Global denken - lokal handeln!
Offener Brief des "Initiativkreises Friedensforum"
Unsere Gesellschaft befindet sich in einer tief greifenden, die weitere Existenz des Sozialismus bei uns in Frage stellenden Krise. Der einzige Ausweg, der die Bewahrung der sozialökonomischen, politischen und kulturellen Errungenschaften ermöglicht, ist eine revolutionäre Erneuerung aller Bereiche durch die Mobilisierung und aktive Einbeziehung der Bürger. Damit besteht zugleich die dringende Notwendigkeit, auch ein völlig neues Niveau in der Friedenspolitik zu erreichen. Dies ist nur durch eine grundlegende Demokratisierung der Außen- und Sicherheitspolitik möglich. Das heißt unserer Meinung nach u. a.:
Entwicklung und Ausprägung eines neuen Verständnisses der dialektischen Zusammenhänge von innerem und äußerem Frieden in ihrer ganzen Komplexität; Schaffung basisdemokratischer, die Mehrheit in den Entscheidungsprozess einbeziehender Strukturen und Aktionsformen; Einbeziehung aller politischen und sozialen Kräfte in die praktische Umsetzung der auf dieser demokratischen Grundlage gefassten Entscheidungen bis hin zur Entwicklung einer breiten Bürgerdiplomatie.
Unter der Wucht der begonnenen innenpolitischen Umwälzungen konzentriert sich die öffentliche Diskussion gegenwärtig vor allem auf ökonomische und innenpolitische Konfliktfelder. Dies ist eine unverzichtbare Voraussetzung für die Unumkehrbarmachung des gesellschaftlichen Erneuerungsprozesses.
Für eine noch zu schaffende Friedenskultur im Innern kann dies aber nur ein Element sein. Unserer Meinung nach mangelt es zurzeit jedoch zu sehr an einer gerade jetzt notwendigen Sensibilität der öffentlichen Meinung gegenüber Friedensfragen. Es ist die Situation eingetreten, dass die Dynamik des Dialog- und Entspannungsprozesses, der vor allem in der Mitte der 80er Jahre den politischen Wirkungsgrad konservativer Spannungs- und Konfrontationsbefürworter zu begrenzen begann, stagniert und teilweise rückläufig ist. Es gelang diesen Kräften, unter anderem infolge der Aufnahme von Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung sowie den Abschluss des INF-Vertrages, den innenpolitischen Druck in den kapitalistischen Ländern seitens der Friedensbewegungen zu mindern.
Zugleich wuchs in der DDR und in einigen anderen sozialistischen Staaten in dieser Zeit die Unfähigkeit des etablierten politischen Systems, die inneren Konflikte zu bewältigen. Das verhinderte auch eine Abkehr von einer elitären, von einem kleinen Machtzentrum aus erdachten und reglementierten Friedenspolitik. Die Unfähigkeit, die gesellschaftlichen Prozesse in unserem Land zu demokratisieren, trat in Widerspruch zum außenpolitischen Anspruch und diskreditierte die bislang anerkannte, weil den internationalen Erfordernissen der ersten Hälfte der 80er Jahre entsprechende Friedenspolitik der DDR.
Vor der revolutionären Volksbewegung steht deshalb jetzt die Aufgabe, in den innenpolitisch begonnenen Aufbruch die außen- und sicherheitspolitische Demokratisierung organisch einzubetten. Das muss unserer Meinung nach bewusst und sofort in Angriff genommen werden! Wir dürfen nicht warten, bis sich neue innenpolitische Strukturen und Inhalte herausgebildet haben, da uns das einen langen Zeitraum beschäftigen wird. Wir müssen stattdessen unverzüglich in diese Auseinandersetzungen unsere Alternativen einbringen. Die bisherige Handhabung der weitestgehenden Beschränkung auf politische und wissenschaftliche Eliten in der außen- und sicherheitspolitischen Praxis muss abgeschafft werden. In unserem Land existieren eine Vielzahl von informellen Friedensgruppen und Initiativen, deren Kreativität endlich anerkannt und in den gesellschaftlichen Prozess der Umgestaltung eingebracht werden muss. Es gibt daneben auch viele Erfahrungen etablierter Strukturen und Aktionsformen des Friedenskampfes, die analysiert und gewertet werden müssen.
