12.10.1989

ERKLÄRUNG

Massenhafte Protest der Bevölkerung angesichts der politischen und wirtschaftlichen Misere unseres Landes und zunehmende Unmutsbekundungen verschiedenster Art bis hinein in die Reiben der SED haben nun auch die SED-Parteiführung zum Reagieren genötigt. Die auf einer Krisensitzung des Politbüros unter Hinzuziehung weiterer ZK-Mitglieder verabschiedete Erklärung vom 11. Oktober bedauert erstmals die Massenabwanderung vor allem junger Bürger der DDR und bietet endlich den bisher verweigerten Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften an.

Dies ist sehr zu begrüßen.

Die gleichzeitige Einschränkung der Dialogbereitschaft mit dem Hinweis, nicht mit Randalieren und antisozialistische Kräften sprechen zu wollen, orientiert sich an den bekannten Vorverurteilungen und deutet nicht darauf hin, dass die wirklichen Probleme erkannt worden sind. Offensichtlich ist die Parteiführung weder bereit, noch. in der Lage, der sich entwickelnden Vielfalt sozialistischer Tendenzen, Strömungen und Kräfte (auch innerhalb der SED) Rechnung zu tragen und behält sich offenbar vor, sie nach dem bekannten Muster als konterrevolutionär zu diffamieren. Dennoch meinen wir, dass nun gebotene Möglichkeiten des Dialogs genutzt werden müssen.

Jetzt ist es am wichtigsten, dass die Impulse für eine Erneuerung unserer Gesellschaft von den Betrieben ausgehen. Auf der Tagesordnung steht die Bildung unabhängiger Kommissionen der Werktätigen, die innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften alle Möglichkeiten zur selbständigen Vertretung ihrer eigenen Angelegenheiten nutzen. Wir meinen, dass der nächste Schritt die Schaffung von Betriebsräten sein sollte. Von ihnen können dann auch entscheidende Initiativen für eine demokratische Erneuerung von unten ausgehen.

Die neue Situation erfordert auch allen unabhängigen Gruppen und Initiativen, die für eine Demokratisierung eintreten, ihre Verantwortung zu wahren und mit konkreten Vorschlägen für eine freiheitliche und demokratische Gestaltung des Sozialismus in die Diskussion einzutreten. Durch die Erarbeitung hierzu notwendiger konkreter Vorschläge müssen die sich hier entwickelnden Gemeinsamkeiten auch gemeinsam vertreten werden.

Unserer Ansicht nach sind folgende Maßnahmen zu verwirklichen:

SOFORTMAßNAHMEN ZUR VORBEREITUNG DES LANDES FÜR EINEN WEG DER SOZIALISTISCHEN DEMOKRATIE UND FREIHEIT

1. Rücktritt des Politbüros der SED und der Regierung wegen der Hauptverantwortung für den katastrophalen Massenexodus der Jugend und wegen des völligen Verlustes von Vertrauen im Volk.

2. Bildung einer neuen politischer Führung und einer zeitlich befristeten Übergangsregierung aus reformwilligen Kräften, zur Verwirklichung folgender Maßnahmen:

a) sofortige Demokratisierung der Presse und Einstellung der Pressezensur

b) Legalisierung, des "Neuen Forum" und aller anderen für sozialistische Demokratie und Freiheit eintretenden Gruppen sowie Aufnahme eines gleichberechtigten Dialogs über alle zu lösenden gesellschaftlichen Probleme.

c) Gewährung der freien und öffentlichen Diskussion in allen gesellschaftlichen Organisationen und Parteien

d) Veröffentlichung aller Daten und Informationen über den tatsächlichen Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft. Dies betrifft insbesondere

- den Zustand der Staatsfinanzen

- den wirklichen Zustand und die Ergebnisse der Volkswirtschaft, darunter

  • der Außenwirtschaft (insbesondere Handels- und Zahlungsbilanz)
  • der Aufwendungen für Verteidigung und innere Sicherheit
  • der Kosten und Kostenstruktur des Staats- und Parteiapparates

- die Sozialstruktur einschließlich der Beschäftigten im Staats-, Partei- und Wirtschaftsapparat (darunter auch im Sicherheitsapparat)

- die Einkommensverteilung der Bevölkerung (einschließlich der Einkommen der Nomenklaturkader und ihrer sonstigen Einkünfte, Zuwendungen und Privilegien sowie personengebundener Nutzungsrechte)

- die Umweltdaten

- den Zustand des Gesundheitswesen und der medizinischen Versorgung das Gesundheitsniveau der Bevölkerung und ihre Lebenserwartung nach Regionen sowie im internationalen Vergleich

- den Umfang des gegenwärtigen Ausreisewunsches der Bevölkerung (Veröffentlichung der Zahl der Antragsteller und der Ausreisenden sowie ihrer sozialen und beruflichen Zusammensetzung nach Territorien)

e) Beginn einer öffentlichen Diskussion über Ziele und Mittel einer radikalen Demokratisierung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens unserer Gesellschaft

f) Erteilung von Reisegenehmigungen an jeden Bürger für alle Länder für 30 Tage (lediglich mit den international üblichen Einschränkungen aus Gründen der nationalen Sicherheit) unter Bereitstellung von Devisen im Wert 500.- DM pro Person und Jahr

g) Rückkehrangebot an alle ausgereisten und ausgebürgerten ehemaligen DDR-Bürger

h) Einberufung eines regierungsunabhängigen Kongresses demokratisch und geheim gewählter Delegierter der Betriebsbelegschaften innerhalb von 3 Monaten zwecks

- Beratung der wirtschaftlichen und politischen Situation in der DDR

- Erarbeitung von Maßnahmen zur Durchführung einer radikalen Demokratisierung aller Lebensbereiche der Gesellschaft einschließlich der Gewerkschaften

- Erarbeitung von Maßnahmen zur Sicherung des Lebensstandards und der sozialen Errungenschaften des Volkes

- Wahl von unabhängigen Reformern als demokratisch legitimierte und dem Kongress verantwortliche Volksvertreter in einer breiten Reformregierung

3. Bildung einer breiten Koalition der Vernunft und des Realismus zur Verwirklichung einer radikalen Verfassungs- und Gesellschaftsreform im Geiste sozialistischer Demokratie und Freiheit.

Ausdruck einer solchen Koalition der Vernunft muss du Bildung einer konsequenten Reformregierung auf dem Boden des Antistalinismus und Antikapitalismus sein. Diese Regierung sollte sich aus durch ihre Taten legitimierte Vertreter des Reformflügels von Partei- und Staatsapparates einerseits sowie aus demokratisch gewählten Vertretern des Kongresses der Belegschaftsdelegierten andererseits zusammensetzen.

SOFORTMAßNAHMEN EINER KONSEQUENTEN REFORMREGIERUNG

Die selbstverständliche Voraussetzung einer Regierungspolitik der sozialistischen Freiheit und Demokratie in der DDR ist die außenpolitische Bündnis- und Vertragstreue. Vor allem das Bündnis zwischen einer demokratisierte Sowjetunion eines demokratisierten Polen und einer demokratisierten DDR und insbesondere die Anerkennung der Grenzen ist von existentieller Bedeutung für jedes dieser Länder.

Der Regierungsauftrag einer solchen Reformregierung muss folgende Inhalte voranbringen:

1. Umfassende Vorbereitung und Durchführung einer radikalen Verfassungs- und Gesellschaftsreform im Geiste des freiheitlichen und demokratischen Sozialismus auf der Basis

- des gesellschaftlichen Eigentums [ein Wort unleserlich] den Produktionsmitteln als vorherrschend und perspektivische Grundlage sozialistischer Vergesellschaftung

- des Ausbaus der Selbstbestimmung der Produzenten in Verwirklichung realer Vergesellschaftung der gesamten ökonomischen Tätigkeit

- der konsequenten Verwirklichung des Prinzips der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Gesellschaftsmitglieder

- des ökologischer Umbaus der Industriegesellschaft

- der politischen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, konsequenten Verwirklichung der ungeteilten Menschenrechte und freien Entfaltung der Individualität jedes Gesellschaftsmitgliedes

2. Durchführung einer konsequenten Wirtschaftsreform unter Durchsetzung der betrieblichen Selbstverwaltung der Werktätigen als Hauptform einer Weiterentwicklung staatlichen Eigentums

3. Ausarbeitung eines Programms der wirtschaftlichen, technischen und ökologischen Modernisierung unter Wahrung der sozialen Gerechtigkeit und unter Ausschluss von Arbeitslosigkeit

4. Durchführung von Wirtschaftsreform und Modernisierung als komplexes Programm unter Wahrung sozialer Sicherheit, Gerechtigkeit und unter Ausschluss von Arbeitslosigkeit

5. Initiativen der DDR zur Ausarbeitung und Umsetzung eines Programms der Reformierung des RGW sowie der Organisation des Warschauer Vertrages entsprechend den Grundsätzen eines demokratischen und freiheitlichen Sozialismus

6. Aufnahme von Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland über die langfristige Ausgestaltung des Grundlagenvertrages entsprechend dem Grundsatz "Zwei Staaten - eine Nation" mit den Zielen

a) gegenseitige staatliche Anerkennung

b) Entwicklung der Beziehungen unter Berücksichtigung des besonderen Charakters der Existenz zweier souveräner Staaten gegensätzlichen sozialökonomischen Charakters dem Boden einer Nation und Ausbau aller Aspekte des gemeinsamen nationalen Zusammenhangs

c) Ausarbeitung eines verbindliche Rahmens zur Wahrnehmung gesamtdeutscher Verantwortung - insbesondere für den Frieden - unter Wahrung der Souveränität beider deutschen Staaten.

7. Abgabe einer Existenzgarantie für die freie und unabhängige Entwicklung von Berlin (West) auf der Grundlage des Vier-Mächte-Abkommens und Abschluss einer vertraglichen Regelung zwischen der DDR, der BRD und Westberlin zur Ausschaltung von Statusproblemen.

8. Ausarbeitung eines Programms zur Entwicklung beider Teile Berlins zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bindeglied zwischen Ost und West

9. Untersuchung stalinistischer Verbrechen in der DDR und ihre konsequente Aufarbeitung sowie Rehabilitierung und Entschädigung aller Opfer

10. Verurteilung des völkerrechts- und verfassungswidrigen Einmarsches von Truppen der NVA der DDR in die ČSSR im August 1968 und Entschuldigung bei den Völkern der ČSSR

Teilnehmer des Böhlener Treffens

aus: gesammelte Flugschriften DDR `89, Heft 1, November 1989, Redaktion und inhaltliche Gestaltung herausgeberkollektif (Ostberlin), Technische Gestaltung, Produktion und Vertrieb: ASTA TU Berlin

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