Der "Papa" wird's schon richten

Worum ich gegen die Einheit stimmte - Von Bernd REICHELT, Bündnis 90/Grüne

Am 23. 8. gegen 1.30 Uhr war es endlich soweit, konnten wir in der Volkskammer über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland noch Artikel 23 des Grundgesetzes abstimmen. Anträge der Fraktionen von CDU/DA, der DSU, der FDP und der SPD machten möglich, dass der vielleicht zwanzigste Antrag dieser Art durchkommt. In Würde wollten wir in die deutsche Einheit gehen, versprach Herr de Maizière; noch mehreren wahltaktisch geprägten Debatten konnte es mit diesem Konsens-Änderungsvertrag würdeloser nicht mehr sein. Ein Symbol für den Zustand des Parlaments, der Regierung und der gesamten Noch-DDR.

Wir, die Fraktion Bündnis 90/Grüne, hatten uns zu diesem Antrag klar positioniert - den Beitritt nicht durch einen Termin festklopfen, sondern unverzüglich entscheiden, wenn die Sachfragen geklärt sind: Beendigung der 2+4-Verhandlungen; rechtswirksame Absicherung der Bildung der Länder; Verabschiedung eines Einheitsvertrages, der die Interessen der Bürgerinnen und Bürger der DDR wahrt; Festlegung eines von der Volkskammer bestätigten Konzeptes für die Übergangszeit bis zur Bildung der Länderregierungen. Dann kann der Beitritt stattfinden, und das könnte am 3. Oktober sein.

Aber die Nennung eines verbindlichen Beitrittstermins mit Bedingungen gab es nicht.

Was waren die Argumente der Befürworter, die diesem Antrag zustimmen mussten?

• der Einheitsvertrag sei im wesentlichen fertig und berücksichtigt fast alle wichtigen Fragen (Krause, CDU);

• wir müssen die Termindebatte endlich beenden, da wichtige Aufgaben vor uns stehen (Ortleb, FDP);

• die Bevölkerung will den sofortigen Beitritt;

- und - jedoch unter dem Siegel der Verschwiegenheit - Herr Kohl wünscht keinen 41. Jahrestag (wenn dieses Gerücht richtig ist, so ist dies ein typischer Fall von vorauseilendem Gehorsam, uns seit 40 Jahren und länger bekannt).

Die Ratifizierung des Einheitsvertrages steht in der Sternen. Es wird in der Volkskammer und im Bundestag eine 2/3-Mehrheit benötigt, und die SPD bekundet, dass ihr ein Überleitungsgesetz lieber ist als ein schlechter Einheitsvertrag - der Papa (Bundesrat) wird's schon richten. Herr Kohl bevorzugt inzwischen auch das Gesetz - es ist wesentlich unkomplizierter, wenn ein Verhandlungspartner weniger teilnimmt und keine Forderungen mehr gestellt werden, denn ein Überleitungsgesetz wird nur in Bonn gemacht und dort mit einfacher Mehrheit abgestimmt.

Ich habe seit dem 1. Juli und seinen Folgen auch nicht mehr das rechte Vertrauen zu Staatsverträgen.

Die Termindiskussion ist als Wahlkampfthema erst durch die Parteien der ehemaligen Regierungskoalition begonnen worden, und nun wollen sie den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Sie schaffen eine, Missstand und rühmen sich nun, diesen abgeschafft zu haben. Was soll dieses Spektakel.

Ebenso ist in der Diskussion der letzten Wochen ein Mythos entstanden: Mit der Einigung wird schlagartig alles besser (wie schon zum 18. März oder zum 1. Juli). Nun drängt natürlich die Bevölkerung darauf - eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wir in der Volkskammer haben aber den Schaden mit angerichtet, wir ziehen uns schnell aus der Verantwortung - der Papa (diesmal wohl der Kanzler) wird's schon richten. Unser Versagen ist offenbar, und wir feiern mit von Nationalstolz geschwellter Brust den Beitritt.

Der Beitritt zum 3. 10. ist ein Blanko-Scheck, auch mir bleibt nur noch die Hoffnung, nicht wirklich "unter die Räuber" (Thierse, SPD) zu fallen. Vielleicht sollte man wider besseres Wissen den Verantwortlichen in Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat wirklich trauen. Die Dampfwalzenpolitik - und da bin ich mir leider sicher - wird wie im wirtschaftlichen und sozialen Bereich fortgesetzt und über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, eine tiefe Resignation in der Bevölkerung der "Nicht-mehr-DDR" hinterlassen.

Trotz oller Resignation - wir haben so wenige unserer Vorstellungen vom Herbst verwirklichen können - sollten wir jedoch auch noch vorn blicken. Wir, die Bürgerinnen und Bürger, die schon seit Jahren in der ökologischen Bewegung, in Friedens- und Menschenrechtsgruppen arbeiten, haben die Möglichkeit, offen parlamentarisch und außerparlamentarisch tätig zu sein, sind nicht mehr einer übermächtigen Bürokratie ausgeliefert. Wir können unsere Umwelt wesentlich besser gestalten als noch vor einem Jahr, und das werden wir tun - ich kann nicht anders.

Junge Welt, Di. 28.08.1990

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