"Tribüne" sprach mit Dr. sc. Rainer Land, Dozent an der Sektion Marxistisch-Leninistische Philosophie der Humboldt-Universität Berlin
Demokratisierung der Wirtschaft schon verpasst?
Sie gehören zu einer Arbeitsgruppe, die schon vor der Wende ein Konzept zur Umgestaltung der DDR-Wirtschaft vorlegte. Was hat Sie dazu veranlasst?
In den letzten Jahren wurden von verschiedenen Wissenschaftlern Überlegungen dazu angestellt, wie die sich abzeichnende Entwicklungsgrenze des alten Wirtschaftssystems durch Reformen überwunden werden kann. Diese Vorstellungen gingen mehr oder weniger weit, manche blieben der alten Strukturen zu sehr verhaftet. Aber es gab fast niemanden, der das Alte für voll funktionsfähig hielt.
Worin sahen Sie die Beschränktheiten des alten Wirtschaftssystems?
Es gab immer den Anspruch, es soll alles bleiben, wie es ist, außer dass es ein bisschen mehr und ein bisschen besser wird. Das ist kein richtiges Verständnis der Entwicklung von Wirtschaftsstrukturen. Im Westen wurden in den letzten vierzig Jahren, und in den letzten fünfzehn Jahren noch einmal vehement, solche alten Strukturen aufgebrochen. Bei uns gab es keine qualifizierten Auseinandersetzungen um die Veränderung der Bedürfnisse, um das Problem des Wandels der Arbeit der Qualifikation, der Flexibilität. Fragen eines Strukturwandels waren überhaupt nicht angedacht.
Soziale Sicherheit soll nach dem Wunsch vieler ebenfalls bleiben, wie sie war . . .
Bisher wurde soziale Sicherheit dadurch gewährleistet, dass der Arbeitsplatz nicht abgeschafft wurde. Die alte soziale Sicherheit festhalten heißt im Grunde genommen, an einem System festzuhalten, was sich nicht entwickeln darf. Man muss eine andere, neue soziale Sicherheit schaffen. Wenn wir Wandel haben wollen, werden Arbeitsplätze verschwinden und entstehen. Da müssen die Menschen in der Lage sein, von einem Arbeitsplatz auf einen anderen zu gehen, auch von einem Betrieb in einen anderen.
Soll das über Entlassungen erreicht werden?
Ich bin dafür, das nicht auf eine konservative Art und Weise durchzusetzen, wo eine Arbeitslosenarmee entsteht und auf diesem Weg zum Wandel zwingt. Es sollte eine positive Identifikation mit solchen Umorientierungen im Arbeitsleben erlangt werden.
Also soziale Sicherheit - ja, festhalten an der alten Form - nein?
Ja, das ist eigentlich bei allem so, wo jetzt gefragt wird, was wir vom Sozialismus "bewahren" wollen. Wir müssen zu einem ganz anderen Verständnis der Werte kommen, sie nicht einfach behalten wollen. Bei der sozialen Sicherheit heißt das, so viele Arbeitsplätze zu sichern, wie Menschen arbeiten wollen. Dafür muss sich die Fähigkeit der Menschen entwickeln, andere Arbeiten zu übernehmen.
Nun ist Flexibilität sicher notwendig. Momentan stehen jedoch beispielsweise Angestellte oder auch Gesellschaftswissenschaftler vor dem Problem, nur noch Arbeit als Verkäuferin oder Pflegepersonal in Krankenhäusern zu finden. Würde das für Sie auch noch zur sozialen Sicherheit zählen?
Was wir jetzt haben, ist doch einfach der Umbruchsituation geschuldet, kann nicht als normales Funktionieren betrachtet werden. Selbstverständlich sind für die massenhaft freigesetzten Arbeitskräfte Sozialpläne notwendig. Ein innovatives flexibles Wirtschaftssystem müssen wir erst schaffen.
Gibt es für entsprechende Wirtschaftsreformen Konzeptionen?
Im Moment sind sie sehr einseitig, werden vor allem nicht öffentlich diskutiert. Im Augenblick trifft man lediglich auf die Auffassung: Wenn man gute Technik und viel Geld hat, dann löst sich alles von, selbst. Die ganze sozialwissenschaftliche Seite, die im Management in der BRD notwendigerweise berücksichtigt wird, fehlt hier.
Sie betrachten die gegenwärtigen Entscheidungen in der Wirtschaft als Fehlentwicklung?
Ich halte die jetzige Entwicklung für den Weg, der sich einstellt, wenn man gar nicht versucht, etwas bewusst zu gestalten. Wer pragmatisch jeweils die Probleme löst, die sich stellen, versucht, irgendeinen verschwommenen Sozialismus im Zurückweichen zu sichern. Das kann nicht gelingen.
Was würden Sie stattdessen vorschlagen?
Für mich wäre denkbar, die EG-Assoziation mit einer ganz bestimmten sozialistischen Entwicklung zu verbinden. Selbstverständlich nicht nach dem alten Sozialismus-Modell, aber von dem müssen wir uns ja sowieso lösen.