Unser "Initiativkreis Friedensforum" schlägt deshalb allen gesellschaftlichen Kräften, die an der Formierung einer Volksbewegung für Frieden interessiert sind, vor, schnellstmöglich ein gemeinsames Diskussions- und Koordinierungsforum zu schaffen. Dieses unabhängige, alle interessierten Bürger und Gruppen umfassende "Friedensforum" soll dazu dienen, vorhandene Erfahrungen zu analysieren und zu verbreiten, neue Ideen zu diskutieren, weitere Initiativen anzuregen und zu koordinieren. Dieses Gremium müsste eine Publikation herausgeben und könnte zur Finanzierung basisorientierter Friedensarbeit einen nationalen Friedensfonds schaffen und demokratisch verwalten. Das "Friedensforum" kann in jeder Stadt und Gemeinde geschaffen werden und so dezentral die konkreten praktischen Friedensaktivitäten unter der Losung "Global denken lokal handeln" wesentlich verstärken.
Es ist unsere historische Chance und internationalistische Friedenspflicht, gemeinsam ein gesellschaftliches Modell zu schaffen, in dem sich eine Friedensbewegung formieren kann, die eine wirkliche Volksbewegung für Frieden ist, die sich nicht nur frei artikulieren und organisieren kann, sondern auch Gestalter und Akteur der Außen- und Sicherheitspolitik des Landes ist.
Vordringlich erscheinen uns gegenwärtig folgende Aktivitäts- und Diskussionsfelder:
- Untersetzung von Entscheidungsprozessen auf außen- und sicherheitspolitischem Gebiet in der Legislative mit Formen der direkten Demokratie (öffentliche Diskussionen alternativer Vorstellungen, Anhörungen, Volksabstimmungen);
- Mitarbeit an Vorschlägen über den weiteren Abbau militärischer Rüstungen und Kräfte auf ein für die Defensivverteidigung hinlängliches Minimum mit dem mittelfristigen Ziel der Entmilitarisierung und über eine ausgewogene Reduzierung der Militärbudgets der DDR und der BRD, Verwendung eines Teils der eingesparten Mittel für unsere gemeinsame Friedensarbeit;
- Mitwirkung bei der öffentlichen Kontrolle aller mit Verteidigungs- und Sicherheitsfragen beauftragten Organe;
- Etablierung einer wahrhaftigen Friedenserziehung in allen Teilen des Bildungs- und Erziehungssystems (vom Kindergarten bis zur Universität);
- Einführung eines zivilen Friedensdienstes als Alternative zum Wehrdienst.
Darüber hinaus schlagen wir konkret eine Initiative zum Abschluss "persönlicher Friedensverträge" vor, wie es sie ähnlich Mitte der 80er Jahre seitens der informellen Friedensgruppen schon einmal gab.
Einzelpersonen, ob engagierter Christ oder Kommunist; Personengruppen, ob Hausgemeinschaften, Brigaden, Schulen, Städte oder Gemeinden u. ä. sollen mit interessierten Partnern aus anderen Ländern Verträge verschiedener Form und individuellen Inhalts abschließen, in denen sich beide Seiten zusichern:
- den Vertragspartner in seiner Identität zu achten und zu tolerieren;
- mit persönlichem Einsatz gegen überlebte Feindbilder, Völkerhass, Chauvinismus und Rassismus vorzugehen;
- jegliche Form der nationalen und internationalen Friedensarbeit nach Kräften und Möglichkeiten zu unterstützten;
- alle Formen zu nutzen, um den Anderen kennen zu lernen und sich selbst offen vor- und darzustellen.
Dabei sind wir für die Förderung lokaler Initiativen friedenspolitischen Engagements in der DDR, wie z. B. die Schaffung von kommunalen Friedenskommissionen, die Nutzung der Städtepartnerschaften zur Intensivierung der Bürgerdiplomatie, Organisierung kommunaler Referenden über die Schaffung von Regionen, Städten und Gemeinden, die frei von Massenvernichtungsmitteln sind.
Wir sind für die Intensivierung internationaler Kontakte zwischen den Friedensbewegungen mit dem Ziel, Erfahrungen auszutauschen, verstärkt gemeinsame Initiativen zur Vertrauensbildung zwischen den Völkern zu entwickeln und die Einhaltung geschlossener Verträge zwischen den Regierungen zu kontrollieren und weitere friedenssichernde Aktionen zu stimulieren.
Kontaktadressen des "Initiativkreises Friedensforum" (IKF):
Holger W(...), (...)-Str. 51, Berlin/DDR, 1040 und
Jürgen A(...), (...)-Str. 36, Berlin/DDR, 1055.
aus: Neue Zeit, 45. Jahrgang, Ausgabe 293, 13.12.1989, Tageszeitung der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands