9. Volkskammer, 15. Tagung, 29.01.1990

Welche der insgesamt 11 Tagesordnungspunkte tatsächlich eine Chance hatten, auf der 15. Tagung der Volkskammer behandelt zu werden, stand bis weit in die Nachmittagsstunden nicht fest. Aufgrund der einschneidenden Übereinkünfte des Runden Tisches vom Vorabend, die den Volkskammerabgeordneten nicht zuletzt durch die Medienberichterstattung wie eine Vorwegnahme eines Volkskammerentscheids vorkommen mussten, was hörbaren Unmut hervorrief, begann die Tagung mit einstündiger Verspätung, um den Fraktionen Gelegenheit zu geben, sich mit der neuen Sachlage vertraut zu machen und möglichst Verständigung zu erzielen.

Um 11 Uhr dann eine Erklärung zur Lage in unserem Land von Ministerpräsident Dr. Hans Modrow, der eingangs feststellte, dass die Orientierung auf den neuen Termin zu den Volkskammerwahlen am 18. März selbstredend nur durch die Volkskammer zu entscheiden sei. Als Begründung für den vorgezogenen Termin führte Ministerpräsident Modrow die zunehmende Zerbrechlichkeit der gegenwärtigen Koalitionsregierung an. ökonomische und soziale Spannungen in der Gesellschaft hätten zugenommen und berührten bereits das tägliche Leben vieler Menschen. Allein die bisher bekannten Forderungen nach Erhöhung der Löhne und Gehälter, nach Verlängerung des Urlaubs, nach Erhöhung der Renten und nach weiteren sozialen Verbesserungen würden Mittel von mehr als 40 Milliarden Mark voraussetzen, eine Summe, die die Existenz der DDR gefährdet.

Lage verschlechtert sich besorgniserregend

"Voraussetzungen für umfangreiche Lohnmaßnahmen und andere soziale Leistungen können nur durch effektiveres Wirtschaften geschaffen werden", sagte Hans Modrow. "Tatsächlich verschlechtert sich die ökonomische Lage besorgniserregend, weil Streiks und befristete Arbeitsniederlegungen, langsameres Arbeiten und andere Störungen zu erheblichen Produktionsausfällen führen." Daraus würden letztlich weitere soziale Spannungen erwachsen, die mit den vorhandenen politischen Strukturen immer weniger beherrscht werden können. Er verwies darauf, dass sich in einer Reihe von Kreisen die örtlichen Volksvertretungen nahezu aufgelöst haben oder nicht mehr beschlussfähig sind. "Überprüfungen von Wahlmanipulationen während der Kommunalwahlen im vergangenen Jahr beschleunigen diesen Prozess der Demontage von örtlichen Volksvertretungen." Durch gröblichste Verletzung geltender Rechtsvorschriften von verschiedenen Interessengruppen sei der Schutz der Bürger nicht mehr in vollem Umfang gewährleistet.

Unter Verweis auf die Radikalisierung der politischen Szene in der DDR sowie die unvermindert anhaltende Ausreisewelle nahm der Ministerpräsident zum Konsens des Runden Tisches Stellung, die Wahlen für die Volkskammer auf den 18. März vorzuziehen und die Wahlen zu den Volksvertretungen sämtlicher Städte und Gemeinden, wie vorgesehen, am 6. Mai abzuhalten. Letztlich sei Einigung darüber erzielt worden, dass eine Regierung der nationalen Verantwortung geschaffen werden sollte. "Dies kann dadurch erreicht werden, dass die bisher in der Regierung nicht vertretenen Parteien und politischen Gruppen des Runden Tisches jeweils einen Vertreter in die Regierung entsenden, der als Minister ohne Geschäftsbereich Sitz und Stimme im Ministerrat erhält und auf weitere geeignete Weise aktiv in die Arbeit des Ministerrates, insbesondere bei der Vorbereitung wichtiger, grundlegender Entscheidungen, einbezogen wird." Schließlich habe man sich geeinigt, dass die Regierung einen ständigen Vertreter im Range eines Ministers an den Runden Tisch entsendet.