Welches neue Sozialismus-Modell sehen Sie da?
Es handelt sich um einen eigenen Spielraum für eine sozialökologisch-progressive Wirtschaft, der von dem gegebenen internationalen Rahmen ausgeht. Dafür müssten in der Wirtschaft sehr weitgehende demokratische Strukturen installiert werden. Darüber sollte man sich öffentlich verständigen.
Gehen wir noch einmal zu den Beschränktheiten des alten Modells zurück. Was müsste hier noch überwunden werden?
Es gibt da eine ganze Reihe von Dingen, die als bewahrenswert gelten, aber in ihrer alten Form Entwicklung verhinderten - niedrige Mieten, stabile Preise . . . Das war ja ursprünglich gar nicht mit Subventionen gedacht, sondern es wurde einfach das Preisniveau der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg festgeschrieben. Durch den Staatshaushalt musste das dann ausgeglichen werden. Entwicklung verlangt aber veränderbare Preise.
Wodurch könnte hier Entwicklung gefördert werden?
Man müsste die Entwicklung der Wirtschaft an die Interessen der Individuen binden. Es werden demokratische Entscheidungsmöglichkeiten sowohl über die Gestaltung der Arbeit, der Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen als auch über den Lebensumweltbereich - also Konsumtion, Wohnbedingungen, Infrastruktur - gebraucht.
Bleiben wir beim Stichwort Wohnungen. Wie soll das organisiert werden?
Bei mir im Hausflur hängt ein Plakat, dass man diesen Wahlkreis in Prenzlauer Berg in Selbstverwaltung übernehmen will. Solche Strukturen werden gebraucht, nicht eine monopolistische KWV, die mit den Bedürfnissen der Bürger nichts mehr zu tun hat. Selbstverständlich wird dafür eine öffentliche Aufsicht gebraucht, die auch gerecht über noch notwendige Subventionen entscheidet. Erwirtschaftet haben die Bürger auch bisher die Subventionen, aber sie hatten keinerlei Einfluss darauf, wofür sie verwendet wurden.
Es geht für Sie stets um Möglichkeiten der Bürger, Einfluss zu nehmen. Wodurch wäre das möglich?
Im wirtschaftlichen Bereich gehören zur Interessenvertretung zum Beispiel Gewerkschaften, aber auch Interessenorganisationen der Konsumenten, die Verbraucherinteressen artikulieren, Ökologieinteressen sind ganz wichtig geworden . . .
Lässt sich ein solcher Einfluss überhaupt noch sichern, wenn die Betriebe zu 49 Prozent an westliches Kapital verkauft werden? Braucht man dafür nicht gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln?
Da müsste man erst einmal den Eigentumsbegriff klären. Unsere bisherige Form des Staatseigentums war kaum mit demokratischen Strukturen verbunden. Die fehlenden Einflussmöglichkeiten der Gesellschaft lassen das als gesellschaftliches Eigentum sehr fragwürdig erscheinen. Andererseits, wenn der Kapitalgeber nicht mehr allein darüber entscheidet, was mit dem Kapital gemacht wird, hat man kein reines Privateigentum. Das ist auch im modernen Kapitalismus so. Karl Renner hat beschrieben, wie sich das kapitalistische Eigentum allmählich in öffentliches umwandelt: Der Vergesellschaftungsprozess des Privateigentums läuft über das Hineindrücken anderer Interessen in die kapitalistischen Strukturen, etwa als gewerkschaftliche Mitbestimmung als eine, allerdings allein nicht ausreichende Flanke.
Also moderner Kapitalismus ist eigentlich kein Kapitalismus mehr?
Das eigentlich Interessante am modernen Kapitalismus ist die Frage, wo die Entscheidungen über das Eigentum an breite demokratische Interessen gebunden sind und wo nicht. In der BRD beispielsweise gibt es eine Interessenbindung bei der Entscheidung über Rationalisierungsstrategien, was Arbeit und Arbeitsinhalte betrifft - weil es hier starke gewerkschaftliche Mitbestimmungsrechte gibt. Das Gegenteil ist der Fall im Bereich der Konsumtionsinteressen, wo die Produzenteninteressen den Markt dominieren. Das zeigt sich bei der Automobilindustrie, wo mit einem höchst progressiven Produktionskonzept, was durch starke demokratische Mitentscheidung der Gewerkschaften zustande gekommen ist, ein höchst prekäres Produkt hergestellt wird - das Auto, an dem die Gesellschaft kaputtgehen wird. Eigentum realisieren hier die Kapitalisten plus die Arbeitnehmer, die aber kurioserweise auch die Verbraucher sind und als solche überhaupt nichts zu sagen haben.
Bei den sowjetischen Gesellschaftswissenschaftlern gab es in diesem Zusammenhang die Diskussion über "vernünftige" Bedürfnisse.
