Der Unabhängige Frauenverband - die autonome Frauenbewegung in der DDR

EVA MALECK-LEWY

Am 3. Dezember 1989 versammelten sich weit mehr als 1 800 Frauen aus allen Teilen der Republik in der Berliner Volksbühne und sprachen sich für die Gründung eines Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) aus. Damit wurde deutlich, dass sich in den letzten Jahren eine autonome Frauenbewegung entwickelt hatte, die nun unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Um- und Aufbruchs ihre Kraft zu entfalten begann. Die neue demokratische Frauenbewegung ist seitdem Realität, und sie wird wachsen, weil ohne engagierte Frauen keine Zukunft möglich wird.

Warum es uns gibt?

Gesellschaft und Staat der DDR waren und sind männerdominiert. Aber auch mit der rasanten Veränderung im Lande zeichnete sich keine radikale und durchgreifende Verbesserung in der Frauenfrage ab. In den alten ehemals staatstragenden Parteien und Organisationen, aber auch in den neuen Gruppierungen und politischen Bürgerbewegungen gaben und geben mehrheitlich Männer den Ton an.

Obwohl es den Frauen gelungen war, wichtige sozialpolitische Bedingungen und Fortschritte zu erkämpfen, ist es grundsätzlich nicht zu einem wirklichen Aufbrechen patriarchalischer Strukturen gekommen.

In allen Bereichen der Gesellschaft sinkt mit der Höhe der Hierarchie die Mitwirkungs- und Entscheidungsmöglichkeit für Frauen.

In unserer Gesellschaft gibt es noch immer eine geschlechtstypische Teilung der Erwerbsarbeit. So genannte Frauenberufe werden in der Regel schlechter bezahlt, und auch innerhalb eines Berufszweiges gibt es eine geschlechtstypische Teilung der Arbeit. Den Frauen obliegen sehr häufig monotone und routinehafte Arbeiten mit geringeren Anforderungen an Kreativität und Entscheidungskompetenz. Frauen haben also geringere Chancen als Männer, in anspruchsvolle, interessante und gut bezahlte Positionen zu kommen.

Wir entziehen uns angesichts dieser Probleme nicht der Verantwortung gegenüber den heute vor den Völkern der Erde stehenden existentiellen globalen Fragen. Umweltzerstörung, Kriegsgefahr und lebensbedrohliche Lage in der Dritten Welt sind die Folgen der hemmungslos expandierenden, männlich dominierten Industriegesellschaften. Die folgenreiche Logik einer auf der Beherrschung der Natur und der Unterdrückung großer Bevölkerungsgruppen - darunter besonders der Frauen - beruhenden Entwicklung muss durchbrochen werden, wenn die Menschheit sich nicht am Ende selbst vernichten soll. Frauen sind vielleicht unmittelbarer betroffen von dieser Logik, und sie haben als Mütter eine besondere Verantwortung für die Sicherung einer menschlichen Zukunft.

Erst wenn die Frauen ihrem Anteil an der Menschheit entsprechend in den Regierungen und Parlamenten repräsentiert sind, können sie sich über ihre Interessen als soziale Randgruppe erheben und sich in gleicher Weise wie Männer den gesellschaftlich übergreifenden Fragen zuwenden. Eben weil Frauen keine soziale Minderheit sind, sondern die Hälfte der Menschheit, müssen sie bei allen Menschheitsfragen ihre Meinung einbringen können. Eine Frauenbewegung aber, die ohne ein gesamtgesellschaftliches Konzept sich nur auf die Durchsetzung weiblicher Interessen orientiert, wird sich am Ende selbst zur Minderheit machen.

Der Unabhängige Frauenverband sieht sich deshalb selbst in der Pflicht, die Durchsetzung der Interessen der Frau als eine zentrale Frage von Gesellschaftsgestaltung und -politik überhaupt zu begreifen und so zu handeln.

Basisdemokratisch - sozial

Der Unabhängige Frauenverband ist einer basisdemokratischen Organisationsform und -struktur verpflichtet. Frauengruppen, die seit Jahren unter dem Dach der Kirche ihre Heimat hatten, Interessengruppen in Freundinnenkreisen, Arbeitskreise zu ganz bestimmten Themen, wie Erziehung, Rentnerinnen, Alleinerziehende, oder Frauen eines Gebietes, eines Betriebes oder einer Partei fanden und finden sich zusammen und verstehen sich als dem Unabhängigen Frauenverband zugehörig. Frauen verschiedener weltanschaulicher Orientierungen und sehr unterschiedlicher praktischer gesellschaftlicher Zielstellungen arbeiten im Verband mit. Dazu gehören bisher viele Dutzende von Frauengruppen und Fraueninitiativen, wie z. B. die Fraueninitiative "lila offensive", die sozialistische Fraueninitiative "Sofi", autonome christliche Frauenarbeitskreise, Frauenzentren und viele andere.

Der Verband organisiert sich von der Basis her. Deshalb ist seine Gründung auch kein einmaliger Akt, sondern ein Prozess des von unten her Wachsens.

