"Dass ihr mir keinen abweist"

Brief zur Aufnahme Erich Honeckers in Lobetal

Der Leiter der Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal, Pastor Uwe Holmer, hat sich in einem Brief an den Freundeskreis der Anstalten gewandt, in dem er auf die Aufnahme des Ehepaares Honecker in seinem Pfarrhaus eingeht. In den Beweggründen, die er dafür nennt, verweist er auf Grundprinzipien christlicher Nächstenliebe und kirchlichen Dienstes, die über den Einzelfall hinausreichen, und von denen wir meinen, dass sie einen breiteren Leserkreis unserer Zeitung interessieren.

Sicher haben Sie auch erfahren, dass seit einiger Zeit Erich Honecker und seine Frau bei uns wohnen. Es ist uns darüber manches Verwundern, Befremden und Arger zum Ausdruck gebracht worden, bis hin zu Äußerungen des Hasses, aber auch verstehen und Ermutigung. Wir mochten deshalb unsere Entscheidung Ihnen als unseren Freunden gern etwas verständlich machen.

1. Wir sind um die Aufnahme gebeten worden durch unsere Kirchenleitung. Sie teilte uns mit, dass es den staatlichen Behörden nicht möglich war, das Ehepaar in ihrem Bereich unterzubringen.

2. Mit der Aufnahme bei uns greifen wir in keiner Weise in das juristische Verfahren gegen Herrn Honecker ein und treffen auch kein Urteil über ihn. Das steht dem Gericht zu.

3. Erich Honecker hat am 31. 1. 90, dem Tag, an dem er Wandlitz verlassen musste, kein Zuhause mehr, ist also obdachlos. Außerdem ist er nach zwei schweren Operationen krank und 77 Jahre alt. Damit ist er ein hilfsbedürftiger Mensch.

4. In Lobetal steht eine Nachbildung Jesu Christi, wie er die Menschen einlädt und ihnen zuruft: "Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken." Pastor v. Bodelschwingh hat diese Plastik aufstellen lassen und seinen Mitarbeitern zugerufen: "Dass ihr mir keinen abweist." Wir sind von unserem Herrn aufgefordert. Ihm nachzufolgen und uns all derer anzunehmen, die mühselig und beladen sind - seelisch und körperlich - besonders aber derer, die obdachlos sind. Wir sehen uns zu dieser Entscheidung aber auch verpflichtet durch Jesu Vorbild im Blick auf seine Einkehr bei dem Zöllner Zachäus, durch Sein Gebot der Feindesliebe und dadurch, dass Er uns angeleitet hat zu beten: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern." Das beten wir jeden Sonntag. Wir sind überzeugt, diese Anweisung Jesu für seine Jünger ist auch für uns verbindlich. Wir wollen ja nicht nur christliche Reden fuhren, sondern auch nach Jesu Vorbild handeln.

5. Es geht durch die Aufnahme bei uns niemandem ein Pflegeplatz verloren oder eine Wohnung, die wir für einen Pfleger verwenden könnten. Honeckers sind bei uns privat untergebracht worden. Doch wird diese Entscheidung von den leitenden Mitarbeitern Lobetals und von der Mehrheit unserer Bewohner mitgetragen.

6. Unsere Familie hat diesen Schritt nicht getan aus Sympathie mit dem alten Regierungssystem. Von unseren 10 Kindern hatten wir für 8 einen Antrag auf den Besuch der Erweiterten Oberschule gestellt. Keines von ihnen wurde angenommen trotz guter und bester Zensuren. Wir haben jedoch darüber keine Bitterkeit im Herzen, da wir in der Nachfolge unseres Herrn wirklich vergeben haben. Auch haben wir erlebt, dass Gott unsere Kinder auch ohne Abitur freundlich geführt hat.

7. Bewegend, zum Teil erschreckend ist es für uns, wie hasserfüllt manche Menschen reagieren. Wir halten das für keine gute Ausgangsbasis für einen Neuanfang in unserem Volk Wir möchten Mut machen zu neuem Denken, ja zu bewusster Liebe.

8. Meine Frau und ich halten es für eine verkehrte Sicht der Dinge, wenn jetzt alle Schwachen, alle Fehler und alle Verbrechen der vergangenen Epoche auf einen Menschen geworfen werden. Meine Frau kam oftmals von Elternversammlungen der Schule ganz verzagt zurück und sagte: "Ich war wieder mal die einzige, die Kritisches gesagt hat. Einige Linientreue fielen über mich her. Die Mehrheit hat geschwiegen. Wenn wir nicht lernen die Schuld jeder bei sich zu suchen, werden wir die Vergangenheit nicht bewältigen. Nicht nur Wende, sondern Umkehr ist angesagt. Für Christen heißt das Buße über unser Versagen, ob nun im Blick auf Jugendweihe, Waffentragen, Wahl, o. a. Auch ich spreche mich nicht frei von jeglicher Kompromissbereitschaft. Und Neuorientierung ist angesagt, für uns Christen Orientierung nach dem Willen Gottes. Nicht Christen können vielleicht doch auch den Weg der Liebe und Versöhnung mitgehen, um das Gift des Hasses aus unserem Volke auszustoßen.

9. Wir sind überzeugt: Es ist für uns wichtig, dass wir in echter demokratischer Grundhaltung die Überzeugung des anderen respektieren, auch wenn sie unserer eigenen entgegensteht. Wir erbitten von unseren Mitbürgern diese demokratische Respektierung unserer aus Überzeugung unternommenen Entscheidung, ja wir erbitten Versöhnung, Menschlichkeit und Güte.

Liebe Freunde, ich merke, meine "Erklärung" ist nun fast ein "Aufruf" geworden. Halten Sie es bitte meiner Engagiertheit zugute und meiner Überzeugung, dass es nicht nur und nicht vor allem um Herrn Erich Honecker geht, sondern um uns alle, um Sie und mich und unser Volk.

Wir danken Ihnen für alles Miteinander und bitten Sie: Lassen Sie uns verbunden bleiben.

Neue Zeit, Di. 06.02.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 31

Δ nach oben