Diese Diskussion hat zur Grundlage, es stünde von vornherein fest, welche Bedürfnisse vernünftig und welche unvernünftig sind, und das brauche den Leuten bloß jemand zu sagen. Eigentlich aber müsste eine gesellschaftliche Diskussion dazu organisiert werden. welche Bedürfnisse die Leute befriedigen wollen. Statt dem Verkommen sämtlicher Bedürfnisse zu Konsumtionsbedürfnissen müssten Verbraucherorganisationen ihre Interessen in die Produktionsstrategien einbringen können. Zu jeder Werbung müsste die entsprechende Produktkritik erfolgen. Eine wissenschaftliche Instanz müsste außerdem Varianten nachweisen, welche Konsequenzen jeweilige Bedürfnisbefriedigungen haben.
Und wodurch würde sich Ihrer Meinung nach eine sozialistische Wirtschaft auszeichnen?
Wenn man autonome Wirtschaft, staatliche Rahmenbedingungen und Strukturpolitik so mit demokratischen Strukturen verbindet, dass die soziale und ökologische Richtung der Gesellschaft stark von den Bedürfnissen der Menschen abhängt, dann würde ich das sozialistisch nennen wollen, und dann ist das ein gesellschaftlich gebundenes Eigentum.
Davon sind wir aber weit entfernt?
Ich hatte ja eine Weile gehofft, dass man tatsächlich einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über all diese Dinge zustande bringt. Das ist aber nicht erfolgt, warum, ist schwer zu sagen. Es wäre eine Chance gewesen, die Volksbewegung, die ja in ihrer ersten Phase sehr qualifiziert und kulturvoll an die Auflösung der alten Strukturen gegangen ist, durch einen öffentlichen Diskurs über die neuen Strukturen weiterzuentwickeln. Passiert ist statt dessen so eine Art Degenerations- und Polarisationsprozess, der auf die simple Position Vereinigung - ja oder nein - hinausgeht. Im Grunde genommen haben die politischen Kräfte die Chance verpasst, über mögliche Wege zu diskutieren.
Scheinbar haben sich viele für einen Weg entschieden?
Ja, aber warum? Der Grundirrtum ist doch tatsächlich der, dass die Leute meinen, durch eine Wiedervereinigung um den Strukturumbau drumrumzukommen. Bei der nun ausgefallenen Diskussion hätte man mal durchgespielt, was, würde denn das heißen: Vereinigung?
Was würde Vereinigung mit der BRD Ihrer Meinung nach heißen?
Das würde bedeuten, dass man die Strukturen Schnitt für Schritt umbauen muss, mit der Zielrichtung, sie so zu machen wie in der BRD. Die andere Variante wäre, man macht eine EG-Anbindung, auch da muss man Schritt für Schritt umbauen. Auch für die dritte Variante - einen eigenen Weg - müsste man die Strukturen umbauen. Wenn man erst einmal so weit wäre, nach den Wegen des Umbaus zu fragen, wäre das etwas anderes, als die Annahme, dass man um den Strukturumbau, um Lasten und Kosten, herumkommt.
Was wäre beim Strukturumbau zu erwarten?
Chaotische Wiedervereinigung ohne geregelte Bedingungen und Schritte würde enorme soziale Unsicherheit bedeuten. Wird zum Beispiel das Leunawerk ohne Sozialplan zugemacht, dann sind alle draußen, die jetzt nach Wiedervereinigung schreien. Das ganze Gebiet müsste entseucht werden. Die erwarten alle volle Läden, aber in Wirklichkeit würde es vielen für Jahre sehr schlecht gehen.
Einen geordneten Umbau brauchte man in jedem Fall, auch wenn man sich für die Vereinigung mit der BRD entscheidet. Und Lasten werden zu tragen sein, auch wenn die BRD hilft.
Die BRD würde allerdings nur helfen, wenn hier ein geordneter und abgesicherter Umbau vor sich geht, der zu einer geordneten Wirtschafts- und Sozialordnung führt.
Das Gespräch führten
Petra Krebs und Manfred Strzeletz.
Biographisches
Unser Gesprächspartner wurde 1952 in Caputh geboren. Nach dem Schulbesuch erlernte er den Beruf eines Rinderzüchters und legte gleichzeitig das Abitur ab. Dem Dienst in der NVA folgte das Studium der Philosophie von 1975 bis 1980. Gemeinsam mit anderen suchte er als Mitarbeiter der Sektion Philosophie der Humboldt-Universität nach einem Gesellschaftsverständnis, was nur gegen den Widerstand der "ideologischen Wissenschaftsaufsicht" möglich war. Dr. Land wechselte dann zur Sektion Wirtschaftswissenschaften, wo er 1985 zum Thema "Wissenschaftlich-technische Revolution und moderner Kapitalismus heute" promovierte. Die Qualität dieser Arbeit wurde durch die Anerkennung als Promotion B (früher Habilitation) gewürdigt. Seit 1987 ist Dr. Land wieder bei der Sektion Philosophie der Berliner Humboldt-Universität.
Er ist Mitglied der Initiative "Unabhängige sozialistische Partei Berlin", die sich zurzeit gründet.
aus: Tribüne, Nr. 29, 09.02.1990, 46. Jahrgang, Zeitung der Gewerkschaften