Hans Modrow appellierte an die Abgeordneten der Volkskammer, "bei Ihrer Entscheidung gewiss zu sein, dass die Bürger im ganzen Land auf Sie blicken, die Bürger, die von uns allen erwarten, dass in der DDR geordnete Verhältnisse einziehen, Rechtsstaatlichkeit gewährleistet wird, das tägliche Leben nicht als Last empfunden werden muss, jeder wieder Vertrauen in die Zukunft gewinnen kann.

Nach den Ausführungen des Ministerpräsidenten zogen sich die Fraktionen erneut zur Beratung zurück.

Mandatsveränderungen

Mandatsveränderungen im Staatsrat, im Ministerrat, in der Volkskammer und im Obersten Gericht wurden anschließend als Tagesordnungspunkt 1 behandelt. Zu den Mitgliedern des Staatsrates, die zurückgetreten sind, gehört Friedrich Kind, CDU-Fraktion. Volkskammerpräsident Dr. Günther Maleuda gab bekannt, dass der Ministerrat dem Ersuchen von Ministerin Ute Nickel stattgegeben habe, sie von ihrem Amt als Ministerin für Finanzen und Preise zu entbinden. Die Volkskammer stimmte mit 14 Gegenstimmen und 39 Stimmenthaltungen zu.

Das Parlament bestätigte ebenso die Anträge der Fraktionen von FDGB, SED-PDS, FDJ, VdgB und DFD, für insgesamt 14 Abgeordnete der Volkskammer, die ihr Mandat niedergelegt hatten, Nachfolgekandidaten nachrücken zu lassen. Zur Kenntnis genommen wurde der Rücktritt von Dr. Günter Sarge als Präsident des Obersten Gerichts.

Den Gesetzentwurf über die Wahlen zur Volkskammer der DDR begründete der Vorsitzende des Zeitweiligen Ausschusses zur Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes, Dr. Paul Eberle. Mit diesem Wahlgesetz gehe es um Wünsche und Hoffnungen unserer Bürger ebenso wie um die geachtete Stellung der DDR in der Gemeinschaft der Völker Europas und der Welt. Dr. Eberle verwies darauf, dass eine zugesicherte öffentliche Diskussion des Wahlgesetzes unter den neuen zeitlichen Bedingungen infrage gestellt sei und forderte eine umgehende Veröffentlichung des Entwurfs in den Medien. Man sei bei der Ausarbeitung konsequent vom Wähler ausgegangen, sagte der Ausschussvorsitzende. Das Gesetz sichere wahrhaft geheime Wahlen. Besonders intensive Diskussionen habe es im Vorfeld zur Nichtzulassung jener Parteien und Vereinigungen gegeben, die "Glaubens-, Rassen- und Völkerhass bekunden", weil dagegen schon in der Verfassung Position bezogen würde. Aber man wolle, so Dr. Eberle, auch mit dem Wahlgesetz den Anfängen wehren, Entgegen der ursprünglichen Fassung werde den Parteien die Annahme materieller und finanzieller Hilfe nicht verwehrt, was gegen die Stimmen der DBD und zwei weiterer Stimmenthaltungen von Fraktionen erfolgt sei. Der Vorschlag der Domowina über die Präsenz der Sorben in der künftigen Volkskammer werde derzeit von Experten geprüft.

Den Antrag der Kommission der Volkskammer zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der DDR begründete deren Vorsitzender, Prof. Dr. Manfred Mühlmann. Danach ist vorgesehen, den Artikel der Verfassung, in dem die verfassungsrechtliche Stellung der Nationalen Front festgeschrieben war, aufzuheben. Die Kommission sei ferner der Auffassung, dass das Ausländerwahlrecht einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Anerkennung bedürfe. Schließlich soll die Zahl der Volkskammerabgeordneten von 500 auf 400 verringert werden.

Stellungnahme des Runden Tisches

Erstmals wurde auf einer Tagung der Volkskammer Repräsentanten der am Runden Tisch vertretenen Opposition Rederecht eingeräumt. Dr. Wolfgang Ullmann, Demokratie Jetzt, der zu den Einberufern der zeitweiligen Arbeitsgruppe der Volkskammer gehört, verlas eine Stellungnahme des Runden Tisches, in der für ein Verhältniswahlrecht mit festen Listen plädiert wurde, Dr. Ullmann unterbreitete den Vorschlag, ein aus fünf neutralen Persönlichkeiten bestehendes Gremium zu bilden, das über den Ausschluss von Parteien und politischen Vereinigungen entscheidet, die Glaubens-, Rassen- und Völkerhass bekunden, militaristische und Kriegshetze betreiben, die zu Pogromen und Gewalt aufrufen. Das Gremium solle aus einem kirchenleitenden Vertreter, einem Vertreter von Wissenschaft beziehungsweise Kunst, einem Arbeiter und einem Bauern bestehen.

