Pflicht, Last und Chance der Aufarbeitung

Informationen sind Macht - Marianne Birthler vom Bündnis 90/Grüne zur Kontrolle der Stasi-Akten

Der Umgang mit den Stasi-Akten wurde neben dem Paragraph 218 zum neuralgischen Punkt der Verhandlungen zum Einigungsvertrag. Die politische und historische Aufarbeitung des in den Akten festgehaltenen Stückes bedrückender DDR-Geschichte ist eine der Voraussetzungen für die Gestaltung der Demokratie im vereinigten Deutschland.

Um sie dort leisten zu können, wo die Staatssicherheit demokratische und Menschenrechte ausgehöhlt und zur Farce gemacht hatte, war in der Volkskammer nahezu einstimmig das Gesetz zur Sicherung und Nutzung personenbezogener Daten in den Stasi-Akten angenommen worden. In den Verhandlungen war es zunächst durch den Rost bundesdeutscher Interessen gefallen. Die Volkskammer bekräftigte daraufhin die Notwendigkeit dieses Gesetzes, das die Verantwortung für den Umgang mit den Stasi-Akten bei den DDR-Ländern ansiedelt.

JW dokumentiert die Rede von Marianne Birthler (Bündnis 90/Grüne) vor der Volkskammer zur Begründung des von ihrer Fraktion initiierten Antrags aller Fraktionen.


Im Zusammenhang mit der Frage nach den Stasiakten fiel mir etwas ein, was mir vor Jahren ein Mann erzählt hat, der in früheren Zeiten Probst der Evangelischen Kirche in der DDR war. Er saß in einem Stasi-Verhör und sein Vernehmer blättert, in Akten, in sehr alten Akten aus der Zeit vor dem Krieg und, sagte zu ihm: "So, so, Sie waren also schon immer gegen den Staat". Das fiel mir ein, als ich mir vorstellte, dass Oppositionelle der DDR, die ja möglicherweise wieder Oppositionelle sein könnten, etwas Vergleichbares im künftigen Deutschland erleben könnten. Informationen sind Macht, und es ist deshalb sehr wichtig, darüber nachzudenken, wie man diese Macht kontrollieren kann. wie man sie begrenzen kann und wer sie ausüben darf.

Wir wissen alle um die Gefährlichkeit dieser Akten. Sechs Millionen Bürger der DDR können unter Umständen mit diesen Akten erpressbar sein. All dies ist natürlich in keinem Fall, bei keiner Regelung hundertprozentig auszuschließen. Darüber sind wir uns im klaren, aber es ist wichtig, dass die Kontrolle von denen ausgeht. die am meisten betroffen sind. Wir in der Fraktion Bündnis 90/Grüne, und ich denke, dass das sehr vielen Bürgern in diesem Lande so geht, empfinden die Vereinbarung im Staatsvertrag, so wie sie uns bis jetzt vorliegt, auch als demütigend. Hier auf dem Gebiet der DDR leben die Opfer und leben die Täter. Hier liegt die Pflicht zur Aufarbeitung, hier liegt die Last der Aufarbeitung, aber auch die Chance der Aufarbeitung. Fast ist es so, als würde ein Mensch; unmittelbar nach seiner Eheschließung von seinem Partner aufgefordert werden, sämtliche persönlichen Tagebücher und Briefe einschließlich der Kaderakte bei seinem Partner abzuliefern.

Wenn es so sein sollte, wie Innenminister Diestel sagt, dass die DDR-Verhandlungsführung den Standpunkt der Volkskammer bei der Verhandlung entschlossen vertreten hat - was hat die Bundesregierung veranlasst, den Beschluss der Volkskammer zu missachten? Hier ging es nun mal nicht um Geld. Wir meinen, von besonderer Bedeutung ist, dass alle Karteien und Unterlagen auf dem Gebiet der dann ehemaligen DDR verbleiben. In dem Gesetz, das wir hier mehrheitlich beschlossen haben, ist das im § 3 geregelt. Die Verantwortung und die Rechtsaufsicht hat zu liegen bei den Regierungen von Thüringen, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und mit Einschränkungen Berlin. Der Sonderbeauftragte und seine Mitarbeiter müssen Bürger der DDR gewesen sein. Vor allem müssen sie das Vertrauen der DDR-Bürger genießen und in einer ganz besonderen Weise das Vertrauen der Opfer. Für den Zeitraum bis zur Handlungsfähigkeit der Landesregierungen auf unserem Gebiet sollte die Volkskammer eine Entscheidung darüber treffen, wer bis zur Handlungsfähigkeit dieser Regierungen dieses Amt ausübt, und ich könnte mir vorstellen, dass ein Vorschlag so aussehen könnte, dass Personen aus dem Sonderausschusses der Volkskammer dazu berufen werden.

Wir wissen alle, dass der Einigungsvertrag in jedem Fall ein Kompromiss ist, der einigen mehr wehtut, anderen weniger wehtut. Ich meine aber, ein Kompromiss hat auch eine Elastizitätsgrenze, und damit, dass dieses Gesetz über das wir alle sehr froh waren, in keiner Weise Berücksichtigung gefunden hat, ist diese Grenze, meine ich, für viele in diesem Haus überschritten.

Junge Welt, Nr. 205, Montag, 3. September 1990

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