In der Traditionslinie wirklich demokratischer Verfassungen

BZ-Gespräch über den Entwurf des Runden Tisches für ein Grundgesetz

Die Parlamentsdebatte über eine neue Verfassung scheint nun doch in den Bereich es Möglichen zu gelangen. Notwendig wäre dies durchaus, denn gerade für die mehr oder weniger lange Übergangszeit zu einer einheitlichen deutschen Republik braucht unser Land einen handhabbaren Rahmen. Den bietet die alte Verfassung mit Sicherheit nicht, denn mit ihr ist weder Staat zu machen noch zu regieren. Dieses Flickwerk, das durch und durch auf das alte System und die Herrschaft einer einzigen Partei zugeschnitten war, könnte nun einen bemerkenswert modernen und demokratischen Ersatz bekommen - die von einer Arbeitsgruppe des Zentralen Runden Tisches erarbeitete Verfassung. Über Inhalt und Vorzüge der Vorlage sprach BZ mit Prof. Rosemarie Will (Jahrgang 49, Professorin an der Humboldt-Universität), die an der Erarbeitung des Entwurfes mitgewirkt hat.

BZ: Welcher Grundgedanke bestimmt den Verfassungsentwurf?

Prof. R. Will: Wir wollten eine moderne, rechtsstaatliche Verfassung schaffen. Rechtsstaatlich heißt, prinzipiell von den individuellen Rechten auszugehen und im staatsorganisatorischen Teil Gewaltenteilung zu verankern. Das ist seit der Französischen Revolution die Grundkonstruktion einer modernen, wenn Sie so wollen bürgerlichen Verfassung, die geprägt ist von den Gedanken der Freiheit, der Gleichheit und des Eigentums. Sie wurden im Laufe der Zeit ergänzt durch die Verfassungsentwicklungen, durch Vorstellungen über Wirtschafts- und Sozialordnung, über die Verhältnisse der menschlichen Umwelt, über das Wirken von gesellschaftlichen Gruppen und Verbänden.

Weiter muss man sich fragen, wie man mit den Traditionslinien des deutschen Verfassungsrechts umgeht. Meines Erachtens gibt es zwei wirklich demokratische Verfassungen in der deutschen Geschichte. Neben der Paulskirchenverfassung aus dem Jahre 1849 ist die andere herausragende Verfassung, auch im europäischen Verständnis. die Weimarer Reichsverfassung von 1919. Unser Entwurf nimmt deren Grundideen, die auch noch in der DDR-Verfassung von 1949 enthalten waren, als ursprünglichen Faden wieder auf.

BZ: Ideologisch Einschränkungen bestimmter Grundrente, wie sie das jetzt gültige Verfassungsfragment festschreibt, gibt es in dem Entwurf nicht mehr. Was hat sich verändert?

Prof. R. Will: Nehmen wir als Beispiel den Artikel 27 unseres Entwurfs. Dort heißt es: "Jeder Bürger hat das Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung. Das Recht des Bürgers, über seine Arbeitskraft frei zu verfügen und seinen Arbeitsplatz frei zu wählen, ist gewährleistet." Die freie Verfügung ist in der jetzt geltenden Verfassung stark eingeschränkt, zugunsten der gesellschaftlichen Möglichkeiten. Hier gibt es also einen deutlichen Fortschritt.

Weiter besagt der Artikel, Arbeits- und Dienstpflichten sind nur für besondere, durch Gesetz festgelegte Zwecke zulässig. Und - dieser Artikel schließt mit dem Satz: Die Wehrpflicht ist abgeschafft.

BZ: Mit dem Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung ist also kein Absolutum formuliert, sondern nur das, was realisierbar erscheint?