Tatjana Böhm, Unabhängiger Frauenverband, befasste sich näher mit Problemen des Ausländerwahlrechts.

Nach der Mittagspause gaben Sprecher der zehn Volkskammerfraktionen Stellungnahmen zum vorgezogenen Wahltermin sowie zur Erklärung von Ministerpräsident Modrow ab. "Im Prinzip ja, aber ..." - so könnte der kürzeste Nenner zu den Wortmeldungen lauten. Man war sich der Notwendigkeit eines möglichst frühen Wahltermins bewusst, hatte aber die damit zwangsläufig verbundenen Schwierigkeiten ebenso im Blick.

Erklärung der CDU-Fraktion

In der Fraktion der CDU, für die Dr. Hans Zillig sprach, herrsche Empörung darüber, dass man den Medien am Morgen hätte entnehmen können, "dass wichtige politische Entscheidungen nicht in der obersten Volksvertretung, sondern anderswo entschieden werden könnten". Es gebe eine Chance, durch extrem vorgezogene Wahlen und Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen. Daher unterstütze die CDU-Fraktion den neuen Termin. Das schließe aber "Bedenken und sachliche Fragen" nicht aus. Immerhin habe es eine Zusage an das Volk der DDR gegeben, über das Wahlgesetz zu diskutieren. Trotz sehr, sehr kurzem Termin müsse diese Zusage eingehalten werden, und es sei dafür zu sorgen, dass diese Diskussion fruchtbar wird. Wenn ein Auto auf den Abgrund zurolle, sei keine Gelegenheit mehr, über die Straßenverkehrsordnung nachzudenken, sagte Dr. Zillig im Hinblick darauf, dass manche Festlegungen durch den Zeitdruck umgangen werden müssten. "Bei den Wahlen entscheidet der Wähler", so der Redner, "aber bereits das Wahlgesetz entscheidet wesentlich über den Ausgang der Wahlen. Diese Verantwortung kann die Volkskammer nicht allein tragen." Daher solle auch der Runde Tisch Verantwortung für das Wahlgesetz tragen, wofür bald ein Modus zu finden sei.

Ihrer Enttäuschung gab Eva Rohmann, DFD-Fraktion, darüber Ausdruck, dass durch den Zeitdruck viele gute Vorsätze bereits nicht mehr zu verwirklichen seien, und für die NDPD-Fraktion, für die Günter Hartmann sprach, stand der neue Termin am deutlichsten nach wie vor zur Debatte. Dr. Manfred Brendel vertrat im Namen der LDPD-Fraktion den Standpunkt, nur Parteien sollten das Recht haben, Kandidaten zu nominieren, während Klaus Herzog, FDJ-Fraktion, dafür sprach, auch politische Organisationen zur Wahl zuzulassen.

Nach der Aussprache schlug Präsident Maleuda vor, den Entwurf des Wahlgesetzes umgehend zu veröffentlichen und darüber eine Volksaussprache bis zum 18. Februar zu führen. Die Vorschläge würden dann im zuständigen zeitweiligen Ausschuss zusammengefasst. Zur selben Zeit sollten auf der Grundlage des Entwurfs - wie von der CDU-Fraktion angeregt - bereits notwendige Vorbereitungen der Gesetzgebung durch die zuständigen Organe erfolgen.

Die 16. Tagung der Volkskammer am 5. Februar könnte sich mit einer Bildung der Regierung der nationalen Verantwortung befassen, den Beschluss über die Aufhebung der 9. Wahlperiode und über die Einberufung der Wahlen für die Volkskammer fassen, zugleich auch die 1. Lesung des Wahlgesetzes für die Kommunalwahlen am 6. Mai durchführen. Die 17. Tagung der Volkskammer am 20. und 21. Februar würde dann die 2. Lesung und Verabschiedung des Wahlgesetzes sowie der notwendigen Verfassungsänderung vornehmen.

