Offener Brief aus Köpenick des Kreisvorstandes und der Vorsitzenden der Ortsgruppen (16. Oktober)
In unserem Land ist eine Situation herangereift, die es uns christlichen Demokraten in Berlin-Köpenick verbietet, länger kommentarlos Berichte zu verfolgen, die Kultur- und Geistesschaffenden, aufrechten Kommunisten und Christen aller Konfessionen schon längst die Sprachlosigkeit genommen haben. In Europa geht eine Epoche zu Ende. Es ist dies aber nicht die Epoche des Sozialismus, es ist die Epoche des kalten Krieges, es ist die Epoche der gegenseitigen Verteufelung, des Kampfes ohne Siege, aber der Verlierer, des Misstrauens und des Macht- und Waffengerangels. Unter Führung der SED konnte unser Staat unter den schwierigen politischen Bedingungen der 40er, 50er und 60er Jahre reifen. Ehrlich konnten wir Christdemokraten die Politik der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die zu Beginn der 70er Jahre begann, mittragen. Unsere volle Unterstützung fand die Politik des Ausgleichs zwischen den Supermächten Anfang der 80er Jahre, die Friedens- und Dialogpolitik nach außen.
Nach den Wandlungen in der politischen Landschaft, dem Aufbruch der Völker im sozialistischen Verband hin zu demokratischen Formen der Gesellschaft, zu Pluralismus und nationaler Identität können wir heute feststellen, dass unsere Politik des Bündnisses in den vergangenen 40 Jahren ihrem Auftrag unter den in den jeweiligen Jahrzehnten herrschenden Bedingungen gerecht geworden ist und ihre historische Funktion erfüllt hat. Wir Christdemokraten werden keinem die Hand reichen, der an unseren Erfolgen deuteln, der die Ergebnisse der Geschichte rückgängig machen, der das Haus des Sozialismus demontieren will.
Gerade darum, aus Sorge um unser Land, um unsere Gesellschaftsordnung, um unser gemeinsam Geschaffenes können wir nicht länger denen gegenüber in unseren Reihen schweigen, die den Geschehnissen dieser Tage immer noch nicht den Wert beimessen, der ihnen gebührt.
Wir bekennen:
WIR sind zutiefst besorgt über die derzeitige Situation. Einige Unbelehrbare wollen, wie so oft in der Geschichte, die Zeiger der Uhr festhalten, die gegenwärtigen Prozesse offensichtlich bewusst nicht erkennen und richtig analysieren, unserer Jugend, die in erschütternden Zahlen das Land verließ, "keine Träne nachweinen", unsere Jugend mit wenigen Randalierern als "kopflose Chaoten" diskriminieren und kriminalisieren. Sie empfinden die Massenflucht aus unserem Lande zynisch als "Schulterschluss" der Hiergebliebenen und glauben, mit dem Ruf "Haltet den Dieb" ihre eigenen Fehler und Versäumnisse hinter die Grenzen delegieren zu können.
WIR weinen bittere Tränen um jeden einzelnen, der in diesem Land keine Zukunft mehr erkennen konnte.
WIR sind stolz auf unsere Jugend, die mutig und zukunftsorientiert mit dem Ruf: "Wir bleiben hier" auf die Straße geht und damit Gesprächsbereitschaft und Willen zur Verantwortung beweist.
WIR sind stolz auf unsere Jugend, die uns die Sprache wiedergegeben hat und deren Ruf nach Demokratie im Sozialismus unüberhörbar ist.
WIR schämen uns für die erschreckenden Bilder, die um die Welt gingen und den inneren Zustand dieses Landes nach 40 Jahren dokumentieren.
WIR fordern die Mitglieder unseres Hauptvorstandes auf, nicht mehr einzeln, sondern geschlossen Farbe zu bekennen, Haltung zu zeigen, den Stürmen der Zeit gewachsen zu sein und vor allem sich zu Meinung und Haltung ihrer Mitglieder, deren Vertreter sie sind, zu bekennen.
WIR erwarten Offenheit in unserer Parteipresse, Veröffentlichung von Dokumenten, die ohnehin ihre Adressaten erreichen, Diskussion ihres Gehaltes, Achtung und Wahrung der Pluralität der Meinungen innerhalb der Partei.
WIR fordern die Entwicklung einer Basisdemokratie, um durch Lebendigkeit und Meinungsvielfalt unsere Gesellschaft zu bereichern.
WIR stehen bereit für die Entfaltung des Sozialismus, in dem Widerspruch nicht mehr als Widerstand verteufelt wird, in dem die Bildung von Mehrheiten und die Tolerierung von Minderheiten zu den staatserhaltenden demokratischen Spielregeln gehören und nicht nur in der Verfassung verankert, sondern von allen, die politische Verantwortung tragen, praktiziert werden.
WIR Christdemokraten wollen alle Vorzüge und Triebkräfte dieses Sozialismus entfalten, seine Attraktivität entwickeln und damit erstmals eine wirkliche Alternative zur bürgerlichen Demokratie anbieten.
WIR stehen mit unserer ganzen Kraft, mit unseren Ideen und unserem Handeln bereit. Nicht mehr bereit sind wir jedoch zu leeren Lippenbekenntnissen, zu vorgegebenen Diskussionsbeiträgen, zu Lobhudeleien, selbstbefriedigendem Eigenlob und alternativlosen Abstimmungsverfahren.
WIR stehen heute vor der Frage: Wird das Jahr 2000 eine blühende, sozialistische DDR sehen mit Bürgern, die sich frei für dieses Land entschieden haben - oder werden die Geschichtsbücher jener Zeit von einem interessanten historischen Experiment sprechen? Lassen Sie uns das erstere anstreben.
Neue Zeit, Fr. 24.10.1989, Jahrgang 45, Ausgabe 250, Zentralorgan der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands