. . . wir sind aber keine Kirchenpartei

Dr. Martin Kirchner, studierter Volkswirtschaftler und Jurist, gebürtig in Thüringen, ein dynamischer junger Mann, wie es in seiner Umgebung heißt, ist der zweite Mann in der DDR-CDU. JW sprach mit ihm.

Wie kam's, dass jemand, der elf Jahre lang in Gera ein Kreiskirchenamt leitete, diesen Posten übernahm?

Die Partei bewegte sich schon geraume Zeit an der Basis. Wir haben dann im Herbst begonnen, die alte Leitung abzuräumen, lange bevor es andere neue Parteien in der DDR gab. Als der Sonderparteitag in Berlin tagte, habe ich mich nicht verschlossen, obwohl es nie meine Absicht war, Generalsekretär zu werden. Wer A sagt, muss aber auch B sagen.

Die CDU ist nach meinem Empfinden jene von den etablierten Parteien, die sich ihrer Vergangenheit am raschesten entledigte. Fast nötigt es schon wieder Bewunderung ab, wie selbstbewusst man glaubt, 40 Jahre Mitverantwortung am Dilemma DDR vergessen machen tu können. Glauben Sie, der Wähler honoriert das?

Das stimmt nicht, was Sie sagen. Wir sind die Partei, die es sich mit ihrer Vergangenheit nicht leicht macht. Wir meinen es ernst, wenn wir sagen, wir brauchen einen Prozess der Buße. Wir stehen zur Schuld der Partei. Für Christen aber gilt: Wenn ich ein Schuldbekenntnis ablege und zur Umkehr bereit bin, dann gibt es auch Versöhnung und Vergebung. Man kann aber nicht nur Vergangenheit reflektieren, man muss auch nach vorn schauen.

Dieser Prozess der Buße ist erfolgt?

Ja. Durch programmatische radikale Veränderung - das heißt durch die Rückkehr zu den Anfängen, zu den Wurzeln der CDU von 1945 bis 1952. Das waren keine Jahre der Anpassung, sondern der harten Auseinandersetzungen. Wir haben uns nicht unterbuttern lassen wie die SPD. Die CDU hat bis 1952/53 jährlich Dutzende von Verhaftungen gehabt.

Dieses "Privileg" teilten Sie nach meiner Kenntnis aber mit anderen Parteien - auch Kommunisten aus der SED kamen hinter Gitter. Aber gut. Mich beschäftigt in diesem Zusammenhang etwas anderes: Ich glaube, dass Politik gar nicht christlich sein kann. Nach meinem Eindruck verstößt schon im Wahlkampf fast jeder CDU-Redner gegen das Gebot "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten", denn Wahlaussagen sind immer Rechnungen ohne den Wirt.

Ja, ja, da laufen Sie offene Türen ein, das ist eine der ältesten Fragen, die der CDU seit ihrer Gründung immer wieder gestellt wird.

Wenn den, so ist, lässt das darauf schließen, dass die Antworten nie sehr überzeugend waren?

Es gibt keine Partei, die christliche Politik machen kann. Das ist die alte Illusion, ein Paradies auf Erden bauen zu können, was der alten christlichen Vorsehung entspreche. Die CDU ist eine Partei von Christen, und ich hoffe auch für Christen, nicht für Kirchen. Aber es steht uns nicht zu, jeden einer Gewissensprüfung zu unterziehen, um festzustellen, ob er Christ ist. Das muss jeder für sich und mit seinem Herrgott ausmachen. Aber wir wollen natürlich das, was aus moralisch-ethischen Grundsätzen des Glaubens kommt, in unsere Politik einfließen lassen.

Keine Kirchenpartei. Was dann?

Wir legen darauf größten Wert, eine Volkspartei zu werden, alldieweil die SED uns bisher daran hinderte, Volkspartei zu sein. Zum Beispiel durften wir Arbeiter nur mit Genehmigung der jeweiligen Kreisleitung aufnehmen. Wir wollen alle sozialen Gruppen und Schichten erfassen und wählbar sein für alle.