Auf Antrag von Dr. Dietmar Czok, CDU-Fraktion, wurde bereits darüber abgestimmt, dass zur Volkskammerwahl das Verhältniswahlrecht zum Tragen kommt. Die Terminvorschläge von Präsident Maleuda wurden bestätigt.

Der Beschluss zur Medienarbeit

Den Beschluss zur Medienarbeit, der in Hinsicht auf den Wahlkampf bis zur Annahme eines entsprechenden Gesetzes gelten soll, erläuterte Justizminister Prof. Dr. Wünsche (LDPD). Der Beschlussentwurf wurde mit den Vertretern des Zentralen Runden Tisches und der Kirchen diskutiert. Rundfunk, Fernsehen und ADN sollen demnach als öffentliche Einrichtungen den Meinungspluralismus fördern, da die Zeitungen zu einem gewissen Teil sich Parteien verpflichtet fühlen.

Die Produktenwerbung in den elektronischen Medien soll noch in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Bis zu diesem Zeitpunkt will sie der Ministerrat jedoch aus ökonomischen Erwägungen gestatten.

Konrad Weiß (Demokratie jetzt) nahm für den Runden Tisch das Wort. Er bemängelte nachträgliche Änderungen am Beschlussentwurf durch Vertreter des Ministerrates. Der jetzigen Fassung nach soll der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst der Regierung unterstehen. Daneben seien andere Agenturen möglich. Der Runde Tisch wende sich gegen die vorläufige Produktenwerbung, da die Rahmenbedingungen dafür noch ausstünden und ein Medienkontrollrat auch noch nicht arbeite.

Sendungen nicht durch Werbung unterbrechen

Im Fernsehen dürften Filme und Sendungen mit künstlerischem Wert nicht durch Werbung unterbrochen werden. Konrad Weiß wandte sich auch gegen die Möglichkeit, für Tabak, Alkohol und Medikamente zu werben. Die Werbung für Produkte, die in einer anderen Währung bezahlt werden müssten, würde den sozialen Frieden stören.

In der Aussprache forderte die FDJ-Abgeordnete Susanne Jakob die Mitbestimmung der Jugend als größtem Medienkonsumenten ein.

Der Abgeordnete Dr. Dietmar Czok (CDU) meinte, dass das erste Auftreten eines Vertreters des Runden Tisches vor dem Parlament nicht zu einem Dissens führen dürfe.

Konrad Weiß wiederholte, dass die Rahmenbedingungen für die vorläufige Produktenwerbung noch zu formulieren seien. Prof. Wünsche hob hervor, dass der Beschlussentwurf ja die Bildung eines Medienkontrollrates vorsehe. Nach einer erneuten Diskussion des Medienbeschlusses zwischen Regierungsvertretern und dem Runden Tisch soll die Volkskammer am nächsten Montag erneut über ihn befinden.

Anschließend berichtete Generalstaatsanwalt Hans-Jürgen Joseph über den Stand der Ermittlungen und der Einführung von Gerichtsverfahren gegen Personen, die sich wegen Hochverrats, Staatsverbrechen, Korruption und Amtsmissbrauchs zu verantworten hätten. Der Generalstaatsanwalt sagte, dass sein Vorgänger auf Ermittlungen "von unten nach oben" orientierte. Dabei wurden diejenigen, die die Befehle erteilt hatten, zunächst nicht berücksichtigt. Generell hat die Sicherheitsdoktrin der alten Führung den Machterhalt einer kleinen Gruppe im Politbüro der SED gedient.

In den bisherigen Ermittlungen habe es Mängel gegeben. Die Staatsanwälte arbeiten mit Unterstützung von Kriminalisten unter großem psychischen und physischen Druck. Nicht alle Beschuldigten tragen auch infolge hohen Alters und Krankheit zu der Aufklärung bei, informierte der Generalstaatsanwalt.

