Seit Dienstag, dem 4.9. 1990, halten wir die Büroräume des Zentralarchivs des ehemaligen MfS/AfNS in der Magdalenstraße in Berlin besetzt. Seit Jahren sind wir in der Menschenrechts-, Umwelt- und Friedensbewegung tätig gewesen. Aus diesem Grund waren wir ständig durch Mitarbeiter des MfS überwacht worden. Obwohl niemand von uns seine Akte bisher gesehen hat, sind wir überzeugt, dass über jeden von uns eine Akte angefertigt wurde. Es gibt sechs Millionen Aktenopfer in ganz Deutschland. Von vier Millionen DDR-Bürgern und zwei Millionen Bundesbürgern gibt es Akten. Das bedeutet, dass von sechs Millionen Menschen bis in ganz persönliche Bereiche hinein Daten und Fakten gesammelt wurden. Diese sechs Millionen Akten sind heute die größte Altlast der vergangenen 40 Jahre.

Der Inhalt der Akten ist unter anderem dazu geeignet, Menschen aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu erpressen, falls dieses Material in die falschen Hände gerät. Dazu gehören unserer Meinung nach sämtliche Geheimdienste der Welt. Dieser Berg angehäufter Informationen bedeutet ein ungeheures Machtpotential. Die Vernichtung der Akten ist keine Lösung, da damit wichtige Quellen und Informationen verloren gehen, die für die Aufarbeitung unserer Geschichte und für künftige Rechtsverfahren unerlässlich sind.

Am 24.8.1990 hat die Volkskammer das Gesetz über den Umgang mit den Stasi-Akten beschlossen. Trotz aller Unvollkommenheit waren wir grundsätzlich mit diesem Gesetz einverstanden. Gegen den erklärten Willen der Volkskammer wurde dieses Gesetz nicht Bestandteil des Einigungsvertrages.

Die Frage der Behandlung der Stasi-Akten darf aber nicht zu einem Anhängsel des Einigungsvertrages verkommen, das irgendwo in einem 1 000-Seiten-Papier vergraben wird. Die jetzt vorliegende Fassung des Einigungsvertrages verhindert die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit. In wenigen Tagen sind die DDR und die BRD vereinigt. Menschen mit 40 Jahren unterschiedlicher Erfahrung werden in einem neuen Deutschland zusammenleben.

Nur wenn sich die Bevölkerung ihrer Vergangenheit bewusst werden kann, besteht für alle die Chance, ein wirklich demokratisches Deutschland aufzubauen. Deswegen darf diese Vergangenheit nicht in Archive eingesperrt werden.

Nach wie vor ungeklärt sind folgende Fragen:

- Wie und auf welche Art ist das Zugriffsrecht anderer Geheimdienste auf diese Daten geregelt?

- Mit welchen Mitteln und Institutionen soll die historische Aufarbeitung gewährleistet werden?

- Wer garantiert, dass jeder Bürger Zugang zu seinem Personendossier hat, wenn er es wünscht?

- Wer kontrolliert die Verwahrung der Akten; zu welchem Zweck geschieht dies?

Wir befürchten, dass die politisch Verantwortlichen diese Fragen aus ihrem Bewusstsein verdrängt haben. Unsere Befürchtungen wurden in den am 4.9. geführten Gesprächen mit den Volkskammerfraktionsvorsitzenden verstärkt.

Wir erwarten von den Parteien, dass sie Druck auf die Verhandlungsführer des Einigungsvertrages ausüben und damit die Interessen der Aktenopfer vertreten, anstatt vorschnelle Entscheidungen zu treffen.

1. Die Entscheidung über den Umgang, das heißt Aushändigung oder Vernichtung, mit den Personendossiers und personenbezogenen Vorgangsakten muss von den Betroffenen gefällt werden. Das Argument, die Aushändigung der Akten würde zu einem Bürgerkrieg führen, widerspricht den bisherigen Erfahrungen. Niemand von den einstigen Stasi-Mitarbeitern ist ernsthaft zu Schaden gekommen.

2. Quellenakten dürfen ausschließlich nur zur juristischen Aufarbeitung den Strafverfolgungsbehörden zur Einsicht gegeben werden. Ansonsten ist für ihre sichere Verwahrung höchste Sorge zu tragen.

3. Die operativen Vorgangsakten müssen zur historischen Aufarbeitung unter Berücksichtigung des Datenschutzes zugänglich sein.

4. Sogenannte Findhilfsmittel (Karteien und ähnliches) müssen sicher und geschützt aufbewahrt werden.

Aus der oben dargestellten Problematik ergeben sich für uns folgende Forderungen:

- Das Gesetz über den Umgang mit den Stasi-Daten vom 24.8.1990 muss in vollem Umfang Bestandteil des Einigungsvertrages werden.

- Der differenzierte Umgang mit den Stasi-Akten muss darüber hinausgehend in diesem Gesetz verankert werden. Die Verantwortlichen für die Aufbewahrung und den Umgang mit den Akten müssen vom Parlament gewählt werden und der parlamentarischen Kontrolle unterliegen. Die Bürgerkomitees sind in diese Arbeit mit einzubeziehen.

- Fristlose Entlassung aller ehemaligen Stasi-Mitarbeiter aus dem MdI und dem Öffentlichen Dienst.

- Ehemalige Stasi-Mitarbeiter dürfen keinerlei Zugang zu den Stasi Akten haben.

- Offenlegung der Strukturen, die seit dem 18. März 1990 die konsequente Auflösung des MfS/AfNS verhindert haben. Das bedeutet zu aller erst die sofortige Entlassung des dafür politisch verantwortlichen Innenministers Diestel.

- Offenlegung der Befehlsstrukturen zwischen SED und Stasi.

- Rechststaatlicher Umgang mit Unrechtstaten und Tätern.

- Öffentliche Gerichtsverfahren gegen das ehemalige MfS und alle politisch Verantwortlichen wegen Verstoßes gegen die Menschenrechte, Internierungsplanung, Bespitzelung, Verletzung des Post-und Fernmeldegeheimnisses, Nötigung und Einschüchterung.

- Zerschlagung der Stasi-Wirtschaftsmafia, die sich das Eigentum von 16 Millionen DDR-Bürgern aneignet.

- Rehabilitierung aller Stasi Opfer und Wiedergutmachung.

Die vollständige Auflösung des MfS war eine der entscheidenden Forderungen des vergangenen Herbstes. Sie ist noch nicht erfüllt!

Die letzte Möglichkeit zur politischen Lösung dieses Problems ist jetzt!

Unsere Forderungen sollen Grundlage für weitere Gespräche mit den Fraktionsvorsitzenden in in Ost und West sein. Mit der unbefristeten Besetzung der Büroräume des Stasi-Zentralarchivs wollen wir nachdrücklich alle politisch Verantwortlichen in ganz Deutschland und vor allem alle Betroffenen zum Nachdenken und Handeln auffordern.

die andere, Der Anzeiger für Politik, Kultur und Kunst, Nr. 34, Mi. 12.09.1990

Δ nach oben