Prof. R. Will: Die Wirtschaftspolitik des Staates wird durch die Verfassung auf das Ziel der Vollbeschäftigung festgelegt. Jeder Bürger hat im Falle von Arbeitslosigkeit ein Recht auf öffentlich finanzierte berufliche Weiterbildung. Umschulung oder andere Maßnahmen der Arbeitsförderung. Das, was hier versprochen wird, kann eingelöst werden. Es ist Standard der BRD - dort allerdings nicht im Verfassungsrang. Wir dagegen haben diese Rechte in diesen Rang erhoben und zwar so, dass es auch unter den Bedingungen einer Marktwirtschaft funktionieren kann.

BZ: Erste Erfahrungen mit der Demokratie hat die DDR in jüngster Zeit gesammelt. Was ist davon in den Entwurf eingegangen?

Prof. R. Will: Aus den Erfahrungen unserer Revolution heraus haben wir die Bürgerbewegungen in den Grundrechtekatalog gesellschaftlicher Gruppen und Verbände aufgenommen. Dieser Abschnitt fängt mit den Bürgerbewegungen an und räumt diesem Phänomen eine verfassungsrechtliche Stellung ein. Zugleich sieht der Entwurf die Parallelität von parlamentarischer und Volksgesetzgebung vor. Damit wird die Bürgerbewegung dann sehr praktisch, sie kann unmittelbar per Volksbegehren und Volksentscheid in die Gesetzgebung, in die Politik eingreifen.

Derartige plebiszitäre Elemente verweigert das Grundgesetz der Bundesrepublik. Es kennt nur eine Ausnahme im Zusammenhang mit der Gliederung des Bundesgebietes.

BZ: Das Grundgesetz hat noch weitere Lücken, neben einem unbestritten beachtlichen Katalog von Vorzügen. Welche versuchte die Arbeitsgruppe des Runden Tisches zu schließen?

Prof. R. Will: Gemeinsam mit Experten aus der Bundesrepublik, die 40 Jahre Grundgesetzpraxis genau im Kopf haben, untersuchten wir den Reformbedarf des Grundgesetzes. Nehmen wir das Recht auf Arbeit - unsere Formulierungen spiegeln die Erfahrungen der letzten 40 Jahre in der BRD, auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes auf diesem Gebiet wider. Die Rechte der Gewerkschaften sind ebenfalls minutiös den Auseinandersetzungen in der BRD nachgeformt. Wir haben alle dort laufenden Diskussionen berücksichtigt und entsprechende Schlussfolgerungen in unsere Gesetzgebung eingearbeitet.

Kritisch aufgearbeitet wurde ebenfalls das Verschwinden der Kommunalautonomie und die Stärkung des Bundes gegenüber den Ländern. Unser Verfassungsentwurf sichert weitaus mehr als das Grundgesetz die Rechtsstellung des Ausländers, auch im Bereich des Umweltschutzes sind Rechte und Pflichten genauer fixiert.

Zudem haben wir aus der Begrenzung der Freiheitsrechte durch die Staatssicherheit in unserem Land Schlussfolgerungen gezogen, die weit über das Grundgesetz hinausgehen.

BZ: Nun müssen wir sicher erst lernen, mit einer demokratischen Verfassung umzugehen, ihr bestimmte Werte wie Menschenwürde, Toleranz, Gerechtigkeit zu entnehmen . . .

Prof. R. Will: Die Verfassung spielte im praktischen Leben der Menschen kaum eine Rolle, es gab einen tiefgehenden Rechtsnihilismus. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die Grundrechte des einzelnen gegenüber der Staatsgewalt nicht durchsetzbar waren.

Man darf nicht vergessen: die Deutschen haben keine lange Verfassungstradition. Große demokratische Verfassungen konnten nie über längere Zeit wirken. Denn sie wurden entweder nicht angenommen, wie 1849, oder die Konflikte wurden unterhalb des Verfassungsrahmens ausgetragen - mit den bekannten Ergebnissen nach der Weimarer Republik. Von daher hat es selbst das Grundgesetz schwer, obwohl ich schon glaube, dass es populär ist.

Das Gespräch führte
Bettina Urbanski

Berliner Zeitung, Di. 17.04.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 89

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