Der Verband ist offen für die Mitarbeit aller Frauen, Initiativen und Gruppen, die sich den Zielen des Verbandes verpflichtet fühlen. Auf dieser Grundlage wird niemand ausgegrenzt.

Der Unabhängige Frauenverband tritt für soziale Gerechtigkeit ein. Angesichts der desolaten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Situation auf allen Ebenen hierzulande ist besonders die soziale Lage von Frauen gefährdet.

Wir setzen uns für eine sozial-progressive und ökologisch orientierte Gesellschaftsentwicklung ein, die nicht auf Kosten der Dritten Weit geht.

Wir plädieren für eine gerechte Verteilung der Arbeit und der Leistungen. Dazu brauchen wir grundlegende strukturelle Veränderungen in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Diese sind jedoch nur durch die gezielte Quotierung erreichbar. Quotierung für Frauen in Hochleistungsbereichen, aber Quotierung auch für Männer, um ihnen den Zugang zu den über ein erträgliches Maß feminisierten Berufsgruppen in der Volksbildung, in den Dienstleistungen und im Gesundheitswesen zu erleichtern. Quotierung verlangt die gezielte Werbung von Frauen für bestimmte Positionen in Verbindung mit konkreten Fördermaßnahmen.

Unser Engagement gilt jetzt besonders den werktätigen Frauen. Konfrontiert mit den Rationalisierungs- und Effektivierungsstrategien in Wirtschaft und Verwaltung sehen wir die akute Gefahr, dass die unmittelbaren Interessen der werktätigen Frauen in der Arbeit selbst unterminiert werden, dass Frauen massenhaft aus ihrem gewohnten Arbeitsumfeld herausgelöst und arbeitslos werden, ohne dass es hinreichende Konzepte zur Umschulung oder anderweitige angemessene Umsetzungen in andere Arbeitsbereiche gibt. Um diese Interessen sofort zur Geltung zu bringen und zu verhindern, dass Frauen mit diesen Problemen isoliert und alleingelassen individuell zurande kommen müssen, bedarf es durchsetzungsfähiger demokratischer Interessenvertretungen, wie aktive Gewerkschaften und engagierte Betriebsräte.

Wir treten ein für kurzfristige Maßnahmen zum Aufbau eines umfassenden sozialen Netzwerkes, das dem Sinn solidarischer Gemeinschaftlichkeit verpflichtet ist und darauf orientiert, soziale Härten unmittelbar abzufedern.

Dazu gehört, dass durch Arbeitskräfteumstrukturierungen, Freisetzung und Neueinstellung kein sozialer Abstieg von Frauen bewirkt wird. In der gegenwärtigen Situation ergeben sich rechtsfreie Räume, die durch Maßnahmen im Sinne einer aktiven Gleichstellungspolitik als Übergangslösungen bis zur Erarbeitung eines neuen Arbeitsgesetzbuches ausgefüllt werden müssen. Jede Veränderung im System der Preise, Tarife, Subventionen und Zuwendungen muss durch Analyse ihrer sozialen Folgen auf die verschiedenen Gruppen von Frauen, insbesondere Alleinerziehende mit ein oder mehreren Kindern bzw. mit behinderten Kindern, Rentnerinnen, Bezieherinnen von Mindest- und Niedrigeinkommen sowie Studentinnen legitimiert sein und bedarf der Zustimmung von Frauen- bzw. Gleichstellungsbeauftragten. Freiwerdende Mittel sollten vorrangig auf die genannten Bevölkerungsgruppen umverteilt werden. Zugleich muss im Zuge einer Preis-, Tarif- und Subventionsreform das derzeit definierte Existenzminimum neu bestimmt werden.

Welche konkreten Ziele hat der Unabhängige Frauenverband?

Eine wirkliche Demokratisierung und Erneuerung unserer Gesellschaft kann nur durchgesetzt werden, wenn Frauen selbst ihren Emanzipationsprozess gestalten und dieser zur Sache aller wird. Dieser Prozess führt zu einem völlig neuen Charakter der Gesellschaft und der Partnerbeziehungen.

Das kann aber nur gelingen, wenn das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten nicht durch überstürzte Anschlusspolitik auf Kosten der Menschen in der DDR und wesentlich auf Kosten der Frauen erfolgt.

Unsere Ziele sind:

Wir wollen uns Verantwortung aufladen, damit Frauenrecht nicht unter großen Lasten zusammenbricht. Wir wollen uns überall dort zur Wehr setzen, wo erkämpfte Rechte beseitigt werden sollen. Wir wollen dieses Land und die sich vollziehenden Veränderungen mitprägen, denn: Ohne Frauen ist kein Staat zu machen.

Verfasser: Dr. Eva Maleck-Lewy
Unabhängiger Frauenverband
Haus der Demokratie
Berlin

[ohne Datum]

aus: "Bürgerbewegungen für Demokratie in den Kommunen", 1. Aufl. - Berlin: Staatsverlag der DDR, 1990, ISBN 3-329-00720-6

Δ nach oben