Prozesse wegen Untreue und Vertrauensmissbrauch

Gegenwärtig wurden wegen Untreue und Vertrauensmissbrauchs auf zentraler Ebene 23 Ermittlungsverfahren und auf Kreis- und Bezirksebene 212 laufen. Gegen Erich Honecker, Erich Mielke, Günter Mittag und Joachim Herrmann werde wegen Hochverrats ermittelt. Bis zum 26. Januar wurden sieben Gerichtsverfahren eingeleitet. Im Februar wird in mindestens 69 weiteren Strafverfahren, darunter gegen den ehemaligen Gewerkschaftschef Harry Tisch, Anklage erhoben. Gegen einige ehemalige 1. Sekretäre von SED-Bezirksleitungen sind zur Zeit Anklagen in Vorbereitung.

Bei bisher 181 Ermittlungsverfahren zu den Übergriffen staatlicher Organe am 7. und 8. Oktober wird gegen 83 namentlich bekannte Personen vorgegangen. In der vergangenen Woche wurden sieben Ermittlungsverfahren gegen führende Offiziere der Staatssicherheit und der Volkspolizei eingeleitet. In 26 Verfahren, an denen 30 Personen beteiligt sind, sind die Unterlagen an die Gerichte weitergeleitet und Anklage erhoben worden.

Der Generalstaatsanwalt betonte die Verpflichtung nur gegenüber dem Volk und bekannte sich für ein rückhaltloses Vorgehen gegen die Beschuldigten. Gegen Stoph, Kleiber, Krolikowski, Keßler sowie gegen Junker, Martini und Kleinert würde im März vor dem Obersten Gericht Anklage erhoben. In Kürze sei die Anklage gegen den ehemaligen CDU-Vorsitzenden Gerald Götting zu erwarten.

Erneuert wurde das Angebot, dass Juristen aus allen politischen Bewegungen und Parteien an den Ermittlungen als Staatsanwälte mitarbeiten.

Zur Haftfähigkeit Erich Honeckers vertrat der Generalstaatsanwalt die Auffassung, dass dieser haftfähig sei und in ein Haftkrankenhaus überführt werden müsse. Wenn die Gefahr bestünde, dass die Untersuchungshaft lebensgefährlich sei, könne man keine Haft anordnen. Dies treffe auf Honecker nicht zu.

In der Aussprache zum Bericht des Generalstaatsanwalts betonte Dr. Dr. Heinrich Toeplitz, dass rückwirkend keine Gesetze zur Ahndung bestimmter Vergehen beschlossen werden könnten.

Dr. Toeplitz brachte seine Sorge zum Ausdruck, dass jetzt sehr komplizierte Gerichtsverfahren anstünden, bei denen die Besetzung der Gerichte von Bedeutung sei.

Bei Redaktionsschluss dauerte die Berichterstattung noch an.

Neue Zeit, Di. 30.01.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 25

Bis zum 18. Februar soll eine Volksaussprache zum neuen Wahlgesetz stattfinden. Das beschloss gestern die Volkskammer auf ihrer 15. Tagung In Berlin.

Begonnen hatte die Tagung mit einer Stunde Verspätung. Erst einmal berieten die Abgeordneten in den Fraktionen über den Brocken, den der Runde Tisch ihnen als Ergebnis der Beratungen mit Premier Modrow vorgesetzt hatte: Vorgezogene Wahlen schon in sieben Wochen und Einsetzung einer Regierung der nationalen Verantwortung bis dahin. Die Parlamentarier kauten schwer an diesem Brocken, was auch darin zum Ausdruck kam, dass man den förmlichen Beschluss über den Wahltermin noch nicht zu fassen bereit war. Das soll nun erst auf der nächsten Tagung am kommenden Montag passieren.

"Mit Zorn und Empörung", so der CDU-Vertreter Dr. Hans Zillich, habe er den Nachrichten entnommen, welche wichtigen Entscheidungen hinter dem Rücken der obersten Volksvertretung getroffen worden seien. Das meinten wohl noch manche andere. Den Wahltermin wirklich in Frage zu stellen vermöchte keiner. Wohl auch, weil Premier Hans Modrow den Ernst der Lage in einer eindrucksvollen, von hoher Verantwortung gekennzeichneten Rede darlegte. Die ökonomischen und sozialen Spannungen hätten zugenommen und berührten bereits das tägliche Leben vieler Menschen, sagte er. Forderungen nach mehr Lohn, mehr Urlaub, mehr Rente nähmen zu. Bisher lägen schon Forderungen im Umfang von rund 40 Milliarden Mark auf dem Tisch. Das macht etwa ein Drittel des jährlichen Einzelhandelsumsatzes aus. Eine Größenordnung, die die Wirtschaft dieses Landes auf keinen Fall verkraften wurde, zumal Streiks und andere Störungen bereits die ökonomische Lage mehr und mehr verschlechterten. Hinzu komme, dass sich auf vielen Ebenen die örtlichen Volksvertretungen aufzulösen begännen oder bereits nicht mehr beschlussfähig seien.