Wie viele Mitglieder hat die CDU jetzt?

135 000. Von Oktober bis Dezember hatten wir ganz starke Abgänge, die sich am linken Rand abspielten. Außerdem Verzüge in die Bundesrepublik. Im Januar aber hatten wir in manchem Kreisverband soviel Zugang wie in einem ganzen Jahr.

Der hiesige Wahlkampf ist offenkundig Teil des bundesdeutschen Wahlkampfes, gegenwärtig und fast mehr Westpolitiker hier auf Achse denn Ostprominenz. Es gibt DDR-Bürger, die halten das für Einmischung. Sie auch?

Nein. Wenn wir Wahlhilfe bekommen, ist das doch ganz normal. Es handelt sich schließlich um eine Partei und um ein Land.

Ich sehe das ein wenig anders.

Das erwarte ich von der Jungen Welt.

Das hat nichts mit der Zeitung zu tun, sondern mit der Tatsache, dass sehr viele Menschen - ich übrigens auch - sich mit dieser Region, mit ihrer Heimat verbunden fühlen. Das ist nicht primär eine Frage von Kapitalismus oder Sozialismus, sondern gelebte Erfahrung und Geschichte. Und wenn man sich den verständlichen Wunsch erfüllen und nach Paris oder Kopenhagen reisen möchte, muss man sich nicht gleich mit Frankreich oder Dänemark vereinigen.

So gab es die These vom sozialistischen Staatsvolk. Und als der Sozialismus weg war, war diese Identität weg. Es existiert nur eine deutsche Nation.

Glauben Sie nicht, dass die nationale Frage für viele nur eine materielle ist?

Ja, sicher.

Aber hatten Sie es nicht für unmoralisch, wenn man an eigen, Reichtum partizipieren will, der nicht nur Resultat angestrengter Leistung von Bundesbürgern ist, sondern auch in der Dritten Welt erwirtschaftet wird?

Das ist eine Behauptung.

Wenn ich mir die Billigwaren in westlichen Kaufhäusern ansehe, kommen nicht alle aus der DDR. Der sehr hohe Lebensstandard der Bundesbürger wird auch auf Bananen- und Kaffeeplantagen in Kenia und in Hongkonger Hinterhöfen und im brasilianischen Urwald erschuftet, in den Billiglohnländern eben.

So funktioniert der Weltmarkt, ja.

Vereinbart sich das mit einer christlichen Politik?

Wir machen keine christliche Politik, das sagte ich Ihnen doch bereits.

Gut, formuliere ich es so: Wenn ich Christ bin, kann mich das nicht unberührt lassen, was da in der Dritten Welt passiert.

Es gibt wenige Staaten der Erde, die soviel in Entwicklungsprojekte gesteckt haben wie die Bundesrepublik. Das kann sie, weil sie diese Leistungskraft hat, und ganz sicherlich profitiert sie auch davon, was der Weltmarkt an Preisgefällen nun einmal hergibt. Es gibt auch hier keinen dritten Weg - es gibt nur den marktwirtschaftlichen oder den total gescheiterten sozialistischen, der aber nur dazu führt, dass unterm Strich keiner mehr was hat: weder die Leute hier noch die in der Dritten Welt.

Wie viel Prozent geben Sie der CDU bei der Wahl? Die letzte Umfrage sprach von 12 Prozent.

Ich sah auch Umfragen, die der "Allianz für Deutschland" (CDU, DSU und Demokratischer Aufbruch) fünf Prozent zubilligten. Ich glaube nur der Statistik, die ich selber gefälscht habe.

Wann kommt denn die Wiedervereinigung?

Noch in diesem Jahr. Die nächste Bundestagswahl ist gesamtdeutsch.

(Das Gespräch führte
Frank Schumann)

Junge Welt, Di. 06.03.1990

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