"Neue Männer braucht das Land!" Und Frauen?

Am 3. Dezember 1989 trafen sich in der Berliner Volksbühne über 1 200 Frauen - Vertreterinnen autonomer Frauengruppen, -initiativen, -fraktionen und Interessierte aus der ganzen Republik. Mehrere Stunden stellten sich die Frauen mit ihren Interessen, Bedürfnissen und Forderungen vor. Ergebnis dieses Treffens: Es soll ein unabhängiger Frauenverband der DDR gegründet werden, der die verschiedensten Aktivitäten organisiert, koordiniert und gemeinsame Interessen vertritt. Einig waren sich die Frauen vor allem in einem Punkt: Für ein notwendiges neues Gesellschaftskonzept ist die Frauenfrage in unserem. Land neu zu stellen.

Die Teilnehmerinnen wählten zwei Sprecherinnen, die sie am 7.12.89 am Runden Tisch im Dietrich-Bonhoeffer-Haus vertraten. Außerdem bildeten sie einen vorläufigen Koordinierungsrat und riefen alle engagierten Frauen auf, sich der Bewegung anzuschließen.

Die Schauspielerin Walfriede Schmitt las während des Frauentreffens ein Manifest für eine autonome Frauenbewegung vor, in dem Dr. Ina Merkel, eine der gewählten Sprecherinnen, einige Frauen-Fragen an ein alternatives Gesellschaftskonzept stellte. Wir wollen Ihnen hier wichtige Passagen daraus vorstellen:

Dieses Land muss zu einer Gesellschaft entwickelt werden, in der die Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen das eigentliche Ziel sind, oder es wird dieses Land nicht mehr geben. Eine Gesellschaft, in der Arbeit und Konsum, Politik und Lebensumwelt gestaltbar werden, gestaltbar durch sich selbst bestimmende und selbst verwaltende Subjekte. Das schließt eine optimale Entwicklung der Wirtschaft ein, aber so, dass sie nicht länger die lebensweltlichen Bedürfnisse und Interessen der Individuen dominiert, sondern für die, individuelle Entwicklung freie gesellschaftliche Räume, frei verfügbare, Zeiten und eine funktionale Gegenständlichkeit schafft. Welche Problemfragen könnten für ein solches Konzept wichtig sein, was sind hier allgemeine und was besondere Frauen-Fragen?

Die Frauen haben kein Vaterland zu verlieren, sondern eine Welt zu gewinnen. Wir sollten gerade jetzt die Chance ergreifen, in einem erneuerten Sozialismus die Vielfalt unserer Lebensformen, unserer individuellen Verschiedenartigkeit, unserer Bedürfnisse und Ansprüche zur Geltung zu bringen. Bringen wir unsere Frauenbewegung auf die Höhe der Zeit. Setzen wir uns für eine multikulturelle Gesellschaft ein. Sorgen wir dafür, dass in unserem Land niemand wegen seiner Herkunft, seiner Nationalität, wegen seiner Behinderung oder einfach seiner Andersartigkeit ausgegrenzt wird.

Braucht jede Frau ein Auto? Nein, denn nur wenige können sich eines leisten, es ständig pflegen und reparieren und deshalb wären viele schon zufrieden, wenn sie für Urlaubsreisen und freie Tage eines mieten könnten oder der Nahverkehr genügend attraktive Sonderangebote für Wochenend- und Ferienreisen bereitstellen würde. Frauen würden auch auf eine eigene Datsche verzichten, wenn es komfortable Feriendörfer gäbe, mit Vollverpflegung und Freizeitangeboten, in denen man jederzeit einen Platz bekommt.

Dr. Ina Merkel,
Sprecherin des unabhängigen
Frauenverbandes

aus: FÜR DICH, 1/90, 28. Jahrgang

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