Im Bewusstsein dieser sich zuspitzenden Lage habe man am Sonntagabend einen Konsens gefunden, sagte Modrow, die Wahlen zur Volkskammer am 18. März durchzuführen und am 6. Mai die Vertretungen aller Städte und Gemeinden neu zu wählen.

Zu einer förmlichen Bestätigung der Wahltermine vermochten sich die Volksvertreter allerdings doch (noch) nicht durchzuringen. Was in vielen Parlamenten der unteren Ebene schon seit Wochen gang und gäbe ist, hatte gestern auch in der Volkskammer Premiere: Die Opposition kam zu Wort. Der erste dabei war Prof. Wolfgang Ullmann, der die Auffassungen des Runden Tisches zum Wahlgesetzentwurf darlegte.

Abgeordnete mehrerer Fraktionen sprachen sich dafür aus, nur Parteien zur Wahl zuzulassen. Das Parlament solle bis zum letzten Tag im Amt bleiben.

Auch diese Volkskammertagung konnte auf den schon zum ständigen Programm gehörenden Punkt "Mandatsveränderungen" nicht verzichten. Gleich 17 bisherige Parlamentarier räumten diesmal ihre Plätze für Nachfolgekandidaten.

Sodann wurde ein Antrag auf Änderung des Gesetzes über die Staatsbürgerschaft angenommen. Darin ist festgehalten, dass nur die Eltern gemeinsam den Verzicht auf die Staatsbürgerschaft für ihre minderjährigen Kinder erklären können. Die Ausarbeitung eines Mediengesetzes erfordert noch Zeit, deshalb legte die Regierung für die Übergangszeit einen Beschlussentwurf für die Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit vor. Rundfunk und Fernsehen sollen danach in öffentlich-rechtliche Anstalten überführt werden. Bei der Nachrichtenagentur ADN, so wurde offenbar, besteht dabei noch ein Dissens. Vor einer endgültigen Regelung sollten jedoch noch die betreffenden Mitarbeiter gehört werden. Der Vertreter des Runden Tisches, Konrad Weiß, sprach sich in der Debatte gegen die Produktenwerbung in den elektronischen Medien aus, weil hierfür die Rahmenbedingungen noch nicht ausreichend abgesteckt seien. Offen seien unter anderem Länge, Inhalt und Platzierung solcher Werbespots. Die Konzeption hierfür solle dem ebenfalls zu schaffenden Medienkontrollrat überlassen bleiben, schlug Justizminister Wünsche als Kompromiss vor.

Sorge bereitet die immer mehr abnehmende Arbeitsfähigkeit der Staatsorgane auf der kommunalen Ebene, sagte der stellvertretende Premier Dr. Peter Moreth und schlug vor, bis zu den anstehenden Wahlen am 6. Mai Vertreter von Parteien, gesellschaftlichen Vereinigungen und sonstigen Gruppierungen der Runden Tische mit allen Rechten und Pflichten als Abgeordnete einzusetzen.

Eine wenig rosige Einschätzung der Wirtschaftslage gab Prof. Dr. Karl Grünheid, Vorsitzender des neuen Wirtschaftskomitees des Ministerrates. Mangelnde Konkurrenzfähigkeit auf den internationalen Märkten, ein sich verlangsamendes Wirtschaftstempo und erhebliche Belastung der Umwelt waren die Eckpunkte seiner Darlegungen. Die Verschuldung nach innen wie nach außen sei gewachsen. Eine verfehlte Wirtschaftspolitik hat das Land in die Krise geraten lassen. Und so schloss sich nahtlos der Kreis zur Schilderung von Hans Modrow zu Beginn der Tagung: Schnell müssen Entscheidungen gefasst werden, die dieses Land wieder uneingeschränkt regierbar machen und das Vertrauen seiner Bürger in die gewählten Vertreter wieder herstellen. Die vorgezogene Wahl gehört dazu.

