichene Räume, statt einer schmalen, stinkenden Pritsche normale Betten mit Schaumgummiauflagen, Regale, richtige Tische und Stühle, die man bewegen kann und - das Wichtigste! - Wassertoiletten. Sogar ein Spiegel hängt drin. Ich hab mich mehr als vier Jahre nicht ansehen können . . . Sagt mal, ihr Idioten, hab ich wirklich gesagt, warum habt ihr das verschwiegen? Das muss man der Öffentlichkeit doch mitteilen. Sie antworteten: Wir durften es nicht. Aber dort müssen Journalisten rein, Sozialhelfer und auch Geistliche. Eine Gesellschaft wird doch auch danach beurteilt, wie sie ihre Gegner behandelt. Wenn ich 36 Jahre alt wäre und Politik machen müsste, würde ich auch mit Häftlingen reden. In der Bibliothek dort traf ich einen jungen Mann, dem die Tränen in den Augen standen, als ich ihm die Hand gab. . . - wir müssen uns um solche Leute kümmern.
Was raten Sie den ganz Jungen, die sich nun plötzlich mit vollen Schaufenstern im Westen und Unzulänglichkeiten oder Missständen bei uns konfrontiert sehen?
Sie mögen ihre ganze Kraft dafür einsetzen dieses Land so zu gestalten, dass es für sie lebenswert ist. Dafür können sie euch vom Kapitalismus lernen, aber ich bitte sie genau hinzuschauen, die zehntausend nicht zu übersehen, die in Westberlin unter Brücken schlafen, und die hunderttausend ohne Chance eine Arbeit zu bekommen. Wir wollen die DDR zu einem Partner machen und nicht zu einem Bundesland. Ich glaube immer noch, dass Sozialismus hier möglich ist. Ich hoffe es zumindest. Also macht euren jungen Leuten Mut . . .
(Das Gespräch führte
Angelika Griebner)
Junge Welt, Fr. 01.12.1989