Berliner Zeitung, Di. 30.01.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 25

Schon der Beginn der 15. Volkskammertagung war dem Ernst der Lage angemessen. Ministerpräsident Hans Modrow sprach über die Situation im Lande und über den Vorschlag, die Volkskammerwahlen bereits am 18. März stattfinden zu lassen und für die Zeit bis dahin eine Regierung der nationalen Verantwortung zu bilden.

Nach den Ausführungen des Regierungschefs stimmten die Abgeordneten dem Vorschlag des Präsidiums, Vertretern des Runden Tisches zu drei Tagesordnungspunkten das Wort zu geben, zu. Entgegengenommen wurde eine Information über den Rücktritt von Dr. Friedrich Kind, Eberhard Aurich und Paul Strauß als Mitglieder des Staatsrates. Auf Antrag des Regierungschefs wurde Uta Nickel als Minister für Finanzen und Preise abberufen. Mit der Wahrnehmung der Geschäfte wurde Staatssekretär Dr. Walter Siegert beauftragt Zugestimmt wurde auch einer Reihe Mandatsveränderungen.

Den Entwurf des Gesetzes über die Wahlen zur Volkskammer, das in 1. Lesung anstand, erläuterte Abgeordneter Dr. Paul Eberle (LDPD). Er machte darauf aufmerksam, dass das Gesetz über die Kommunalwahlen ebenfalls rasch in der Volkskammer behandelt werden muss. Den Standpunkt des Runden Tisches und seiner Arbeitsgruppe Neues Wahlgesetz legte Dr. Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt) dar. Zu dem für das Wahlgesetz erforderlichen Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung sprach der Vorsitzende der Verfassungskommission der Volkskammer, Prof. Dr. Manfred Mühlmann (NDPD). Die Auffassung des Runden Tisches und einer Arbeitsgruppe Neue Verfassung vertrat Tatjana Böhm (Unabhängiger Frauenverband).

Die anschließende Debatte zeugte von dem Willen der Fraktionen, zur Stabilisierung der komplizierten Lage m der DDR beizutragen. Abgeordnete Helge Hager unterstütze für die Fraktion der SED/PDS das Vorziehen des Wahltermins und die Bildung einer Regierung der nationalen Verantwortung unter Einbeziehung der Kräfte, die die demokratische Revolution in Bewegung brachten. Ober den genauen Wahltermin herrschte unterschiedliche Auffassung.

Danach wurde das vom Innenminister Lothar Ahrendt begründete Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Staatsbürgerschaft angenommen. Zu einem Volkskammerbeschluss über die Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit, der bis zum Erlass eines Mediengesetzes gültig sein soll, sprachen u. a. Justizminister Prof. Dr. Kurt Wünsche (LDPD). Abgeordneter Prof. Dr. Eberhard Poppe (Kulturbund) für den Verfassungs- und Rechtsausschuss und Konrad Weiß (Demokratie Jetzt) für den Runden Tisch.

Generalstaatsanwalt Dr. Hans-Jürgen Joseph berichtete über den Ermittlungsstand in den Verfahren wegen Korruption und Amtsmissbrauchs und über Abschluss und Ergebnisse der Überprüfung der Übergriffe der Sicherheitsorgane anlässlich der Demonstration im Zusammenhang mit dem 40. Jahrestag der DDR. Im Februar werden die ersten Anklagen erhoben.

Die Regierungsfähigkeit des Landes setzt die Handlungsfähigkeit der Staatsorgane in Städten und Gemeinden voraus, erklärte Dr. Peter Moreth (LDPD), stellvertretender Ministerpräsident für örtliche Staatsorgane, und begründete dazu einen Beschluss.

Zum Schluss der Tagung gab Minister Prof. Karl Grünheid (SED/PDS), Vorsitzender des Wirtschaftskomitees einen Bericht des Ministerrates über die Lage der Wirtschaft und legte Schlussfolgerungen zur Stabilisierung dar. Dazu gab es zahlreiche Anfragen.

Neues Deutschland, Di. 30.01.1990, Jahrgang 45, Ausgabe 25

Das Gesetz zur Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes wird einstimmig angenommen.

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